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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Interessen und Ideale

lÄ^/j^Ä ^ ^>as Jahr 1906 ist ein Jahr voll der ernstesten Erinnerungen.
Daß vor hundert Jahren, 1806, drei deutsche Mittelstnaten die
Königskrone von Ncipoleous Gnaden erhielten, kann für uns
kein Gegenstand der Freude oder gar des Stolzes sein, denn sie
I erhielten sie weder aus eigner Kraft, noch gereichte sie den
deutschen Interessen zur Förderung, vielmehr war diese Rangerhöhung geradezu
darauf berechnet, Deutschland nur noch mehr zu spalten und die also ausge¬
zeichneten Fürsten um so fester an Frankreich zu fesseln; ja sie hat den
Souvernnitütsstolz ohne die entsprechende Grundlage tatsächlicher Macht lange
Zeit in ungesunder und dem gemeinen Wohle schädlicher Weise gesteigert.
Wir lehnen deshalb jede Feier dieser Ereignisse von deutschem Standpunkt
aus grundsätzlich und bedingungslos ab. Wir denken vielmehr daran, das;
das Jahr 1806 das Jahr der tiefsten Erniedrigung Deutschlands war, das;
sich damals das tausendjährige Heilige römische Reich deutscher Nation auf¬
löste, ohne durch eine andre Gesamtverfassung ersetzt zu werden, daß der
Rheinbund die größere, reichere und höher kultivierte Hälfte Deutschlands
unter das Protektorat, d. h. in die willenlose Abhängigkeit von Frankreich
brachte, und daß der preußische Staat zusammenbrach. Wir glauben freilich
leicht, weit über solche Möglichkeiten hinaus zu sein, und meinen wohl, eine
solche Katastrophe wie die von Jena könne nicht wieder kommen. Seien
wir nicht allzu zuversichtlich! Was bei Jena unterlag, das war nicht nur die
mangelhafte Organisation des Heeres und des Staates, und am allerwenigsten
hat es bei Jena und Auerstüdt an Tapferkeit gefehlt. Wer einmal Vierzehn¬
heiligen, den entscheidenden Punkt auf dem Jenaer Schlachtfelde, in der Um¬
hüllung seiner Obstgarten, inmitten seiner Ackerfluren auf der völlig offnen,
kahlen, fast baumlosen Hochebne gesehen hat, der weiß, welcher Heldenmut
dazu gehört hat, gegen das vernichtende Feuer eines unsichtbaren und uner¬
reichbaren Gegners diese Stellung anzugreifen. Woran es bei Jena fehlte,
das war die kaltblütige Entschlossenheit und der feste Wille zum Siege, das
waren moralische Defekte der Führung, das war der Geist dieser Führung,
und daran trug das ganze Volk die Mitschuld in seiner einseitigen Schwärmerei


Grenzboten II 1W6 15


Interessen und Ideale

lÄ^/j^Ä ^ ^>as Jahr 1906 ist ein Jahr voll der ernstesten Erinnerungen.
Daß vor hundert Jahren, 1806, drei deutsche Mittelstnaten die
Königskrone von Ncipoleous Gnaden erhielten, kann für uns
kein Gegenstand der Freude oder gar des Stolzes sein, denn sie
I erhielten sie weder aus eigner Kraft, noch gereichte sie den
deutschen Interessen zur Förderung, vielmehr war diese Rangerhöhung geradezu
darauf berechnet, Deutschland nur noch mehr zu spalten und die also ausge¬
zeichneten Fürsten um so fester an Frankreich zu fesseln; ja sie hat den
Souvernnitütsstolz ohne die entsprechende Grundlage tatsächlicher Macht lange
Zeit in ungesunder und dem gemeinen Wohle schädlicher Weise gesteigert.
Wir lehnen deshalb jede Feier dieser Ereignisse von deutschem Standpunkt
aus grundsätzlich und bedingungslos ab. Wir denken vielmehr daran, das;
das Jahr 1806 das Jahr der tiefsten Erniedrigung Deutschlands war, das;
sich damals das tausendjährige Heilige römische Reich deutscher Nation auf¬
löste, ohne durch eine andre Gesamtverfassung ersetzt zu werden, daß der
Rheinbund die größere, reichere und höher kultivierte Hälfte Deutschlands
unter das Protektorat, d. h. in die willenlose Abhängigkeit von Frankreich
brachte, und daß der preußische Staat zusammenbrach. Wir glauben freilich
leicht, weit über solche Möglichkeiten hinaus zu sein, und meinen wohl, eine
solche Katastrophe wie die von Jena könne nicht wieder kommen. Seien
wir nicht allzu zuversichtlich! Was bei Jena unterlag, das war nicht nur die
mangelhafte Organisation des Heeres und des Staates, und am allerwenigsten
hat es bei Jena und Auerstüdt an Tapferkeit gefehlt. Wer einmal Vierzehn¬
heiligen, den entscheidenden Punkt auf dem Jenaer Schlachtfelde, in der Um¬
hüllung seiner Obstgarten, inmitten seiner Ackerfluren auf der völlig offnen,
kahlen, fast baumlosen Hochebne gesehen hat, der weiß, welcher Heldenmut
dazu gehört hat, gegen das vernichtende Feuer eines unsichtbaren und uner¬
reichbaren Gegners diese Stellung anzugreifen. Woran es bei Jena fehlte,
das war die kaltblütige Entschlossenheit und der feste Wille zum Siege, das
waren moralische Defekte der Führung, das war der Geist dieser Führung,
und daran trug das ganze Volk die Mitschuld in seiner einseitigen Schwärmerei


Grenzboten II 1W6 15
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[0123] [Abbildung] Interessen und Ideale lÄ^/j^Ä ^ ^>as Jahr 1906 ist ein Jahr voll der ernstesten Erinnerungen. Daß vor hundert Jahren, 1806, drei deutsche Mittelstnaten die Königskrone von Ncipoleous Gnaden erhielten, kann für uns kein Gegenstand der Freude oder gar des Stolzes sein, denn sie I erhielten sie weder aus eigner Kraft, noch gereichte sie den deutschen Interessen zur Förderung, vielmehr war diese Rangerhöhung geradezu darauf berechnet, Deutschland nur noch mehr zu spalten und die also ausge¬ zeichneten Fürsten um so fester an Frankreich zu fesseln; ja sie hat den Souvernnitütsstolz ohne die entsprechende Grundlage tatsächlicher Macht lange Zeit in ungesunder und dem gemeinen Wohle schädlicher Weise gesteigert. Wir lehnen deshalb jede Feier dieser Ereignisse von deutschem Standpunkt aus grundsätzlich und bedingungslos ab. Wir denken vielmehr daran, das; das Jahr 1806 das Jahr der tiefsten Erniedrigung Deutschlands war, das; sich damals das tausendjährige Heilige römische Reich deutscher Nation auf¬ löste, ohne durch eine andre Gesamtverfassung ersetzt zu werden, daß der Rheinbund die größere, reichere und höher kultivierte Hälfte Deutschlands unter das Protektorat, d. h. in die willenlose Abhängigkeit von Frankreich brachte, und daß der preußische Staat zusammenbrach. Wir glauben freilich leicht, weit über solche Möglichkeiten hinaus zu sein, und meinen wohl, eine solche Katastrophe wie die von Jena könne nicht wieder kommen. Seien wir nicht allzu zuversichtlich! Was bei Jena unterlag, das war nicht nur die mangelhafte Organisation des Heeres und des Staates, und am allerwenigsten hat es bei Jena und Auerstüdt an Tapferkeit gefehlt. Wer einmal Vierzehn¬ heiligen, den entscheidenden Punkt auf dem Jenaer Schlachtfelde, in der Um¬ hüllung seiner Obstgarten, inmitten seiner Ackerfluren auf der völlig offnen, kahlen, fast baumlosen Hochebne gesehen hat, der weiß, welcher Heldenmut dazu gehört hat, gegen das vernichtende Feuer eines unsichtbaren und uner¬ reichbaren Gegners diese Stellung anzugreifen. Woran es bei Jena fehlte, das war die kaltblütige Entschlossenheit und der feste Wille zum Siege, das waren moralische Defekte der Führung, das war der Geist dieser Führung, und daran trug das ganze Volk die Mitschuld in seiner einseitigen Schwärmerei Grenzboten II 1W6 15

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/123>, abgerufen am 26.12.2024.