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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

mocht! Nun trieb sie wieder steuerlos in dem schwarzen Gewässer, müde und
hilflos, und hätte rettungslos versinken müssen, wenn sie nicht Mere Maries Hand
über sich gefühlt hätte. Aber irgendwo mußte doch die Souue scheinen, und mußte
festes Land zu finden sein, worauf sie sich retten konnte. Warum ließ Gott sie so
im Dunkeln wehrlos umhertreiben, sie und all die andern armen Elenden? Warum
half Christus ihr nicht, für dessen Gesetz sie doch hatte kämpfen wollen? Sie
meinte ihn zur Rechenschaft ziehn zu müssen, warum er ihr bei ihrem mutigen
Werk nicht besser beigestanden hätte, der erlösende Christus, dessen Leben, Wirken
und Sterben sie aus ihrem kostbaren Büchlein kannte, und den sie in ihren Fieber-
Phantasien häufig geschaut hatte: der Christus aus dem Volkshaufe!

Als Fintje, noch matt von der schweren Krankheit, endlich wieder aufstehn
und ein wenig umhergehn durfte, schlich sie mit kleinen wankenden Schritten die
Hoogstraat hinunter zu dem Volkshans, zu einer Stunde, wo sie den Portier in
der Bibliothek beschäftigt wußte, und sie ungesehen in den kleinen Festsaal gelangen
konnte. Sie wollte ernsthafte Zwiesprache halten mit dem großen Christusbilde.

Warum hast du mich nicht siegen lassen im Kampf für dich? Ich habe doch
dein Gesetz predigen wollen von ganzem Herzen und habe uur Hohn und Schmach
dafür geerntet!

Die ernsten, traurigen Augen sahen Fintje durchdringend an. Haben sie mich
nicht auch gekreuzigt? fragten sie, und die durchlöcherte Hand hob sich warnend.
Wer bist denn du, die du retten willst, wie ich, der Erlöser, gerettet habe? Weine
nicht über die andern, weine über dich selbst und deine Sünde, Fintje!

Gebeugt schleppte sich Fintje heim.

Sie haben ihn auch gekreuzigt, Mere Marie, und wer bin denn ich?
Du bist eine Kranke, die der Genesung entgegengeht, und die fein demütig
stillhalten soll und warten und hoffen, mahnte die Trösterin.


23

Draußen wehten die ersten Frühlingsstürme. Bis in die engsten Gassen und
dunkelsten Keller drang die feuchte, zersetzende Vorfrühlingsluft, die den letzten
Schnee anstände und alles Menschenblut zur Unrast aufreizte.

Es nahte die Zeit der Unruhen für Brüssel, die Zeit der Wahlen, die mit
dem Frühling zusammenfallen.

Allabendlich füllte sich der Pouchenellekeller bis auf den letzten Platz. Sie
brauchten keinen Cent Eintrittsgeld mehr zu bezahlen, die sich hier eindrängten.
Der Vorhang der Marionettenbühne ging nicht mehr in die Höhe. Die niedlichen
Holzkinder Papa Toones stolzierten nicht mehr über die Bretter. Was ging die
finstern Marolliens das bunte Puppenvolk an? Sie wußten kaum noch, wie herzlich
sie noch vor kurzem über die Witze der gespreizten Herrschaften gelacht hatten.

Nicht um zu lachen kamen sie jetzt in den Pouchenellekeller, sie kamen, um
sich vou der alten Hexe aufwiegeln und aufreizen zu lassen.

Die Hexe stand an ihrem alten Platz, aber sie hatte die Gerte weggeworfen,
ste wollte nicht länger das Geschäft der verhaßten Polizei versehen. Sie freute
sich, je unbotmäßiger ihr Publikum auftrat, je lauter sie durcheinander schrien, je
wilder sie einander reizten. Die Hexe des Pouchenellekellers predigte zornig und
hinreißend wie vom Bösen besessen gegen Gott und die Obrigkeit, gegen alles,
was Macht und Glück auf seiner Seite hatte. Was Van der Velde mit allen
klugen Worten im Volkshaufe nicht zuwege gebracht hatte, das gelang dem zornigen
alten Weibe. Was sie sprach, flog in die Herzen ihrer Hörer wie ein Feuerbrand
und entzündete da einen fanatischen Tatendrang. Aus dem Pouchenellekeller schlich
sich die Revolution in die Straßen Brüssels.

Laßt es euch ein Zeichen sein, wenn ich dahinfahre in meinem Zorn! gellte
die Stimme der Hexe noch tönend durch den Keller. Dann sank ihr erhobner Arm
schlaff hinab, und die hvchgereckte, hagere Gestalt fiel lautlos in sich zusammen.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/467>, abgerufen am 30.12.2024.