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Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

britanniens noch niemals so gut ausgerüstet, noch nie so gut mit Offizieren und
Mannschaften versehen, noch niemals so gut auf den Krieg vorbereitet gewesen sei
wie gegenwärtig. Darüber läßt sich im Grunde nichts sagen, denn es ist die Auf¬
gabe der Flotte, zumal der des von seiner Flotte abhängigen Englands, jederzeit in
einem solchen Zustande zu sein. Lord Tweedmouth, der Redner, knüpfte daran
noch die Versicherung, daß dies alles nicht in aggressiven: Geiste geschehn sei.
Der Premierminister Campbell-Bcmnerman folgte mit einer zweiten Rede, in der
er. an den glücklichen Ausgang der Konferenz von Algeciras anknüpfend, ausführte,
England wünsche der Freund' aller andern Mächte zu sein und hege gegen keine
böse Absichten. Alsdann aber ging er auf das Lieblingsthema der liberalen Partei
über, die Verminderung der Militärlasten, "die so sehr auf die Nationen Europas
drücken." England solle, ohne Langsamkeit zu zeigen, hierin das Beispiel geben,
es müsse sich an die Spitze stellen. Die Rede schloß: "Ich hoffe, daß wir, wenn
sich diese Pflicht England aufdrängt, vor ihr nicht zurückweichen werden." Unwill¬
kürlich drängt sich der innere Widerspruch auf, der zwischen diesen beiden Reden
liegt. Wenn der Erste Lord der Admiralität versichert, die englische Flotte sei
noch niemals in einem so ausgezeichneten Zustande gewesen wie jetzt, so wird Eng¬
land die großen Opfer, die zur Erreichung dieses Zieles nötig waren, jedenfalls
nicht gebracht haben wollen, um die so gewonnene Kriegsbereitschaft der Flotte dem
zweifelhaften Spiel einer Abrüstung auszusetzen, was ihm niemand verdenken kann.
Sobald aber die englische Flotte von der Abrüstung ausgeschlossen bleibt, hat die
ganze philanthropische Idee keinen Wert mehr, denn die englische Flotte bewahrt
dann ihre große Überlegenheit über alle andern. Man wird demnach Anregungen
auf "Verminderung der Militärlasten," auch wenn sie in amtlicher Weise erfolgen
sollten, erst dann ernst zu nehmen brauchen, wenn England wirklich mit einem
großen Beispiel vorangeht, was es weder unter einem konservativen noch unter
einem liberalen Kabinett tun kaun und tun wird. Für ein Weltreich wird es immer
Punkte am Horizonte geben, wo sich mehr oder minder ernste Gewitter zusammen-
ziehn können. Was Deutschland betrifft, so sind unsre Gesetze, die die Ausübung
der allgemeinen Wehrpflicht regeln, sowie unser Flottengesetz von 1900 eine un¬
antastbare Grundlage unsers Wehrsystems. Wir können gezwungen sein, diese
Grundlagen zu erweitern, aber Deutschland wird auf Menschenalter hinaus nie
daran denken können, die Fundamente zu verlassen oder zu verringern, die ihm
seine Unabhängigkeit und Integrität, die Erhaltung seines Friedens und seiner
W ohlfahrt verbürgen



Ludwig Friedländer: Erinnerungen, Reden und Studien.

(Stra߬
bourg, Trübner; 2 Bände.) Mit dieser Veröffentlichung von Nebenarbeiten hat der
Verfasser der "Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms" der deutsche" Bildung
einen großen Dienst erwiesen und zugleich seinen Kollegen von der Philologie ein
Muster geistiger Vielseitigkeit geboten, dem innerhalb dieses Kreises wenig an die
Seite gesetzt werden kaun. Die vierzehn mitgeteilten Aufsätze haben folgende Themen:
1. Aus alten Papieren, 2. Aus Königsberger Gelehrtenkreisen, 3. Drei ostpreußische
Lehrer, 4. Rachel, 5. Aus Rom, 6. Erinnerungen an Turgenjew, 7. Drei akademische
Reden, 8. Über die antike Kunst im Gegensatz zur modernen, 9. Das Nachleben
der Antike im Mittelalter, 10. Kant in seinem Verhältnis zur Kunst und schönen
Natur, 11. Kant in seinem Verhältnis zur Politik, 12. Reisen in Italien in den
letzten vier Jahrhunderten, 13. Aus Italien, 14. Französische Urteile über Deutsch¬
land. Dabei bergen aber die Überschriften von Ur. 5, 9 und 13 ganze Serien von
sechs, sieben und neun Spezialabhandlungen. Wer Friedländer nur nach diesen
beiden Bänden beurteilen wollte, würde zu der Ansicht neigen müssen, daß er mehr
Gegenwartsmensch als Historiker ist, denn die Mitteilungen über Altertum und
Mittelalter sind zwar außerordentlich anregend und ideenreich, aber sie erschöpfen
ihren Gegenstand nicht. Wollen und sollen das auch nicht. Hätte sie der Autor
nicht für Skizzen gehalten, würde er sie in Fachzeitschriften oder als selbständige
Publikationen vorgelegt haben. Was ins Bereich des Selbstbevbachteten, des


Maßgebliches und Unmaßgebliches

britanniens noch niemals so gut ausgerüstet, noch nie so gut mit Offizieren und
Mannschaften versehen, noch niemals so gut auf den Krieg vorbereitet gewesen sei
wie gegenwärtig. Darüber läßt sich im Grunde nichts sagen, denn es ist die Auf¬
gabe der Flotte, zumal der des von seiner Flotte abhängigen Englands, jederzeit in
einem solchen Zustande zu sein. Lord Tweedmouth, der Redner, knüpfte daran
noch die Versicherung, daß dies alles nicht in aggressiven: Geiste geschehn sei.
Der Premierminister Campbell-Bcmnerman folgte mit einer zweiten Rede, in der
er. an den glücklichen Ausgang der Konferenz von Algeciras anknüpfend, ausführte,
England wünsche der Freund' aller andern Mächte zu sein und hege gegen keine
böse Absichten. Alsdann aber ging er auf das Lieblingsthema der liberalen Partei
über, die Verminderung der Militärlasten, „die so sehr auf die Nationen Europas
drücken." England solle, ohne Langsamkeit zu zeigen, hierin das Beispiel geben,
es müsse sich an die Spitze stellen. Die Rede schloß: „Ich hoffe, daß wir, wenn
sich diese Pflicht England aufdrängt, vor ihr nicht zurückweichen werden." Unwill¬
kürlich drängt sich der innere Widerspruch auf, der zwischen diesen beiden Reden
liegt. Wenn der Erste Lord der Admiralität versichert, die englische Flotte sei
noch niemals in einem so ausgezeichneten Zustande gewesen wie jetzt, so wird Eng¬
land die großen Opfer, die zur Erreichung dieses Zieles nötig waren, jedenfalls
nicht gebracht haben wollen, um die so gewonnene Kriegsbereitschaft der Flotte dem
zweifelhaften Spiel einer Abrüstung auszusetzen, was ihm niemand verdenken kann.
Sobald aber die englische Flotte von der Abrüstung ausgeschlossen bleibt, hat die
ganze philanthropische Idee keinen Wert mehr, denn die englische Flotte bewahrt
dann ihre große Überlegenheit über alle andern. Man wird demnach Anregungen
auf „Verminderung der Militärlasten," auch wenn sie in amtlicher Weise erfolgen
sollten, erst dann ernst zu nehmen brauchen, wenn England wirklich mit einem
großen Beispiel vorangeht, was es weder unter einem konservativen noch unter
einem liberalen Kabinett tun kaun und tun wird. Für ein Weltreich wird es immer
Punkte am Horizonte geben, wo sich mehr oder minder ernste Gewitter zusammen-
ziehn können. Was Deutschland betrifft, so sind unsre Gesetze, die die Ausübung
der allgemeinen Wehrpflicht regeln, sowie unser Flottengesetz von 1900 eine un¬
antastbare Grundlage unsers Wehrsystems. Wir können gezwungen sein, diese
Grundlagen zu erweitern, aber Deutschland wird auf Menschenalter hinaus nie
daran denken können, die Fundamente zu verlassen oder zu verringern, die ihm
seine Unabhängigkeit und Integrität, die Erhaltung seines Friedens und seiner
W ohlfahrt verbürgen



Ludwig Friedländer: Erinnerungen, Reden und Studien.

(Stra߬
bourg, Trübner; 2 Bände.) Mit dieser Veröffentlichung von Nebenarbeiten hat der
Verfasser der „Darstellungen aus der Sittengeschichte Roms" der deutsche» Bildung
einen großen Dienst erwiesen und zugleich seinen Kollegen von der Philologie ein
Muster geistiger Vielseitigkeit geboten, dem innerhalb dieses Kreises wenig an die
Seite gesetzt werden kaun. Die vierzehn mitgeteilten Aufsätze haben folgende Themen:
1. Aus alten Papieren, 2. Aus Königsberger Gelehrtenkreisen, 3. Drei ostpreußische
Lehrer, 4. Rachel, 5. Aus Rom, 6. Erinnerungen an Turgenjew, 7. Drei akademische
Reden, 8. Über die antike Kunst im Gegensatz zur modernen, 9. Das Nachleben
der Antike im Mittelalter, 10. Kant in seinem Verhältnis zur Kunst und schönen
Natur, 11. Kant in seinem Verhältnis zur Politik, 12. Reisen in Italien in den
letzten vier Jahrhunderten, 13. Aus Italien, 14. Französische Urteile über Deutsch¬
land. Dabei bergen aber die Überschriften von Ur. 5, 9 und 13 ganze Serien von
sechs, sieben und neun Spezialabhandlungen. Wer Friedländer nur nach diesen
beiden Bänden beurteilen wollte, würde zu der Ansicht neigen müssen, daß er mehr
Gegenwartsmensch als Historiker ist, denn die Mitteilungen über Altertum und
Mittelalter sind zwar außerordentlich anregend und ideenreich, aber sie erschöpfen
ihren Gegenstand nicht. Wollen und sollen das auch nicht. Hätte sie der Autor
nicht für Skizzen gehalten, würde er sie in Fachzeitschriften oder als selbständige
Publikationen vorgelegt haben. Was ins Bereich des Selbstbevbachteten, des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 65, 1906, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341883_299040/121>, abgerufen am 26.12.2024.