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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Reichstag und Verfassung

and aufs Herz: wie viele unter den eifrigen Rednern und De¬
battieren: über die Verfassung haben sie gelesen? Die große
Mehrzahl begnügt sich in den Fällen, wo von "Verfassung" ge¬
sprochen wird, mit der Ansicht oder der Mitteilung der Zeitung,
die man gerade gelesen hat. So gewöhnt man sich, über poli¬
tische Zustände zu streiten, die man nur halb versteht, die man aber nach seiner
augenblicklichen Stimmung anders haben möchte, und kommt unversehens dazu,
den eignen Staat mit dem Auge des Dilettanten zu betrachten. Die Lust zu
scheinen und zu blenden ist von jeher eine Eigenschaft des Menschengeschlechts
gewesen, ein Zeichen seiner vornehmen Natur und ein Quell häßlicher Ver-
irrungen. In frühern Zeiten, wo sich ohne kriegerische Tüchtigkeit niemand
durch das Leben schlagen konnte, war das Prahlen mit erfundnen Heldentaten
die üblichste Art der Lüge, wofür die köstliche Shakespearische Gestalt des
Falstaff das ergötzlichste Beispiel nach dem Leben ist. In der Gegenwart setzt
die "gute Gesellschaft," die sich modern kleidet und gut ißt und trinkt, von
jedermann als selbstverständlich voraus, daß er einige Kenntnisse und Belesenheit
habe, und es ist darum ein Gewohuhcitslaster geworden, sich mit dem Scheine
der Bildung zu schmücken. Der ehrliche Blick erschrickt vor dem Wüste von
Unwahrheiten, der durch diese Unart in die Welt gekommen ist. Seitdem aber
vollends die Verfassungen samt Wahlen, Parlamentsreden und Parteizerrisseuheit
über Deutschland gekommen sind, spielt das als unterrichteter Politiker glänzen
wollen eine große Rolle. Man ist als Wühler zur Teilnahme an der Politik
berufen, folglich fühlt man sich auch als Politiker, denn wem Gott ein Amt
gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu. Gewiß, nur soll man ihn auch
gebrauchen. Was man aber in unsrer Zeit nicht etwa bloß auf der Bierbank,
sondern auch in politischen Versammlungen und sogar in "großen" Zeitungen
an politischer Unkenntnis und darauf gebauten, oft sehr selbstgefälligen, aber
häufig ebensowenig triftigen politischen Darstellungen findet, ist arg. Es ist
noch ein Glück, daß im allgemeinen alle diese auf den Sand der Unkenntnis
gegründeten und in die Luft der Gedcmkenspielerei hineingebauten Kunstwerke
des politischen Dilettantismus bald wieder in Vergessenheit geraten. Sie lassen
aber doch einen Eindruck zurück, und dieser wirkt in der Regel aufregend und


Grenzboim l 1005 83


Reichstag und Verfassung

and aufs Herz: wie viele unter den eifrigen Rednern und De¬
battieren: über die Verfassung haben sie gelesen? Die große
Mehrzahl begnügt sich in den Fällen, wo von „Verfassung" ge¬
sprochen wird, mit der Ansicht oder der Mitteilung der Zeitung,
die man gerade gelesen hat. So gewöhnt man sich, über poli¬
tische Zustände zu streiten, die man nur halb versteht, die man aber nach seiner
augenblicklichen Stimmung anders haben möchte, und kommt unversehens dazu,
den eignen Staat mit dem Auge des Dilettanten zu betrachten. Die Lust zu
scheinen und zu blenden ist von jeher eine Eigenschaft des Menschengeschlechts
gewesen, ein Zeichen seiner vornehmen Natur und ein Quell häßlicher Ver-
irrungen. In frühern Zeiten, wo sich ohne kriegerische Tüchtigkeit niemand
durch das Leben schlagen konnte, war das Prahlen mit erfundnen Heldentaten
die üblichste Art der Lüge, wofür die köstliche Shakespearische Gestalt des
Falstaff das ergötzlichste Beispiel nach dem Leben ist. In der Gegenwart setzt
die „gute Gesellschaft," die sich modern kleidet und gut ißt und trinkt, von
jedermann als selbstverständlich voraus, daß er einige Kenntnisse und Belesenheit
habe, und es ist darum ein Gewohuhcitslaster geworden, sich mit dem Scheine
der Bildung zu schmücken. Der ehrliche Blick erschrickt vor dem Wüste von
Unwahrheiten, der durch diese Unart in die Welt gekommen ist. Seitdem aber
vollends die Verfassungen samt Wahlen, Parlamentsreden und Parteizerrisseuheit
über Deutschland gekommen sind, spielt das als unterrichteter Politiker glänzen
wollen eine große Rolle. Man ist als Wühler zur Teilnahme an der Politik
berufen, folglich fühlt man sich auch als Politiker, denn wem Gott ein Amt
gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu. Gewiß, nur soll man ihn auch
gebrauchen. Was man aber in unsrer Zeit nicht etwa bloß auf der Bierbank,
sondern auch in politischen Versammlungen und sogar in „großen" Zeitungen
an politischer Unkenntnis und darauf gebauten, oft sehr selbstgefälligen, aber
häufig ebensowenig triftigen politischen Darstellungen findet, ist arg. Es ist
noch ein Glück, daß im allgemeinen alle diese auf den Sand der Unkenntnis
gegründeten und in die Luft der Gedcmkenspielerei hineingebauten Kunstwerke
des politischen Dilettantismus bald wieder in Vergessenheit geraten. Sie lassen
aber doch einen Eindruck zurück, und dieser wirkt in der Regel aufregend und


Grenzboim l 1005 83
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[0641] [Abbildung] Reichstag und Verfassung and aufs Herz: wie viele unter den eifrigen Rednern und De¬ battieren: über die Verfassung haben sie gelesen? Die große Mehrzahl begnügt sich in den Fällen, wo von „Verfassung" ge¬ sprochen wird, mit der Ansicht oder der Mitteilung der Zeitung, die man gerade gelesen hat. So gewöhnt man sich, über poli¬ tische Zustände zu streiten, die man nur halb versteht, die man aber nach seiner augenblicklichen Stimmung anders haben möchte, und kommt unversehens dazu, den eignen Staat mit dem Auge des Dilettanten zu betrachten. Die Lust zu scheinen und zu blenden ist von jeher eine Eigenschaft des Menschengeschlechts gewesen, ein Zeichen seiner vornehmen Natur und ein Quell häßlicher Ver- irrungen. In frühern Zeiten, wo sich ohne kriegerische Tüchtigkeit niemand durch das Leben schlagen konnte, war das Prahlen mit erfundnen Heldentaten die üblichste Art der Lüge, wofür die köstliche Shakespearische Gestalt des Falstaff das ergötzlichste Beispiel nach dem Leben ist. In der Gegenwart setzt die „gute Gesellschaft," die sich modern kleidet und gut ißt und trinkt, von jedermann als selbstverständlich voraus, daß er einige Kenntnisse und Belesenheit habe, und es ist darum ein Gewohuhcitslaster geworden, sich mit dem Scheine der Bildung zu schmücken. Der ehrliche Blick erschrickt vor dem Wüste von Unwahrheiten, der durch diese Unart in die Welt gekommen ist. Seitdem aber vollends die Verfassungen samt Wahlen, Parlamentsreden und Parteizerrisseuheit über Deutschland gekommen sind, spielt das als unterrichteter Politiker glänzen wollen eine große Rolle. Man ist als Wühler zur Teilnahme an der Politik berufen, folglich fühlt man sich auch als Politiker, denn wem Gott ein Amt gibt, dem gibt er auch den Verstand dazu. Gewiß, nur soll man ihn auch gebrauchen. Was man aber in unsrer Zeit nicht etwa bloß auf der Bierbank, sondern auch in politischen Versammlungen und sogar in „großen" Zeitungen an politischer Unkenntnis und darauf gebauten, oft sehr selbstgefälligen, aber häufig ebensowenig triftigen politischen Darstellungen findet, ist arg. Es ist noch ein Glück, daß im allgemeinen alle diese auf den Sand der Unkenntnis gegründeten und in die Luft der Gedcmkenspielerei hineingebauten Kunstwerke des politischen Dilettantismus bald wieder in Vergessenheit geraten. Sie lassen aber doch einen Eindruck zurück, und dieser wirkt in der Regel aufregend und Grenzboim l 1005 83

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/641>, abgerufen am 23.07.2024.