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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr.

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Neugier und Wißbegier
Wilhelm Münch von

aß sie himmelweit voneinander verschieden sind, Neugier und
Wißbegier, daß sie -- um es sogleich zu sagen -- sich zuein¬
ander verhalten wie Gemeines und Edles, ist kaum jemand
zweifelhaft, der Deutsch kann und mit den Worten einen Sinn
verbindet. Aber wie, wenn schon unsre nächsten Nachbarn die
Unterscheidung in ihrer Sprache gar nicht machen? Und so ist es doch in der
Tat: ourioÄts ist im Französischen das Wort, das Neugier oder Wißbegier
widerspiegelt je nach dem einzelnen Falle, das also die eine und die andre
Eigenschaft noch ungeschieden ausdrückt. Und im Englischen ist es mit ouriosit^
nicht anders, ebenso wie im Italienischen mit (ZuriositA,. In diesem Punkte
haben diese unsre Nachbarsprachen zufällig eine Differenzierung nicht vollzogen,
die uns geläufig ist, wie sich das Umgekehrte an andern Punkten findet, zum
Beispiel mit dem französischen amour as soi und Amour-xroprs, oder auch mit
s-mour und eil"ins usw. Natürlich vermag auch jede dieser andern Sprachen
das bestimmt auszudrücken, was unsrer Differenzierung entspricht: 1s ässir 6e
8Ävair, Ig dssom cle s'instruirs bezeichnet in unzweifelhafter Weise das, was
wir Wißbegier nennen, und die Neugier nach ihrem wertlosen Charakter mag
durch eine Verbindung wie vains euriositv gekennzeichnet werden; aber für ge¬
wöhnlich genügt das unbestimmtere Wort, und die zutreffende Auffassung je
nach dem Zusammenhang bleibt dem Hörer oder Leser überlassen. Als völlig
ungleichartig stehn sich die beiden Begriffe eben doch nicht gegenüber; es gibt
für beide eine gemeinsame Vorstufe, es gibt zwischen ihnen eine partielle
Identität, gibt fließende Grenzen; die eine kann in die andre hinüberschillern.

Kann man bei Kindern von Neugierde sprechen und von Wißbegierde?
Gewiß werden sie oft wegen Neugierde gescholten und oft wegen Wißbegierde
gerühmt, und beides vielleicht nur mit halbem Recht. Doch muß man hier
sicherlich die verschiednen Stufen der Kindheit unterscheiden. Das junge
Kind hat eine Zeit, wo es alle die einfachsten Gegenstände der umgebenden
Welt mit großen Augen beschaut, gleichsam den einen nach dem andern für
sich entdeckt und in diesem Unischauen und Entdecken eine stille Befriedigung
findet; dabei ist denn auch jedermann aus der Umgebung mit dem Kinde sehr
zufrieden, denn es wird damit nicht im geringsten lustig; noch zufriedner müßte
man damit sein, daß es in dieser Zeit einen gewaltigen Weg der Selbstbe-
lehrung zurücklegt, einen Weg, auf dem die Großen es kaum führen könnten.
Hier ist natürlich nicht von Neugier zu reden, trotz allem Drang, von all den
Stücken der nagelneuen Welt immer wieder neue zu erschauen. Ob schon von
Wißbegier? Auch so wird man diesen natürlichen Orieutierungsdrang nicht




Neugier und Wißbegier
Wilhelm Münch von

aß sie himmelweit voneinander verschieden sind, Neugier und
Wißbegier, daß sie — um es sogleich zu sagen — sich zuein¬
ander verhalten wie Gemeines und Edles, ist kaum jemand
zweifelhaft, der Deutsch kann und mit den Worten einen Sinn
verbindet. Aber wie, wenn schon unsre nächsten Nachbarn die
Unterscheidung in ihrer Sprache gar nicht machen? Und so ist es doch in der
Tat: ourioÄts ist im Französischen das Wort, das Neugier oder Wißbegier
widerspiegelt je nach dem einzelnen Falle, das also die eine und die andre
Eigenschaft noch ungeschieden ausdrückt. Und im Englischen ist es mit ouriosit^
nicht anders, ebenso wie im Italienischen mit (ZuriositA,. In diesem Punkte
haben diese unsre Nachbarsprachen zufällig eine Differenzierung nicht vollzogen,
die uns geläufig ist, wie sich das Umgekehrte an andern Punkten findet, zum
Beispiel mit dem französischen amour as soi und Amour-xroprs, oder auch mit
s-mour und eil»ins usw. Natürlich vermag auch jede dieser andern Sprachen
das bestimmt auszudrücken, was unsrer Differenzierung entspricht: 1s ässir 6e
8Ävair, Ig dssom cle s'instruirs bezeichnet in unzweifelhafter Weise das, was
wir Wißbegier nennen, und die Neugier nach ihrem wertlosen Charakter mag
durch eine Verbindung wie vains euriositv gekennzeichnet werden; aber für ge¬
wöhnlich genügt das unbestimmtere Wort, und die zutreffende Auffassung je
nach dem Zusammenhang bleibt dem Hörer oder Leser überlassen. Als völlig
ungleichartig stehn sich die beiden Begriffe eben doch nicht gegenüber; es gibt
für beide eine gemeinsame Vorstufe, es gibt zwischen ihnen eine partielle
Identität, gibt fließende Grenzen; die eine kann in die andre hinüberschillern.

Kann man bei Kindern von Neugierde sprechen und von Wißbegierde?
Gewiß werden sie oft wegen Neugierde gescholten und oft wegen Wißbegierde
gerühmt, und beides vielleicht nur mit halbem Recht. Doch muß man hier
sicherlich die verschiednen Stufen der Kindheit unterscheiden. Das junge
Kind hat eine Zeit, wo es alle die einfachsten Gegenstände der umgebenden
Welt mit großen Augen beschaut, gleichsam den einen nach dem andern für
sich entdeckt und in diesem Unischauen und Entdecken eine stille Befriedigung
findet; dabei ist denn auch jedermann aus der Umgebung mit dem Kinde sehr
zufrieden, denn es wird damit nicht im geringsten lustig; noch zufriedner müßte
man damit sein, daß es in dieser Zeit einen gewaltigen Weg der Selbstbe-
lehrung zurücklegt, einen Weg, auf dem die Großen es kaum führen könnten.
Hier ist natürlich nicht von Neugier zu reden, trotz allem Drang, von all den
Stücken der nagelneuen Welt immer wieder neue zu erschauen. Ob schon von
Wißbegier? Auch so wird man diesen natürlichen Orieutierungsdrang nicht


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[0148] [Abbildung] Neugier und Wißbegier Wilhelm Münch von aß sie himmelweit voneinander verschieden sind, Neugier und Wißbegier, daß sie — um es sogleich zu sagen — sich zuein¬ ander verhalten wie Gemeines und Edles, ist kaum jemand zweifelhaft, der Deutsch kann und mit den Worten einen Sinn verbindet. Aber wie, wenn schon unsre nächsten Nachbarn die Unterscheidung in ihrer Sprache gar nicht machen? Und so ist es doch in der Tat: ourioÄts ist im Französischen das Wort, das Neugier oder Wißbegier widerspiegelt je nach dem einzelnen Falle, das also die eine und die andre Eigenschaft noch ungeschieden ausdrückt. Und im Englischen ist es mit ouriosit^ nicht anders, ebenso wie im Italienischen mit (ZuriositA,. In diesem Punkte haben diese unsre Nachbarsprachen zufällig eine Differenzierung nicht vollzogen, die uns geläufig ist, wie sich das Umgekehrte an andern Punkten findet, zum Beispiel mit dem französischen amour as soi und Amour-xroprs, oder auch mit s-mour und eil»ins usw. Natürlich vermag auch jede dieser andern Sprachen das bestimmt auszudrücken, was unsrer Differenzierung entspricht: 1s ässir 6e 8Ävair, Ig dssom cle s'instruirs bezeichnet in unzweifelhafter Weise das, was wir Wißbegier nennen, und die Neugier nach ihrem wertlosen Charakter mag durch eine Verbindung wie vains euriositv gekennzeichnet werden; aber für ge¬ wöhnlich genügt das unbestimmtere Wort, und die zutreffende Auffassung je nach dem Zusammenhang bleibt dem Hörer oder Leser überlassen. Als völlig ungleichartig stehn sich die beiden Begriffe eben doch nicht gegenüber; es gibt für beide eine gemeinsame Vorstufe, es gibt zwischen ihnen eine partielle Identität, gibt fließende Grenzen; die eine kann in die andre hinüberschillern. Kann man bei Kindern von Neugierde sprechen und von Wißbegierde? Gewiß werden sie oft wegen Neugierde gescholten und oft wegen Wißbegierde gerühmt, und beides vielleicht nur mit halbem Recht. Doch muß man hier sicherlich die verschiednen Stufen der Kindheit unterscheiden. Das junge Kind hat eine Zeit, wo es alle die einfachsten Gegenstände der umgebenden Welt mit großen Augen beschaut, gleichsam den einen nach dem andern für sich entdeckt und in diesem Unischauen und Entdecken eine stille Befriedigung findet; dabei ist denn auch jedermann aus der Umgebung mit dem Kinde sehr zufrieden, denn es wird damit nicht im geringsten lustig; noch zufriedner müßte man damit sein, daß es in dieser Zeit einen gewaltigen Weg der Selbstbe- lehrung zurücklegt, einen Weg, auf dem die Großen es kaum führen könnten. Hier ist natürlich nicht von Neugier zu reden, trotz allem Drang, von all den Stücken der nagelneuen Welt immer wieder neue zu erschauen. Ob schon von Wißbegier? Auch so wird man diesen natürlichen Orieutierungsdrang nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_87477/148>, abgerufen am 23.07.2024.