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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

damit behaftet. Auch von moral lo.Sö,me^, die allerdings vereinzelt vorkomme, könne
im allgemeinen nicht die Rede sein. Im Gegenteil habe er lebhafte und feine
moralische Gefühle und habe sogar zwei Moralen. Die eine in Beziehung auf die
Gesellschaft. Dieser habe er den Krieg erklärt. Er sei entschlossen, sie zu schädigen,
soweit es sein Interesse fordert, erkenne aber auch ihr Recht an und betrachte die
Strafe, die er erleidet, wenn er erwischt wird, als gerechte Vergeltung. Einen
Mord begehe er nur im Notfall und nicht gern. Daß er dafür den Tod verdiene,
wisse er und wundre sich darüber, daß manchmal sehr schwere Verbrechen sehr milde
bestraft werden. Gegen seine Kameraden -- das ist die andre Moral -- übe er
alle Tugenden; er sei mitleidig, freigebig, hilfbereit, treu und wahrhaft; auch tue
es ihn, sehr leid, wenn er nach verübtem Diebstahl oder Raub erfahre, daß er sich
in der Person geirrt habe, und daß der Beraubte bedürftiger sei als er selbst.
Ostere und längere Gefängnishaft breche ihn körperlich und geistig. Habe er solche
durchgemacht, so verzweifle er am Erfolg und werde ein Strömer. Flynt sieht
darin einen Fingerzeig für die Strafjustiz. Nicht die humane amerikanische Theorie
sei die richtige, sondern die alte Abschreckungstheorie. Die Gesellschaft müsse die
Kriegserklärung des Verbrechers annehmen und ihm zeigen, daß sie stärker sei als
er, dann werde er beizeiten am Erfolg verzweifeln und zu Kreuze kriechen. Flynt
scheint nicht zu wissen oder nicht daran zu denken, daß der Diebstähle in England
nicht zu der Zeit, wo mau jeden Dieb hängte, den man erwischte, weniger geworden
sind, sondern erst, nachdem man von dieser barbarischen Praxis abgekommen war.
Wie weit seine neue Naturgeschichte des Verbrechers zutrifft, können wir leider bei
unsrer Unbekanntschaft mit dieser Klasse von Lebewesen nicht beurteilen.


Ist denn kein Stuhl da?

Dieses Berliner Couplet schwebt einem im
Orient beständig auf der Zunge. Es fehlt nämlich an Stühlen. Man setzt sich
hier auf die Erde oder auf den Diwan -- man setzt sich überhaupt nicht immer.
Ich entsinne mich noch, wie ich einmal an einem warmen Frühlingstage mit zwei
Griechen aus Stambul durch die Straßen von Athen spazierte. Da fiel es mir
auf, daß sich meine beiden Begleiter aller Augenblicke, wo ein schattiges Plätzchen
war, niederkauerten, um ein wenig auszuruhn. Sie hockten auf der Erde, indem
sie auf ihren Fersen saßen, flaua" eoeeoloui, wie der Italiener sagt; und verharrten
eine Weile in dieser Stellung. Ich blieb neben ihnen stehn -- hätte ich eine
Bank gefunden, so hätte ich mich gesetzt, aber das bloße Kauern und Höcker wäre
mir beschwerlich gefallen. ' Ist denn kein Stuhl da? -- summte ich vor mich hin.
Ach, eine solche Sitzgelegenheit gab es kaum in den Häusern.

Ich war noch ein Neuling im Orient: alsbald wurde ich gewahr, daß die
Hellenen, nicht gerade die wohlhabenden Stände in Athen und in den größern
Städten, aber die Landbewohner, auch bei ihren Mahlzeiten kauerten. Sie hockten
wie meine beiden Freunde oder saßen mit untergeschlagnen Beinen an einem runden
Tischchen. Das war schon deshalb nötig, weil dieses Tischchen sehr niedrig und
keinen halben Meter hoch war. Ist denn kein Stuhl da? -- Gott bewahre, sogar
in den Herbergen oder Charis findet man gewöhnlich bloß hölzerne Bänke oder
den langen, einförmigen Diwan, den sie Kanapee oder Sofa nennen. Das ist
türkische Sitte, denn in alter Zeit hatten die Griechen Stühle so gut wie wir.
Sie hießen Throne. Ein fremder König betritt das Haus des Odysseus auf
Ithaka: Telemach eilt dem Ankömmling entgegen, nimmt ihm den Spieß ab und
stellt ihn in den Spießständer, dann führt er den Gast zu einem Throne, über
den er eine Decke wirft, und bittet ihn Platz zu nehmen. Derselbe Telemach kommt
"ach Pylos, um dem greisen Nestor einen Besuch zu machen: er trifft den alten
Herrn draußen am Strand und begibt sich mit ihm ins Schloß, wo Throne und
Lehnstühle reichlich vorhanden sind. Auch bei der Mahlzeit sitzen die Gäste im
homerischen Zeitalter; später taten das nur noch die Frauen und die Kinder, die
Männer lagen ans der Kulte.

Aber die Türken, die Türken haben die Stühle abgeschafft; denn sie sitzen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

damit behaftet. Auch von moral lo.Sö,me^, die allerdings vereinzelt vorkomme, könne
im allgemeinen nicht die Rede sein. Im Gegenteil habe er lebhafte und feine
moralische Gefühle und habe sogar zwei Moralen. Die eine in Beziehung auf die
Gesellschaft. Dieser habe er den Krieg erklärt. Er sei entschlossen, sie zu schädigen,
soweit es sein Interesse fordert, erkenne aber auch ihr Recht an und betrachte die
Strafe, die er erleidet, wenn er erwischt wird, als gerechte Vergeltung. Einen
Mord begehe er nur im Notfall und nicht gern. Daß er dafür den Tod verdiene,
wisse er und wundre sich darüber, daß manchmal sehr schwere Verbrechen sehr milde
bestraft werden. Gegen seine Kameraden — das ist die andre Moral — übe er
alle Tugenden; er sei mitleidig, freigebig, hilfbereit, treu und wahrhaft; auch tue
es ihn, sehr leid, wenn er nach verübtem Diebstahl oder Raub erfahre, daß er sich
in der Person geirrt habe, und daß der Beraubte bedürftiger sei als er selbst.
Ostere und längere Gefängnishaft breche ihn körperlich und geistig. Habe er solche
durchgemacht, so verzweifle er am Erfolg und werde ein Strömer. Flynt sieht
darin einen Fingerzeig für die Strafjustiz. Nicht die humane amerikanische Theorie
sei die richtige, sondern die alte Abschreckungstheorie. Die Gesellschaft müsse die
Kriegserklärung des Verbrechers annehmen und ihm zeigen, daß sie stärker sei als
er, dann werde er beizeiten am Erfolg verzweifeln und zu Kreuze kriechen. Flynt
scheint nicht zu wissen oder nicht daran zu denken, daß der Diebstähle in England
nicht zu der Zeit, wo mau jeden Dieb hängte, den man erwischte, weniger geworden
sind, sondern erst, nachdem man von dieser barbarischen Praxis abgekommen war.
Wie weit seine neue Naturgeschichte des Verbrechers zutrifft, können wir leider bei
unsrer Unbekanntschaft mit dieser Klasse von Lebewesen nicht beurteilen.


Ist denn kein Stuhl da?

Dieses Berliner Couplet schwebt einem im
Orient beständig auf der Zunge. Es fehlt nämlich an Stühlen. Man setzt sich
hier auf die Erde oder auf den Diwan — man setzt sich überhaupt nicht immer.
Ich entsinne mich noch, wie ich einmal an einem warmen Frühlingstage mit zwei
Griechen aus Stambul durch die Straßen von Athen spazierte. Da fiel es mir
auf, daß sich meine beiden Begleiter aller Augenblicke, wo ein schattiges Plätzchen
war, niederkauerten, um ein wenig auszuruhn. Sie hockten auf der Erde, indem
sie auf ihren Fersen saßen, flaua» eoeeoloui, wie der Italiener sagt; und verharrten
eine Weile in dieser Stellung. Ich blieb neben ihnen stehn — hätte ich eine
Bank gefunden, so hätte ich mich gesetzt, aber das bloße Kauern und Höcker wäre
mir beschwerlich gefallen. ' Ist denn kein Stuhl da? — summte ich vor mich hin.
Ach, eine solche Sitzgelegenheit gab es kaum in den Häusern.

Ich war noch ein Neuling im Orient: alsbald wurde ich gewahr, daß die
Hellenen, nicht gerade die wohlhabenden Stände in Athen und in den größern
Städten, aber die Landbewohner, auch bei ihren Mahlzeiten kauerten. Sie hockten
wie meine beiden Freunde oder saßen mit untergeschlagnen Beinen an einem runden
Tischchen. Das war schon deshalb nötig, weil dieses Tischchen sehr niedrig und
keinen halben Meter hoch war. Ist denn kein Stuhl da? — Gott bewahre, sogar
in den Herbergen oder Charis findet man gewöhnlich bloß hölzerne Bänke oder
den langen, einförmigen Diwan, den sie Kanapee oder Sofa nennen. Das ist
türkische Sitte, denn in alter Zeit hatten die Griechen Stühle so gut wie wir.
Sie hießen Throne. Ein fremder König betritt das Haus des Odysseus auf
Ithaka: Telemach eilt dem Ankömmling entgegen, nimmt ihm den Spieß ab und
stellt ihn in den Spießständer, dann führt er den Gast zu einem Throne, über
den er eine Decke wirft, und bittet ihn Platz zu nehmen. Derselbe Telemach kommt
»ach Pylos, um dem greisen Nestor einen Besuch zu machen: er trifft den alten
Herrn draußen am Strand und begibt sich mit ihm ins Schloß, wo Throne und
Lehnstühle reichlich vorhanden sind. Auch bei der Mahlzeit sitzen die Gäste im
homerischen Zeitalter; später taten das nur noch die Frauen und die Kinder, die
Männer lagen ans der Kulte.

Aber die Türken, die Türken haben die Stühle abgeschafft; denn sie sitzen


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[0341] Maßgebliches und Unmaßgebliches damit behaftet. Auch von moral lo.Sö,me^, die allerdings vereinzelt vorkomme, könne im allgemeinen nicht die Rede sein. Im Gegenteil habe er lebhafte und feine moralische Gefühle und habe sogar zwei Moralen. Die eine in Beziehung auf die Gesellschaft. Dieser habe er den Krieg erklärt. Er sei entschlossen, sie zu schädigen, soweit es sein Interesse fordert, erkenne aber auch ihr Recht an und betrachte die Strafe, die er erleidet, wenn er erwischt wird, als gerechte Vergeltung. Einen Mord begehe er nur im Notfall und nicht gern. Daß er dafür den Tod verdiene, wisse er und wundre sich darüber, daß manchmal sehr schwere Verbrechen sehr milde bestraft werden. Gegen seine Kameraden — das ist die andre Moral — übe er alle Tugenden; er sei mitleidig, freigebig, hilfbereit, treu und wahrhaft; auch tue es ihn, sehr leid, wenn er nach verübtem Diebstahl oder Raub erfahre, daß er sich in der Person geirrt habe, und daß der Beraubte bedürftiger sei als er selbst. Ostere und längere Gefängnishaft breche ihn körperlich und geistig. Habe er solche durchgemacht, so verzweifle er am Erfolg und werde ein Strömer. Flynt sieht darin einen Fingerzeig für die Strafjustiz. Nicht die humane amerikanische Theorie sei die richtige, sondern die alte Abschreckungstheorie. Die Gesellschaft müsse die Kriegserklärung des Verbrechers annehmen und ihm zeigen, daß sie stärker sei als er, dann werde er beizeiten am Erfolg verzweifeln und zu Kreuze kriechen. Flynt scheint nicht zu wissen oder nicht daran zu denken, daß der Diebstähle in England nicht zu der Zeit, wo mau jeden Dieb hängte, den man erwischte, weniger geworden sind, sondern erst, nachdem man von dieser barbarischen Praxis abgekommen war. Wie weit seine neue Naturgeschichte des Verbrechers zutrifft, können wir leider bei unsrer Unbekanntschaft mit dieser Klasse von Lebewesen nicht beurteilen. Ist denn kein Stuhl da? Dieses Berliner Couplet schwebt einem im Orient beständig auf der Zunge. Es fehlt nämlich an Stühlen. Man setzt sich hier auf die Erde oder auf den Diwan — man setzt sich überhaupt nicht immer. Ich entsinne mich noch, wie ich einmal an einem warmen Frühlingstage mit zwei Griechen aus Stambul durch die Straßen von Athen spazierte. Da fiel es mir auf, daß sich meine beiden Begleiter aller Augenblicke, wo ein schattiges Plätzchen war, niederkauerten, um ein wenig auszuruhn. Sie hockten auf der Erde, indem sie auf ihren Fersen saßen, flaua» eoeeoloui, wie der Italiener sagt; und verharrten eine Weile in dieser Stellung. Ich blieb neben ihnen stehn — hätte ich eine Bank gefunden, so hätte ich mich gesetzt, aber das bloße Kauern und Höcker wäre mir beschwerlich gefallen. ' Ist denn kein Stuhl da? — summte ich vor mich hin. Ach, eine solche Sitzgelegenheit gab es kaum in den Häusern. Ich war noch ein Neuling im Orient: alsbald wurde ich gewahr, daß die Hellenen, nicht gerade die wohlhabenden Stände in Athen und in den größern Städten, aber die Landbewohner, auch bei ihren Mahlzeiten kauerten. Sie hockten wie meine beiden Freunde oder saßen mit untergeschlagnen Beinen an einem runden Tischchen. Das war schon deshalb nötig, weil dieses Tischchen sehr niedrig und keinen halben Meter hoch war. Ist denn kein Stuhl da? — Gott bewahre, sogar in den Herbergen oder Charis findet man gewöhnlich bloß hölzerne Bänke oder den langen, einförmigen Diwan, den sie Kanapee oder Sofa nennen. Das ist türkische Sitte, denn in alter Zeit hatten die Griechen Stühle so gut wie wir. Sie hießen Throne. Ein fremder König betritt das Haus des Odysseus auf Ithaka: Telemach eilt dem Ankömmling entgegen, nimmt ihm den Spieß ab und stellt ihn in den Spießständer, dann führt er den Gast zu einem Throne, über den er eine Decke wirft, und bittet ihn Platz zu nehmen. Derselbe Telemach kommt »ach Pylos, um dem greisen Nestor einen Besuch zu machen: er trifft den alten Herrn draußen am Strand und begibt sich mit ihm ins Schloß, wo Throne und Lehnstühle reichlich vorhanden sind. Auch bei der Mahlzeit sitzen die Gäste im homerischen Zeitalter; später taten das nur noch die Frauen und die Kinder, die Männer lagen ans der Kulte. Aber die Türken, die Türken haben die Stühle abgeschafft; denn sie sitzen

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/341>, abgerufen am 19.10.2024.