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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Im alten Brüssel

Kämpfen darf jeder, auch du darfst es! Wir haben viele Herzen und Hände
nötig in dem großen Kampf, antwortete er auf die stumme Frage. Du hast mein
Büchlein treu bewahrt, hast du auch darin gelesen?

Erglühend senkte Fintje den Kopf. Nicht mehr als die beiden beschriebnen
Namen auf der ersten Seite hatte sie gelesen, und um den gedruckten Inhalt hatte
sie sich nicht gekümmert.

Nun reichte er ihr die Hand zum Abschied und sagte ernst: So hol es jetzt
nach und lies in deinem Buch! Es wird dir den rechten Weg weisen. Und nun
leb wohl! Und tapfern Mut und viel Sieg ist mein Wunsch für dich ans den
Weg, kleine Schwester!

5

Die Marolliens standen eng zusammengedrängt hinter der absperrenden Schnur
im grün und schwarzen Schwurgerichtssaal des Justizpalnstes, als der Gerichtshof
den Urteilsspruch fällte über einen aus ihrer Mitte, über Papa Toones Sohn,
den Marionetten-Ovale. Über den Angeklagten wurde eine Gefängnisstrafe von
sechs Monaten verhängt.

Nach Verkündigung dieses Urteilsspruchs sahen sich die Marolliens bedeutungs¬
voll an und sagten zueinander: Er ist gnädig davon gekommen, er muß einen Für¬
sprecher bei den gestrengen Herren gehabt haben.

Dann trollten sie sich heim. Sie hatten nicht weit. Nur die hunderteimmd-
siebzig Stufen hatten sie hinunterzusteigeu von der „Salle des Pas Perdus" bis
in die alte „Rue des Miuimes," und sie waren zuhause. Denn sie wohnten ja
alle im Schatten des Justizpalastes.


22

Fintje saß nun in Mere Maries stiller Stube und las in Jans Büchlein.

Mere Marie war in dem Testament längst zuhause, die kannte es zur Hälfte
auswendig. Fintje verstand ohne Deutung, was sie las. Warum also hatte der
Priester im Beichtstuhl nur gesagt: Für Laien ist dieses Buch nicht geschrieben?
Er hatte es Wohl selbst uicht gelesen.

Aber Jean de Groot, der hatte es gelesen und verstanden, ebenso wie Mere
Marie, und wie sie es jetzt verstand. Und Jean de Groot rechnete ans ihre Mit¬
hilfe in dem großen Kampf wider die Sünde. Er hatte Vertrauen zu ihr, immer
noch! Er hatte sie „kleine Schwester" genannt.

Mere Marie lächelte über den fanatischen Eifer, der Fintje so plötzlich erfaßte
und gewaltsam emporriß aus ihrer dumpfen, hoffnungslosen Niedergeschlagenheit.
Und Mere Marie wollte dem erregten Fintje jetzt plötzlich zu zurückhaltend scheinen,
zu wenig begeistert, zu still für den großen Kampf der rettenden Liebe. War
Christus nicht uuter das Volk gegangen, hatte er nicht gepredigt und geholfen Tag
und Nacht? Und Mere Marie blieb still in dem Hause mit der Zuschrift: „Gott
ist die Liebe" und wartete, daß die Hilfsbedürftigen zu ihr kämen. Sie machte die
Betten und reinigte die Stuben und sorgte für die Mahlzeiten, und wenn einer
ihr sein Leid klagte, tröstete sie ihn, mehr zwar mit den verstehenden Augen als
mit Worten. Aber sie lief nicht mitten in das Elend hinein, um zu rette», was
nur irgend zu retten war.

Ich habe es einst auch versucht, Kind. Ich bin zu deu Leuten gegangen,
sagte Mere Marie. Sie haben mich mißverstanden, und meine Kraft war bald
zu Ende. Jetzt bin ich bescheiden geworden und hebe nur auf, was Gott mir in
den Weg legt.

Ja, sagte Fintje mit entschuldigenden Verständnis, Ihr seid eine Dame, Ihr
sprecht eine andre Sprache und habt eine andre Art. Ihr konntet die Marolliens
nicht versteh«, und sie Euch nicht. Als eine Fremde sahen sie Euch feindlich an,
und da Ihr die Uniform der Heilsarmee trugt, scheuten sie sich vor Euch. Das
glaube ich wohl. Aber ich bin hier geboren, ich bin von ihrer Art, ich bin nur
das Fiutje, ich kann in alle Häuser laufen, vor mir scheuen sie sich nicht.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/465>, abgerufen am 30.12.2024.