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Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr.

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Zur Reform des Strafprozesses

ist, desto humaner muß das Gerichtsverfahren werden. Mit einer Reform des
Strafverfahrens hätte somit eine Reform des Strafrichters Hand in Hand zu
gehn. An andrer Stelle") habe ich auf eine größere Vertiefung psychologischer
Vorbildung hingewiesen; damit ist es jedoch noch lange nicht genug; es wären
noch eine ganze Reihe andrer Maßnahmen geboten, die aber außerhalb des
Rahmens dieser Besprechung liegen. Das neueste sächsische Regulativ über die
Vorbildung der Richter scheint den richtigen Weg anzubahnen; wenigstens gibt
es einen wertvollen Fingerzeig nach dieser Richtung.


2. Laienrichter?

Der treffendste Beweis für den aufgestellten Satz, daß es sich heute weniger
"in eine Reform der Gesetze als um eine Reform ihrer Anwendung handle,
wird geliefert durch die Bewegung für eine stärkere Heranziehung des Laien¬
elements, die ans dem Gebiete des Strafrechts hervor schon in das des Zivil¬
rechts hinübergreife, und der von den an der Reichsgesetzgebung Beteiligten,
wenn auch widerstrebend und zögernd, immer mehr Boden überlassen wird.
Für den Juristen ist sie keine tröstliche Erscheinung, denn sie verkörpert den
Vorwurf, daß das Richtertum es nicht verstanden habe, seine Aufgabe zu er¬
füllen; jedenfalls aber ist sie eine auffallende zu einer Zeit, wo die Arbeits¬
teilung auch in die Wissenschaft und ihre letzten Ausläufer vorgedrungen ist,
und sich die Produktionsfähigkeit selbst dort diesem Zuge anzupassen scheint.
Sie wäre abnorm, wenn die Jurisprudenz nur eine Technik wäre, wie sie der
Dilettantismus eines H. S. Chamberlain auffaßt, und nicht vielmehr die Kunst,
das Leben und seine Wandlungen zu begreifen, sich dem allgemeinen Rechts¬
gefühl unterzuordnen und es doch zugleich in neue, freiere Bahnen zu lenken,
die Kunst, die es versteht, die starre Waffe des Gesetzes zu einem schmiegsamen
Rüstzeug für die wechselnden Formen der Lebensäußerungen eines Volkes zu
machen, unter der sich seine warme, aber empfindliche und leicht verwundbare
Kraft nicht beengt fühlt. Das lernt man natürlich weder in Hörsülen noch aus
Kompendien noch aus Sammlungen von Entscheidungen, und weil man dem
Juristen keine andern Erkenntnisquellen zutraut, sucht man ihm die Rechtsan¬
wendung aus den Händen zu winden und sie Leuten anzuvertrauen, die für
diese Aufgabe nichts als ihre gereifte Lebenserfahrung mitbringen. Aber das
ist auch sehr viel. Das Hereinziehn des Laien in einen ihm bisher fremden
Kreis neuer Gedanken hat selbstverständlich manche Nachteile zur Folge, auf
die von den Gegnern der Schwurgerichte schon übergenug hingewiesen worden
ist. Die Unkenntnis der Technik und der Grundbegriffe, mit denen operiert
werden muß, macht den Gang der Verhandlung schleppend und unsicher, gibt
deshalb unvorhergesehenen geringen Zwischenfällen eine entscheidende Bedeutung
und sichert im allgemeinen dem dunkeln Gefühl die Überlegenheit über den
kritischen Verstand.

Aber gerade diese Mißstände haben eine vorzügliche Kehrseite: die mög¬
lichen Zufälligkeiten verlangen eine sorgfältigere Vorbereitung der Anklage, das



^ ) Süddeutsche Monatshefte, 1905, Aprilheft. Juristentum und Philosophie.
Zur Reform des Strafprozesses

ist, desto humaner muß das Gerichtsverfahren werden. Mit einer Reform des
Strafverfahrens hätte somit eine Reform des Strafrichters Hand in Hand zu
gehn. An andrer Stelle") habe ich auf eine größere Vertiefung psychologischer
Vorbildung hingewiesen; damit ist es jedoch noch lange nicht genug; es wären
noch eine ganze Reihe andrer Maßnahmen geboten, die aber außerhalb des
Rahmens dieser Besprechung liegen. Das neueste sächsische Regulativ über die
Vorbildung der Richter scheint den richtigen Weg anzubahnen; wenigstens gibt
es einen wertvollen Fingerzeig nach dieser Richtung.


2. Laienrichter?

Der treffendste Beweis für den aufgestellten Satz, daß es sich heute weniger
»in eine Reform der Gesetze als um eine Reform ihrer Anwendung handle,
wird geliefert durch die Bewegung für eine stärkere Heranziehung des Laien¬
elements, die ans dem Gebiete des Strafrechts hervor schon in das des Zivil¬
rechts hinübergreife, und der von den an der Reichsgesetzgebung Beteiligten,
wenn auch widerstrebend und zögernd, immer mehr Boden überlassen wird.
Für den Juristen ist sie keine tröstliche Erscheinung, denn sie verkörpert den
Vorwurf, daß das Richtertum es nicht verstanden habe, seine Aufgabe zu er¬
füllen; jedenfalls aber ist sie eine auffallende zu einer Zeit, wo die Arbeits¬
teilung auch in die Wissenschaft und ihre letzten Ausläufer vorgedrungen ist,
und sich die Produktionsfähigkeit selbst dort diesem Zuge anzupassen scheint.
Sie wäre abnorm, wenn die Jurisprudenz nur eine Technik wäre, wie sie der
Dilettantismus eines H. S. Chamberlain auffaßt, und nicht vielmehr die Kunst,
das Leben und seine Wandlungen zu begreifen, sich dem allgemeinen Rechts¬
gefühl unterzuordnen und es doch zugleich in neue, freiere Bahnen zu lenken,
die Kunst, die es versteht, die starre Waffe des Gesetzes zu einem schmiegsamen
Rüstzeug für die wechselnden Formen der Lebensäußerungen eines Volkes zu
machen, unter der sich seine warme, aber empfindliche und leicht verwundbare
Kraft nicht beengt fühlt. Das lernt man natürlich weder in Hörsülen noch aus
Kompendien noch aus Sammlungen von Entscheidungen, und weil man dem
Juristen keine andern Erkenntnisquellen zutraut, sucht man ihm die Rechtsan¬
wendung aus den Händen zu winden und sie Leuten anzuvertrauen, die für
diese Aufgabe nichts als ihre gereifte Lebenserfahrung mitbringen. Aber das
ist auch sehr viel. Das Hereinziehn des Laien in einen ihm bisher fremden
Kreis neuer Gedanken hat selbstverständlich manche Nachteile zur Folge, auf
die von den Gegnern der Schwurgerichte schon übergenug hingewiesen worden
ist. Die Unkenntnis der Technik und der Grundbegriffe, mit denen operiert
werden muß, macht den Gang der Verhandlung schleppend und unsicher, gibt
deshalb unvorhergesehenen geringen Zwischenfällen eine entscheidende Bedeutung
und sichert im allgemeinen dem dunkeln Gefühl die Überlegenheit über den
kritischen Verstand.

Aber gerade diese Mißstände haben eine vorzügliche Kehrseite: die mög¬
lichen Zufälligkeiten verlangen eine sorgfältigere Vorbereitung der Anklage, das



^ ) Süddeutsche Monatshefte, 1905, Aprilheft. Juristentum und Philosophie.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 64, 1905, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341881_296764/144>, abgerufen am 05.02.2025.