Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

gleich dem Rattenfänger von Hcuneln, Jungen um sich versammelt und ihnen das
Lied von der goldnen Freiheit vorpfeift. Manche sind so geschickt im Erzählen
von amüsanten Abenteuern, daß sie die Jungen zu wahrer Begeisterung hinreißen.
Jndtanergeschichten und Gerichtsverhandlungen wirken kräftig mit. So hat sich
eine förmliche Lehrlingschaft gebildet. Der Lehrling wird von seinem Meister zu
allem möglichen und unmöglichen gemißbraucht und selbstverständlich auch gemi߬
handelt. Fühlt er sich befähigt, auf eigne Faust durchzukommen, so entläuft er
seinem Tyrannen und sucht sich selbst einen Lehrling, an den er die empfangner
Prügel mit Zinsen weiterzahlt. Als eine Unterart können die vom Wanderfieber
befallnen Jungen bezeichnet werden, deren es ja auch bei uns gibt. Kehren sie
zurück, so werden sie gewöhnlich hart gezüchtigt; das verleidet ihnen dann, besonders
wenn es wiederholt geschehen ist, das Elternhaus so, daß sie auf der Walze bleiben.
Dem Verfasser ist ein Fall vorgekommen, wo der Junge, ein Sohn wohlhabender
Eltern, so oft er zurückkehrte, jedesmal liebevoll aufgenommen wurde. Das Wander-
sieber ging vorüber, und es erschien ihm später unbegreiflich, wie er so dumm habe
sein können. Gewinnendes Aussehen erleichtert dem kleinen Vagabunden sehr das
Fortkommen. In Denver lernte Flynt einen schönen Jungen kennen, der täglich
drei Dollar einnahm. Er stellte sich an Läden auf, wo Damen verkehrten, und
bettelte diese an.

Eine zweite Eigentümlichkeit Amerikas besteht darin, daß seine Vagabunden
ganz allgemein auf der Eisenbahn fahren, und zwar meist in den Güterwagen und
fast immer umsonst. Die Bahnbeamten dulden sie und helfen ihnen. Auf seiner
ersten Stromerfahrt, die acht Monate dauerte, hat Flynt, wenn er nicht aufschneidet,
über zwanzigtausend Meilen mit der Bahn zurückgelegt, und nur zehnmal ist Be¬
zahlung von ihm verlangt worden, die er in Waren: Tabak, Messern, Halstüchern
leistete; einmal mußte er mit dem Schaffner die Schuhe tauschen. Ein energischer
Bahndtrektor hat die Linien seiner Gesellschaft von dem Gesindel befreit, das
natürlich in den Güterwagen gelegentlich auch Diebstähle verübt, und Flynt auf
eine Inspektionsreise geschickt, die er als Tramp unternehmen mußte, um darüber
zu berichten, in welchem Maße die Reinigung durchgeführt sei. Flynt glaubt, daß
die Stromerei gewaltig abnehmen würde, wenn alle Eisenbahnen die blinden Passa¬
giere abschüttelten, denn diese seien schon so verwöhnt, daß ihnen lange Fußreisen
kein Vergnügen mehr machen würden. Jedenfalls würde der jetzt sehr lebhafte
Saisonverkehr zwischen den weit entfernten Gebieten des ungeheuern Landes, zum
Beispiel der Winteraufenthalt im Süden, der Wechsel zwischen Newyork und "Frisco"
aufhören, denn das alles würde dann unmöglich sein.

Was nun endlich den Verbrecher anlangt, so behauptet Flyut, die Gefängnis¬
beamten lernten ihn niemals wirklich kennen, und ebensowenig Gelehrte wie Lom-
broso, die ihn im Gefängnis studierten. Nur in der Freiheit sehe man sein wirk¬
liches leibliches und seelisches Gesicht. Geborne Verbrecher gebe es, aber sie seien
selten; auch die Gelegenheitsverbrecher und die Verbrecher aus Not seien nicht sehr
häufig. Die bei weitem zahlreichste Klasse sei die der Berufsverbrecher. Der Berufs¬
verbrecher sei in keinem Sinne ein minderwertiger Mensch, sondern ein Bursche
oder Mann von normaler leiblicher und geistiger Gesundheit und mehr als mittel¬
mäßiger Begabung. Der Lumpenproletarier bleibe in seinem Elend, das er nicht
als Elend empfinde, worin er sich im Gegenteil so wohl fühle, daß er um keinen
Preis den Anstandszwang der wohlhabenden Klassen dafür eintauschen möchte. Ver¬
brecher werde der begabte Proletarier, dem das Proletarterdasein nicht genüge,
und der keinen andern Weg sehe, aus ihm Hinauszugelangen. Stunde ihm ein
andrer Weg offen, so würde er diesen vorziehn. Er ist gewöhnlich ein kluger,
erfindungsreicher, energischer Mensch von starkem Körper und guter Gesundheit,
dem, wenn er in einem anständigen Anzüge stecke, kein Mensch den Verbrecher an¬
sehe; die von Lombroso angegebnen körperlichen Kennzeichen seien alle falsch. Den
"Verbrecherblick" eigne er sich erst im Gefängnis an, und der sei nicht ihm allein
eigen, denn alle, die mit ihm zu tun haben: Poltzetbeamte, Gefängnisbeamte, seien


Maßgebliches und Unmaßgebliches

gleich dem Rattenfänger von Hcuneln, Jungen um sich versammelt und ihnen das
Lied von der goldnen Freiheit vorpfeift. Manche sind so geschickt im Erzählen
von amüsanten Abenteuern, daß sie die Jungen zu wahrer Begeisterung hinreißen.
Jndtanergeschichten und Gerichtsverhandlungen wirken kräftig mit. So hat sich
eine förmliche Lehrlingschaft gebildet. Der Lehrling wird von seinem Meister zu
allem möglichen und unmöglichen gemißbraucht und selbstverständlich auch gemi߬
handelt. Fühlt er sich befähigt, auf eigne Faust durchzukommen, so entläuft er
seinem Tyrannen und sucht sich selbst einen Lehrling, an den er die empfangner
Prügel mit Zinsen weiterzahlt. Als eine Unterart können die vom Wanderfieber
befallnen Jungen bezeichnet werden, deren es ja auch bei uns gibt. Kehren sie
zurück, so werden sie gewöhnlich hart gezüchtigt; das verleidet ihnen dann, besonders
wenn es wiederholt geschehen ist, das Elternhaus so, daß sie auf der Walze bleiben.
Dem Verfasser ist ein Fall vorgekommen, wo der Junge, ein Sohn wohlhabender
Eltern, so oft er zurückkehrte, jedesmal liebevoll aufgenommen wurde. Das Wander-
sieber ging vorüber, und es erschien ihm später unbegreiflich, wie er so dumm habe
sein können. Gewinnendes Aussehen erleichtert dem kleinen Vagabunden sehr das
Fortkommen. In Denver lernte Flynt einen schönen Jungen kennen, der täglich
drei Dollar einnahm. Er stellte sich an Läden auf, wo Damen verkehrten, und
bettelte diese an.

Eine zweite Eigentümlichkeit Amerikas besteht darin, daß seine Vagabunden
ganz allgemein auf der Eisenbahn fahren, und zwar meist in den Güterwagen und
fast immer umsonst. Die Bahnbeamten dulden sie und helfen ihnen. Auf seiner
ersten Stromerfahrt, die acht Monate dauerte, hat Flynt, wenn er nicht aufschneidet,
über zwanzigtausend Meilen mit der Bahn zurückgelegt, und nur zehnmal ist Be¬
zahlung von ihm verlangt worden, die er in Waren: Tabak, Messern, Halstüchern
leistete; einmal mußte er mit dem Schaffner die Schuhe tauschen. Ein energischer
Bahndtrektor hat die Linien seiner Gesellschaft von dem Gesindel befreit, das
natürlich in den Güterwagen gelegentlich auch Diebstähle verübt, und Flynt auf
eine Inspektionsreise geschickt, die er als Tramp unternehmen mußte, um darüber
zu berichten, in welchem Maße die Reinigung durchgeführt sei. Flynt glaubt, daß
die Stromerei gewaltig abnehmen würde, wenn alle Eisenbahnen die blinden Passa¬
giere abschüttelten, denn diese seien schon so verwöhnt, daß ihnen lange Fußreisen
kein Vergnügen mehr machen würden. Jedenfalls würde der jetzt sehr lebhafte
Saisonverkehr zwischen den weit entfernten Gebieten des ungeheuern Landes, zum
Beispiel der Winteraufenthalt im Süden, der Wechsel zwischen Newyork und „Frisco"
aufhören, denn das alles würde dann unmöglich sein.

Was nun endlich den Verbrecher anlangt, so behauptet Flyut, die Gefängnis¬
beamten lernten ihn niemals wirklich kennen, und ebensowenig Gelehrte wie Lom-
broso, die ihn im Gefängnis studierten. Nur in der Freiheit sehe man sein wirk¬
liches leibliches und seelisches Gesicht. Geborne Verbrecher gebe es, aber sie seien
selten; auch die Gelegenheitsverbrecher und die Verbrecher aus Not seien nicht sehr
häufig. Die bei weitem zahlreichste Klasse sei die der Berufsverbrecher. Der Berufs¬
verbrecher sei in keinem Sinne ein minderwertiger Mensch, sondern ein Bursche
oder Mann von normaler leiblicher und geistiger Gesundheit und mehr als mittel¬
mäßiger Begabung. Der Lumpenproletarier bleibe in seinem Elend, das er nicht
als Elend empfinde, worin er sich im Gegenteil so wohl fühle, daß er um keinen
Preis den Anstandszwang der wohlhabenden Klassen dafür eintauschen möchte. Ver¬
brecher werde der begabte Proletarier, dem das Proletarterdasein nicht genüge,
und der keinen andern Weg sehe, aus ihm Hinauszugelangen. Stunde ihm ein
andrer Weg offen, so würde er diesen vorziehn. Er ist gewöhnlich ein kluger,
erfindungsreicher, energischer Mensch von starkem Körper und guter Gesundheit,
dem, wenn er in einem anständigen Anzüge stecke, kein Mensch den Verbrecher an¬
sehe; die von Lombroso angegebnen körperlichen Kennzeichen seien alle falsch. Den
„Verbrecherblick" eigne er sich erst im Gefängnis an, und der sei nicht ihm allein
eigen, denn alle, die mit ihm zu tun haben: Poltzetbeamte, Gefängnisbeamte, seien


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0340" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/297859"/>
            <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
            <p xml:id="ID_1585" prev="#ID_1584"> gleich dem Rattenfänger von Hcuneln, Jungen um sich versammelt und ihnen das<lb/>
Lied von der goldnen Freiheit vorpfeift. Manche sind so geschickt im Erzählen<lb/>
von amüsanten Abenteuern, daß sie die Jungen zu wahrer Begeisterung hinreißen.<lb/>
Jndtanergeschichten und Gerichtsverhandlungen wirken kräftig mit. So hat sich<lb/>
eine förmliche Lehrlingschaft gebildet. Der Lehrling wird von seinem Meister zu<lb/>
allem möglichen und unmöglichen gemißbraucht und selbstverständlich auch gemi߬<lb/>
handelt. Fühlt er sich befähigt, auf eigne Faust durchzukommen, so entläuft er<lb/>
seinem Tyrannen und sucht sich selbst einen Lehrling, an den er die empfangner<lb/>
Prügel mit Zinsen weiterzahlt. Als eine Unterart können die vom Wanderfieber<lb/>
befallnen Jungen bezeichnet werden, deren es ja auch bei uns gibt. Kehren sie<lb/>
zurück, so werden sie gewöhnlich hart gezüchtigt; das verleidet ihnen dann, besonders<lb/>
wenn es wiederholt geschehen ist, das Elternhaus so, daß sie auf der Walze bleiben.<lb/>
Dem Verfasser ist ein Fall vorgekommen, wo der Junge, ein Sohn wohlhabender<lb/>
Eltern, so oft er zurückkehrte, jedesmal liebevoll aufgenommen wurde. Das Wander-<lb/>
sieber ging vorüber, und es erschien ihm später unbegreiflich, wie er so dumm habe<lb/>
sein können. Gewinnendes Aussehen erleichtert dem kleinen Vagabunden sehr das<lb/>
Fortkommen. In Denver lernte Flynt einen schönen Jungen kennen, der täglich<lb/>
drei Dollar einnahm. Er stellte sich an Läden auf, wo Damen verkehrten, und<lb/>
bettelte diese an.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1586"> Eine zweite Eigentümlichkeit Amerikas besteht darin, daß seine Vagabunden<lb/>
ganz allgemein auf der Eisenbahn fahren, und zwar meist in den Güterwagen und<lb/>
fast immer umsonst. Die Bahnbeamten dulden sie und helfen ihnen. Auf seiner<lb/>
ersten Stromerfahrt, die acht Monate dauerte, hat Flynt, wenn er nicht aufschneidet,<lb/>
über zwanzigtausend Meilen mit der Bahn zurückgelegt, und nur zehnmal ist Be¬<lb/>
zahlung von ihm verlangt worden, die er in Waren: Tabak, Messern, Halstüchern<lb/>
leistete; einmal mußte er mit dem Schaffner die Schuhe tauschen. Ein energischer<lb/>
Bahndtrektor hat die Linien seiner Gesellschaft von dem Gesindel befreit, das<lb/>
natürlich in den Güterwagen gelegentlich auch Diebstähle verübt, und Flynt auf<lb/>
eine Inspektionsreise geschickt, die er als Tramp unternehmen mußte, um darüber<lb/>
zu berichten, in welchem Maße die Reinigung durchgeführt sei. Flynt glaubt, daß<lb/>
die Stromerei gewaltig abnehmen würde, wenn alle Eisenbahnen die blinden Passa¬<lb/>
giere abschüttelten, denn diese seien schon so verwöhnt, daß ihnen lange Fußreisen<lb/>
kein Vergnügen mehr machen würden. Jedenfalls würde der jetzt sehr lebhafte<lb/>
Saisonverkehr zwischen den weit entfernten Gebieten des ungeheuern Landes, zum<lb/>
Beispiel der Winteraufenthalt im Süden, der Wechsel zwischen Newyork und &#x201E;Frisco"<lb/>
aufhören, denn das alles würde dann unmöglich sein.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_1587" next="#ID_1588"> Was nun endlich den Verbrecher anlangt, so behauptet Flyut, die Gefängnis¬<lb/>
beamten lernten ihn niemals wirklich kennen, und ebensowenig Gelehrte wie Lom-<lb/>
broso, die ihn im Gefängnis studierten. Nur in der Freiheit sehe man sein wirk¬<lb/>
liches leibliches und seelisches Gesicht. Geborne Verbrecher gebe es, aber sie seien<lb/>
selten; auch die Gelegenheitsverbrecher und die Verbrecher aus Not seien nicht sehr<lb/>
häufig. Die bei weitem zahlreichste Klasse sei die der Berufsverbrecher. Der Berufs¬<lb/>
verbrecher sei in keinem Sinne ein minderwertiger Mensch, sondern ein Bursche<lb/>
oder Mann von normaler leiblicher und geistiger Gesundheit und mehr als mittel¬<lb/>
mäßiger Begabung. Der Lumpenproletarier bleibe in seinem Elend, das er nicht<lb/>
als Elend empfinde, worin er sich im Gegenteil so wohl fühle, daß er um keinen<lb/>
Preis den Anstandszwang der wohlhabenden Klassen dafür eintauschen möchte. Ver¬<lb/>
brecher werde der begabte Proletarier, dem das Proletarterdasein nicht genüge,<lb/>
und der keinen andern Weg sehe, aus ihm Hinauszugelangen. Stunde ihm ein<lb/>
andrer Weg offen, so würde er diesen vorziehn. Er ist gewöhnlich ein kluger,<lb/>
erfindungsreicher, energischer Mensch von starkem Körper und guter Gesundheit,<lb/>
dem, wenn er in einem anständigen Anzüge stecke, kein Mensch den Verbrecher an¬<lb/>
sehe; die von Lombroso angegebnen körperlichen Kennzeichen seien alle falsch. Den<lb/>
&#x201E;Verbrecherblick" eigne er sich erst im Gefängnis an, und der sei nicht ihm allein<lb/>
eigen, denn alle, die mit ihm zu tun haben: Poltzetbeamte, Gefängnisbeamte, seien</p><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0340] Maßgebliches und Unmaßgebliches gleich dem Rattenfänger von Hcuneln, Jungen um sich versammelt und ihnen das Lied von der goldnen Freiheit vorpfeift. Manche sind so geschickt im Erzählen von amüsanten Abenteuern, daß sie die Jungen zu wahrer Begeisterung hinreißen. Jndtanergeschichten und Gerichtsverhandlungen wirken kräftig mit. So hat sich eine förmliche Lehrlingschaft gebildet. Der Lehrling wird von seinem Meister zu allem möglichen und unmöglichen gemißbraucht und selbstverständlich auch gemi߬ handelt. Fühlt er sich befähigt, auf eigne Faust durchzukommen, so entläuft er seinem Tyrannen und sucht sich selbst einen Lehrling, an den er die empfangner Prügel mit Zinsen weiterzahlt. Als eine Unterart können die vom Wanderfieber befallnen Jungen bezeichnet werden, deren es ja auch bei uns gibt. Kehren sie zurück, so werden sie gewöhnlich hart gezüchtigt; das verleidet ihnen dann, besonders wenn es wiederholt geschehen ist, das Elternhaus so, daß sie auf der Walze bleiben. Dem Verfasser ist ein Fall vorgekommen, wo der Junge, ein Sohn wohlhabender Eltern, so oft er zurückkehrte, jedesmal liebevoll aufgenommen wurde. Das Wander- sieber ging vorüber, und es erschien ihm später unbegreiflich, wie er so dumm habe sein können. Gewinnendes Aussehen erleichtert dem kleinen Vagabunden sehr das Fortkommen. In Denver lernte Flynt einen schönen Jungen kennen, der täglich drei Dollar einnahm. Er stellte sich an Läden auf, wo Damen verkehrten, und bettelte diese an. Eine zweite Eigentümlichkeit Amerikas besteht darin, daß seine Vagabunden ganz allgemein auf der Eisenbahn fahren, und zwar meist in den Güterwagen und fast immer umsonst. Die Bahnbeamten dulden sie und helfen ihnen. Auf seiner ersten Stromerfahrt, die acht Monate dauerte, hat Flynt, wenn er nicht aufschneidet, über zwanzigtausend Meilen mit der Bahn zurückgelegt, und nur zehnmal ist Be¬ zahlung von ihm verlangt worden, die er in Waren: Tabak, Messern, Halstüchern leistete; einmal mußte er mit dem Schaffner die Schuhe tauschen. Ein energischer Bahndtrektor hat die Linien seiner Gesellschaft von dem Gesindel befreit, das natürlich in den Güterwagen gelegentlich auch Diebstähle verübt, und Flynt auf eine Inspektionsreise geschickt, die er als Tramp unternehmen mußte, um darüber zu berichten, in welchem Maße die Reinigung durchgeführt sei. Flynt glaubt, daß die Stromerei gewaltig abnehmen würde, wenn alle Eisenbahnen die blinden Passa¬ giere abschüttelten, denn diese seien schon so verwöhnt, daß ihnen lange Fußreisen kein Vergnügen mehr machen würden. Jedenfalls würde der jetzt sehr lebhafte Saisonverkehr zwischen den weit entfernten Gebieten des ungeheuern Landes, zum Beispiel der Winteraufenthalt im Süden, der Wechsel zwischen Newyork und „Frisco" aufhören, denn das alles würde dann unmöglich sein. Was nun endlich den Verbrecher anlangt, so behauptet Flyut, die Gefängnis¬ beamten lernten ihn niemals wirklich kennen, und ebensowenig Gelehrte wie Lom- broso, die ihn im Gefängnis studierten. Nur in der Freiheit sehe man sein wirk¬ liches leibliches und seelisches Gesicht. Geborne Verbrecher gebe es, aber sie seien selten; auch die Gelegenheitsverbrecher und die Verbrecher aus Not seien nicht sehr häufig. Die bei weitem zahlreichste Klasse sei die der Berufsverbrecher. Der Berufs¬ verbrecher sei in keinem Sinne ein minderwertiger Mensch, sondern ein Bursche oder Mann von normaler leiblicher und geistiger Gesundheit und mehr als mittel¬ mäßiger Begabung. Der Lumpenproletarier bleibe in seinem Elend, das er nicht als Elend empfinde, worin er sich im Gegenteil so wohl fühle, daß er um keinen Preis den Anstandszwang der wohlhabenden Klassen dafür eintauschen möchte. Ver¬ brecher werde der begabte Proletarier, dem das Proletarterdasein nicht genüge, und der keinen andern Weg sehe, aus ihm Hinauszugelangen. Stunde ihm ein andrer Weg offen, so würde er diesen vorziehn. Er ist gewöhnlich ein kluger, erfindungsreicher, energischer Mensch von starkem Körper und guter Gesundheit, dem, wenn er in einem anständigen Anzüge stecke, kein Mensch den Verbrecher an¬ sehe; die von Lombroso angegebnen körperlichen Kennzeichen seien alle falsch. Den „Verbrecherblick" eigne er sich erst im Gefängnis an, und der sei nicht ihm allein eigen, denn alle, die mit ihm zu tun haben: Poltzetbeamte, Gefängnisbeamte, seien

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/340
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_297518/340>, abgerufen am 27.09.2024.