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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Und was willst du tun in ihren Häusern, Fintje? fragte die erfahrne
Freundin, ihrem Schützling mit kühlender Hand über das fieberheiße Gesichtchen
streichend.

Ich werde angreifen und helfen, wo ich kann, sagte Fintje, mit funkelnden
Augen zu ihr aufschauend. Die Kranken werde ich Pflegen und die Kinder hüten
und ihnen die Kleider flicken. O, es gibt so viel, so viel bei den Armen zu tun!
Und wenn sie mich fragen: Warum tust du uns das? dann sage ich ihnen: Weil
ich euch lieb habe, wie Gott es befohlen hat, und wie ihr euch auch untereinander
lieben sollt, und von der Sünde lassen, um glücklich zu werden!

Mere Marie hielt sie nicht länger zurück.

Fintje stürzte sich in diesen neuen schweren Kampf mit demselben Ungestüm,
mit dem sie sich einst in den lustigen Tumult der Kirmes gestürzt hatte, ungeduldig
und leidenschaftlich.

Sie lief in die abgelegnen Gänge und Gassen, wo sie und ihre traurige Ge¬
schichte nicht bekannt waren, stieg in modrige Keller hinab und hinauf in armselige
Dachkammern. Sie fand Elend und Arbeit genng.

Häufig wurde sie voll höhnischer Verwunderung abgewiesen, von manchen auch
über Gebühr ausgenutzt und hintendrein verlacht. Andre wieder, hauptsächlich
kranke, müde Frauen und Kinder, klammerten sich an sie als an eine unverhoffte
Hilfe, die sie nicht wieder fahren lasten wollten. Aber Fintje mußte weiter, sie
glaubte nicht stehn bleiben zu dürfen in diesem Kampf, dessen Schlachtfeld sich so
endlos vor ihr ausdehnte.

Sie riß sich los von den Schwachen und den Kindern, die ihr alles versprachen,
was sie wollte, und lief mutig mitten in das lastervollste Elend, wo die Rettung
am meisten nottat. Da wurde sie von den Frauen mit mißtrauischen Blicken an¬
gesehen: Warum kommst du ungebeten her und arbeitest für uus ohne Lohn?

Sie glaubten nicht an ihre Antwort. Die Männer lachten, weil sie sich ein¬
bildeten, Fintjes geheime Beweggründe zu versteh", und wollten ihr ihren Scharf¬
sinn und ihre Dankbarkeit auf dunkeln Treppenwinkeln deutlich zu versteh" geben.
Dann wurde aus Fintje, der Volksretterin, sogleich ein zorniges, keifendes, wildes
kleines Mädchen. Sie gab Hohn für Hohn und Schimpf für Schimpf zurück und
rannte mit flammenden Augen und rachsüchtigem Herzen zu Mere Marie.

Dort beruhigte sie sich bald, schämte sich ihrer Ungeduld und machte sich von
neuem auf den Weg, und dann kam sie von neuem zurück, verstört und entrüstet.
Und wieder und wieder.

Mere Marie sah besorgt diesem aufreibenden Treiben zu. Wie lange würde
der junge Körper diese Hetzjagd aushalten, zu der ihn die unruhvolle, verstörte
Seele zwang? Glücklich noch, wenn der Leib eher als die Seele müde zusammen¬
brach, wenn die Spannung sich in physische Krankheit löste. Die Kranke wollte
sie schon pflegen!

Schnell kam es, wie sie gedacht hatte. Langsam kam Fintje eines Tags heim-
geschlichen, zu Tode erschöpft. Sie wollte nicht mehr kämpfen, nur ausruhen und
schlafen. Mere Marie brachte sie zu Bett und saß manche Nacht bei der fiebernden
Kranken.

Auf das Fieber folgte eine todesähnliche Schwäche, durch die Mere Maries
liebkosende Hand uicht mehr bis zu dem schlummernden Bewußtsein Fintjes durch¬
zudringen vermochte.

Und nach der langen Erschöpfungspanse kehrte endlich das Bewußtsein mit
allen seineu wieder aufstehenden Erinnerungen und Empfindungen zurück und um¬
drängte die Patientin mit einer Brandung von Fragen und Anklagen und bangen
Zweifeln. In diese sie umwogende uferlose Lebensflut starrten Fintjes schwarze
Augen in entsetzter Ratlosigkeit. Wie sollte sie sich aus deu bedrohlichen Wogen
retten? In ihrer Verzweiflung hatte sie wohl nach dem Lichtstrahl gegriffen, den
Jean de Groot ihr entgegengehalten hatte. Aber sie hatte nicht festzuhalten ver-


Im alten Brüssel

Und was willst du tun in ihren Häusern, Fintje? fragte die erfahrne
Freundin, ihrem Schützling mit kühlender Hand über das fieberheiße Gesichtchen
streichend.

Ich werde angreifen und helfen, wo ich kann, sagte Fintje, mit funkelnden
Augen zu ihr aufschauend. Die Kranken werde ich Pflegen und die Kinder hüten
und ihnen die Kleider flicken. O, es gibt so viel, so viel bei den Armen zu tun!
Und wenn sie mich fragen: Warum tust du uns das? dann sage ich ihnen: Weil
ich euch lieb habe, wie Gott es befohlen hat, und wie ihr euch auch untereinander
lieben sollt, und von der Sünde lassen, um glücklich zu werden!

Mere Marie hielt sie nicht länger zurück.

Fintje stürzte sich in diesen neuen schweren Kampf mit demselben Ungestüm,
mit dem sie sich einst in den lustigen Tumult der Kirmes gestürzt hatte, ungeduldig
und leidenschaftlich.

Sie lief in die abgelegnen Gänge und Gassen, wo sie und ihre traurige Ge¬
schichte nicht bekannt waren, stieg in modrige Keller hinab und hinauf in armselige
Dachkammern. Sie fand Elend und Arbeit genng.

Häufig wurde sie voll höhnischer Verwunderung abgewiesen, von manchen auch
über Gebühr ausgenutzt und hintendrein verlacht. Andre wieder, hauptsächlich
kranke, müde Frauen und Kinder, klammerten sich an sie als an eine unverhoffte
Hilfe, die sie nicht wieder fahren lasten wollten. Aber Fintje mußte weiter, sie
glaubte nicht stehn bleiben zu dürfen in diesem Kampf, dessen Schlachtfeld sich so
endlos vor ihr ausdehnte.

Sie riß sich los von den Schwachen und den Kindern, die ihr alles versprachen,
was sie wollte, und lief mutig mitten in das lastervollste Elend, wo die Rettung
am meisten nottat. Da wurde sie von den Frauen mit mißtrauischen Blicken an¬
gesehen: Warum kommst du ungebeten her und arbeitest für uus ohne Lohn?

Sie glaubten nicht an ihre Antwort. Die Männer lachten, weil sie sich ein¬
bildeten, Fintjes geheime Beweggründe zu versteh», und wollten ihr ihren Scharf¬
sinn und ihre Dankbarkeit auf dunkeln Treppenwinkeln deutlich zu versteh« geben.
Dann wurde aus Fintje, der Volksretterin, sogleich ein zorniges, keifendes, wildes
kleines Mädchen. Sie gab Hohn für Hohn und Schimpf für Schimpf zurück und
rannte mit flammenden Augen und rachsüchtigem Herzen zu Mere Marie.

Dort beruhigte sie sich bald, schämte sich ihrer Ungeduld und machte sich von
neuem auf den Weg, und dann kam sie von neuem zurück, verstört und entrüstet.
Und wieder und wieder.

Mere Marie sah besorgt diesem aufreibenden Treiben zu. Wie lange würde
der junge Körper diese Hetzjagd aushalten, zu der ihn die unruhvolle, verstörte
Seele zwang? Glücklich noch, wenn der Leib eher als die Seele müde zusammen¬
brach, wenn die Spannung sich in physische Krankheit löste. Die Kranke wollte
sie schon pflegen!

Schnell kam es, wie sie gedacht hatte. Langsam kam Fintje eines Tags heim-
geschlichen, zu Tode erschöpft. Sie wollte nicht mehr kämpfen, nur ausruhen und
schlafen. Mere Marie brachte sie zu Bett und saß manche Nacht bei der fiebernden
Kranken.

Auf das Fieber folgte eine todesähnliche Schwäche, durch die Mere Maries
liebkosende Hand uicht mehr bis zu dem schlummernden Bewußtsein Fintjes durch¬
zudringen vermochte.

Und nach der langen Erschöpfungspanse kehrte endlich das Bewußtsein mit
allen seineu wieder aufstehenden Erinnerungen und Empfindungen zurück und um¬
drängte die Patientin mit einer Brandung von Fragen und Anklagen und bangen
Zweifeln. In diese sie umwogende uferlose Lebensflut starrten Fintjes schwarze
Augen in entsetzter Ratlosigkeit. Wie sollte sie sich aus deu bedrohlichen Wogen
retten? In ihrer Verzweiflung hatte sie wohl nach dem Lichtstrahl gegriffen, den
Jean de Groot ihr entgegengehalten hatte. Aber sie hatte nicht festzuhalten ver-


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[0466] Im alten Brüssel Und was willst du tun in ihren Häusern, Fintje? fragte die erfahrne Freundin, ihrem Schützling mit kühlender Hand über das fieberheiße Gesichtchen streichend. Ich werde angreifen und helfen, wo ich kann, sagte Fintje, mit funkelnden Augen zu ihr aufschauend. Die Kranken werde ich Pflegen und die Kinder hüten und ihnen die Kleider flicken. O, es gibt so viel, so viel bei den Armen zu tun! Und wenn sie mich fragen: Warum tust du uns das? dann sage ich ihnen: Weil ich euch lieb habe, wie Gott es befohlen hat, und wie ihr euch auch untereinander lieben sollt, und von der Sünde lassen, um glücklich zu werden! Mere Marie hielt sie nicht länger zurück. Fintje stürzte sich in diesen neuen schweren Kampf mit demselben Ungestüm, mit dem sie sich einst in den lustigen Tumult der Kirmes gestürzt hatte, ungeduldig und leidenschaftlich. Sie lief in die abgelegnen Gänge und Gassen, wo sie und ihre traurige Ge¬ schichte nicht bekannt waren, stieg in modrige Keller hinab und hinauf in armselige Dachkammern. Sie fand Elend und Arbeit genng. Häufig wurde sie voll höhnischer Verwunderung abgewiesen, von manchen auch über Gebühr ausgenutzt und hintendrein verlacht. Andre wieder, hauptsächlich kranke, müde Frauen und Kinder, klammerten sich an sie als an eine unverhoffte Hilfe, die sie nicht wieder fahren lasten wollten. Aber Fintje mußte weiter, sie glaubte nicht stehn bleiben zu dürfen in diesem Kampf, dessen Schlachtfeld sich so endlos vor ihr ausdehnte. Sie riß sich los von den Schwachen und den Kindern, die ihr alles versprachen, was sie wollte, und lief mutig mitten in das lastervollste Elend, wo die Rettung am meisten nottat. Da wurde sie von den Frauen mit mißtrauischen Blicken an¬ gesehen: Warum kommst du ungebeten her und arbeitest für uus ohne Lohn? Sie glaubten nicht an ihre Antwort. Die Männer lachten, weil sie sich ein¬ bildeten, Fintjes geheime Beweggründe zu versteh», und wollten ihr ihren Scharf¬ sinn und ihre Dankbarkeit auf dunkeln Treppenwinkeln deutlich zu versteh« geben. Dann wurde aus Fintje, der Volksretterin, sogleich ein zorniges, keifendes, wildes kleines Mädchen. Sie gab Hohn für Hohn und Schimpf für Schimpf zurück und rannte mit flammenden Augen und rachsüchtigem Herzen zu Mere Marie. Dort beruhigte sie sich bald, schämte sich ihrer Ungeduld und machte sich von neuem auf den Weg, und dann kam sie von neuem zurück, verstört und entrüstet. Und wieder und wieder. Mere Marie sah besorgt diesem aufreibenden Treiben zu. Wie lange würde der junge Körper diese Hetzjagd aushalten, zu der ihn die unruhvolle, verstörte Seele zwang? Glücklich noch, wenn der Leib eher als die Seele müde zusammen¬ brach, wenn die Spannung sich in physische Krankheit löste. Die Kranke wollte sie schon pflegen! Schnell kam es, wie sie gedacht hatte. Langsam kam Fintje eines Tags heim- geschlichen, zu Tode erschöpft. Sie wollte nicht mehr kämpfen, nur ausruhen und schlafen. Mere Marie brachte sie zu Bett und saß manche Nacht bei der fiebernden Kranken. Auf das Fieber folgte eine todesähnliche Schwäche, durch die Mere Maries liebkosende Hand uicht mehr bis zu dem schlummernden Bewußtsein Fintjes durch¬ zudringen vermochte. Und nach der langen Erschöpfungspanse kehrte endlich das Bewußtsein mit allen seineu wieder aufstehenden Erinnerungen und Empfindungen zurück und um¬ drängte die Patientin mit einer Brandung von Fragen und Anklagen und bangen Zweifeln. In diese sie umwogende uferlose Lebensflut starrten Fintjes schwarze Augen in entsetzter Ratlosigkeit. Wie sollte sie sich aus deu bedrohlichen Wogen retten? In ihrer Verzweiflung hatte sie wohl nach dem Lichtstrahl gegriffen, den Jean de Groot ihr entgegengehalten hatte. Aber sie hatte nicht festzuhalten ver-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/466>, abgerufen am 22.12.2024.