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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Nietzsche noch einmal

Wenn man zu den vorhandnen Schwierigkeiten nicht noch neue schassen will;
die bisher erlangten Erfolge erlauben uns, von der Zukunft ebenfalls Günstiges
Th, Lenschau zu erhoffen.




Nietzsche noch einmal

origcs Jahr hat Frau Elisabeth Fo erster-Nietzsche (bei C. G.
Naumann in Leipzig) den zweiten (fortlaufend paginierten) Teil
der Lebensbeschreibung ihres Bruders herausgegeben, deren erster
Band schon 1896 erschienen ist. Der vorliegende bedeutend
stärkere Band (S. 347 bis 944) enthält in Briefen, Bruchstücken
von Entwürfen und Erläuterungen der Verfasserin wertvolle Ergänzungen des
bisher Bekannten, die zwar das Bild von Nietzsche, das ich in dem zweiten
und dem dritten Bande des Jahrgangs 1898 der Grenzboten entworfen habe,
in keinem wesentlichen Zuge ändern, aber doch manche Züge deutlicher zu
zeichnen in den Stand setzen. Fran Förster schildert ihren Bruder als einen
Märtyrer, einen Helden, einen Heiligen, als den geistigsten aller Menschen, als
einen Menschen von zartestem Wohlwollen, bezauberndster Liebenswürdigkeit
und solcher Lauterkeit, daß er an den Personen, die ihm nahten, nicht allein
den körperlichen, sondern auch den seelischen Schmutz mit seiner Nase wahrnahm.
(Auch von katholischen Heiligen erzählen die Legenden, daß sie die Sündhaftig¬
keit der Menschen ihrer Umgebung gerochen hätten.) Das alles glaube ich der
liebenden und begeisterten Prophetin Nietzsches aufs Wort, dagegen bleibe ich
dabei, daß er der epochemachende große Mann nicht ist, als den sie ihn ver¬
ehrt. Vielleicht war er die größte, umfangreichste, rascheste, produktivste und
feinste Intelligenz, die das deutsche Volk seit Goethe gehabt hat. Am wenigsten
wird man ihm die reizbarste und feinste Empfindung absprechen, und wenn
man die Masse dessen betrachtet, was er in sechzehn Jahren bei häufigen und
langandauerndeu körperlichen Leiden geschaffen hat, wird man auch an seinem
starken Willen nicht zweifeln. Aber zum epochemachenden großen Manne gehört,
daß das, was er schasst, auch wirkt, nicht bloß Geräusch macht. Die Jammer¬
lappen, die ihm zugejubelt haben, weil sie in einigen seiner Phrasen die Auf¬
forderung sahen, "sich auszuleben," hat er selbst auf das tiefste verachtet; die
Wirksamkeit an dem mit der Universität Basel verbundnen Gymnasium wurde
ihm durch seinen Gesundheitszustand unmöglich gemacht (was sehr schade war,
da ihm sein pädagogisches Genie zusammen mit seiner gewinnenden und impo¬
nierender Persönlichkeit glänzende Erfolge sicherte); am öffentlichen Leben nahm
er nicht teil; durch poetische Schöpfungen hat er, der sich für einen Dichter
hielt, nicht aufs Volk, auch uicht auf eiuen engen Kreis von Gebildeten ge¬
wirkt, und seine "Philosophie" ist umkehrbar. Fran Förster meint, diese Philo¬
sophie habe bei Lebzeiten ihres Bruders deswegen noch nicht gelehrt werden
können, weil das damalige Geschlecht für seine erhabnen Ideen noch nicht reif
gewesen sei. Aber in diesen Ideen ist nichts, was die Fassungskraft eines


Nietzsche noch einmal

Wenn man zu den vorhandnen Schwierigkeiten nicht noch neue schassen will;
die bisher erlangten Erfolge erlauben uns, von der Zukunft ebenfalls Günstiges
Th, Lenschau zu erhoffen.




Nietzsche noch einmal

origcs Jahr hat Frau Elisabeth Fo erster-Nietzsche (bei C. G.
Naumann in Leipzig) den zweiten (fortlaufend paginierten) Teil
der Lebensbeschreibung ihres Bruders herausgegeben, deren erster
Band schon 1896 erschienen ist. Der vorliegende bedeutend
stärkere Band (S. 347 bis 944) enthält in Briefen, Bruchstücken
von Entwürfen und Erläuterungen der Verfasserin wertvolle Ergänzungen des
bisher Bekannten, die zwar das Bild von Nietzsche, das ich in dem zweiten
und dem dritten Bande des Jahrgangs 1898 der Grenzboten entworfen habe,
in keinem wesentlichen Zuge ändern, aber doch manche Züge deutlicher zu
zeichnen in den Stand setzen. Fran Förster schildert ihren Bruder als einen
Märtyrer, einen Helden, einen Heiligen, als den geistigsten aller Menschen, als
einen Menschen von zartestem Wohlwollen, bezauberndster Liebenswürdigkeit
und solcher Lauterkeit, daß er an den Personen, die ihm nahten, nicht allein
den körperlichen, sondern auch den seelischen Schmutz mit seiner Nase wahrnahm.
(Auch von katholischen Heiligen erzählen die Legenden, daß sie die Sündhaftig¬
keit der Menschen ihrer Umgebung gerochen hätten.) Das alles glaube ich der
liebenden und begeisterten Prophetin Nietzsches aufs Wort, dagegen bleibe ich
dabei, daß er der epochemachende große Mann nicht ist, als den sie ihn ver¬
ehrt. Vielleicht war er die größte, umfangreichste, rascheste, produktivste und
feinste Intelligenz, die das deutsche Volk seit Goethe gehabt hat. Am wenigsten
wird man ihm die reizbarste und feinste Empfindung absprechen, und wenn
man die Masse dessen betrachtet, was er in sechzehn Jahren bei häufigen und
langandauerndeu körperlichen Leiden geschaffen hat, wird man auch an seinem
starken Willen nicht zweifeln. Aber zum epochemachenden großen Manne gehört,
daß das, was er schasst, auch wirkt, nicht bloß Geräusch macht. Die Jammer¬
lappen, die ihm zugejubelt haben, weil sie in einigen seiner Phrasen die Auf¬
forderung sahen, „sich auszuleben," hat er selbst auf das tiefste verachtet; die
Wirksamkeit an dem mit der Universität Basel verbundnen Gymnasium wurde
ihm durch seinen Gesundheitszustand unmöglich gemacht (was sehr schade war,
da ihm sein pädagogisches Genie zusammen mit seiner gewinnenden und impo¬
nierender Persönlichkeit glänzende Erfolge sicherte); am öffentlichen Leben nahm
er nicht teil; durch poetische Schöpfungen hat er, der sich für einen Dichter
hielt, nicht aufs Volk, auch uicht auf eiuen engen Kreis von Gebildeten ge¬
wirkt, und seine „Philosophie" ist umkehrbar. Fran Förster meint, diese Philo¬
sophie habe bei Lebzeiten ihres Bruders deswegen noch nicht gelehrt werden
können, weil das damalige Geschlecht für seine erhabnen Ideen noch nicht reif
gewesen sei. Aber in diesen Ideen ist nichts, was die Fassungskraft eines


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[0091] Nietzsche noch einmal Wenn man zu den vorhandnen Schwierigkeiten nicht noch neue schassen will; die bisher erlangten Erfolge erlauben uns, von der Zukunft ebenfalls Günstiges Th, Lenschau zu erhoffen. Nietzsche noch einmal origcs Jahr hat Frau Elisabeth Fo erster-Nietzsche (bei C. G. Naumann in Leipzig) den zweiten (fortlaufend paginierten) Teil der Lebensbeschreibung ihres Bruders herausgegeben, deren erster Band schon 1896 erschienen ist. Der vorliegende bedeutend stärkere Band (S. 347 bis 944) enthält in Briefen, Bruchstücken von Entwürfen und Erläuterungen der Verfasserin wertvolle Ergänzungen des bisher Bekannten, die zwar das Bild von Nietzsche, das ich in dem zweiten und dem dritten Bande des Jahrgangs 1898 der Grenzboten entworfen habe, in keinem wesentlichen Zuge ändern, aber doch manche Züge deutlicher zu zeichnen in den Stand setzen. Fran Förster schildert ihren Bruder als einen Märtyrer, einen Helden, einen Heiligen, als den geistigsten aller Menschen, als einen Menschen von zartestem Wohlwollen, bezauberndster Liebenswürdigkeit und solcher Lauterkeit, daß er an den Personen, die ihm nahten, nicht allein den körperlichen, sondern auch den seelischen Schmutz mit seiner Nase wahrnahm. (Auch von katholischen Heiligen erzählen die Legenden, daß sie die Sündhaftig¬ keit der Menschen ihrer Umgebung gerochen hätten.) Das alles glaube ich der liebenden und begeisterten Prophetin Nietzsches aufs Wort, dagegen bleibe ich dabei, daß er der epochemachende große Mann nicht ist, als den sie ihn ver¬ ehrt. Vielleicht war er die größte, umfangreichste, rascheste, produktivste und feinste Intelligenz, die das deutsche Volk seit Goethe gehabt hat. Am wenigsten wird man ihm die reizbarste und feinste Empfindung absprechen, und wenn man die Masse dessen betrachtet, was er in sechzehn Jahren bei häufigen und langandauerndeu körperlichen Leiden geschaffen hat, wird man auch an seinem starken Willen nicht zweifeln. Aber zum epochemachenden großen Manne gehört, daß das, was er schasst, auch wirkt, nicht bloß Geräusch macht. Die Jammer¬ lappen, die ihm zugejubelt haben, weil sie in einigen seiner Phrasen die Auf¬ forderung sahen, „sich auszuleben," hat er selbst auf das tiefste verachtet; die Wirksamkeit an dem mit der Universität Basel verbundnen Gymnasium wurde ihm durch seinen Gesundheitszustand unmöglich gemacht (was sehr schade war, da ihm sein pädagogisches Genie zusammen mit seiner gewinnenden und impo¬ nierender Persönlichkeit glänzende Erfolge sicherte); am öffentlichen Leben nahm er nicht teil; durch poetische Schöpfungen hat er, der sich für einen Dichter hielt, nicht aufs Volk, auch uicht auf eiuen engen Kreis von Gebildeten ge¬ wirkt, und seine „Philosophie" ist umkehrbar. Fran Förster meint, diese Philo¬ sophie habe bei Lebzeiten ihres Bruders deswegen noch nicht gelehrt werden können, weil das damalige Geschlecht für seine erhabnen Ideen noch nicht reif gewesen sei. Aber in diesen Ideen ist nichts, was die Fassungskraft eines

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/91>, abgerufen am 05.02.2025.