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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Dom Strafmaß

die Art, wie einzelne liberale, geschweige sozialistische Blätter solche Fragen
erörtern, den Eindruck erwecken, als ob es sich bei den monarchischen Institutionen
nur noch un? geduldete Rudimente einer überwundnen Kulturperiode, nicht aber
um Ansprüche aus geltendem Recht handelte. Es ist jedem unbenommen, Rechts-
institute wie das der Ebenburt und überhaupt das Sonderprivatrecht des hohen
Adels für veraltet und ihr Bestehn für bedauerlich zu halten. Man mag auch
von dem oder jenem Standpunkt aus auf Änderung dieser Rechtsnormen auf
gesetzlichem Wege hinzuwirken suchen. Es ist ja theoretisch nicht ausgeschlossen,
daß sich im Laufe der Zeit das Ebenburtsrecht unter dem Druck irgendwelcher
Tatsachen oder Anschauungen mildert oder gar überhaupt verschwindet. Vor¬
läufig hat es freilich, wie oben bezüglich des Hauses Lippe schon gestreift wurde,
und wie man bei allen deutschen Fürstenhäusern beobachten kann, geradezu die
entgegengesetzte Tendenz. Steht doch sogar das den deutschen Standesherren,
das heißt den vormals reichsunmittelbaren und zugleich reichsständischen Häusern,
durch die deutsche Bundesakte von 1815 gewährleistete Recht der Ebenbürtigkeit
fiir die meisten dieser Familien auf dem Papier, da die regierenden Häuser es
tatsächlich vermeiden, sich mit ihnen zu verbinden, wozu sie offenbar niemand
zwingen kann. Man wird in? Laufe der Zeit vielleicht geradezu ein die Eben-
bnrt der meisten Standesherrlichen Familien durch langjährige, konstante und
gemeine Übung beseitigendes Gewohnheitsrecht feststellen können

Die bloße Möglichkeit, daß sich der so gekennzeichnete Zustand einmal
ändert, darf aber nicht dazu führen, daß man einfach, weil jene Normen zu
gewissen politischen Anschauungen schlecht passen, ihr Bestehn für die Gegenwart
Graf v. Se. leugnet. Damit leitet man die öffentliche Meinung irre.




Vom Strafmaß
(Schluß)

WM>is sich vor zwei Jahren der deutsche Juristentag mit der in
Aussicht genommnen Strafrechtsreform befassen sollte, entbrannte
unter den Fachleuten ein Streit über die Frage, ob es über¬
haupt möglich sei, eine wirkliche Strafrechtsreform zustande zu
I bringen, ohne daß sich der Gesetzgeber zu einem der großen
grundlegenden Gedanken bekennte, um die sich der sogenannte Schulenstreit
dreht. Zwei große Strömungen stehn sich bekanntlich in der Strafrechts¬
wissenschaft scharf gegenüber, die ihren Ausgangspunkt und prägnantesten
Ausdruck in der Frage nach Grund und Zweck der Strafe haben. Die eine
Gruppe, die klassische Schule, sieht in der gerechten Vergeltung das kriminal¬
politische Prinzip, in der Strafe eine abstrakte Notwendigkeit, die sittlich not¬
wendige Ergänzung der Straftat, die selbstverständliche Vergeltung des Ver¬
brechens; man nennt sie daher auch die abstrakte Schule und bezeichnet ihre


Grenzboten I V 1904 11
Dom Strafmaß

die Art, wie einzelne liberale, geschweige sozialistische Blätter solche Fragen
erörtern, den Eindruck erwecken, als ob es sich bei den monarchischen Institutionen
nur noch un? geduldete Rudimente einer überwundnen Kulturperiode, nicht aber
um Ansprüche aus geltendem Recht handelte. Es ist jedem unbenommen, Rechts-
institute wie das der Ebenburt und überhaupt das Sonderprivatrecht des hohen
Adels für veraltet und ihr Bestehn für bedauerlich zu halten. Man mag auch
von dem oder jenem Standpunkt aus auf Änderung dieser Rechtsnormen auf
gesetzlichem Wege hinzuwirken suchen. Es ist ja theoretisch nicht ausgeschlossen,
daß sich im Laufe der Zeit das Ebenburtsrecht unter dem Druck irgendwelcher
Tatsachen oder Anschauungen mildert oder gar überhaupt verschwindet. Vor¬
läufig hat es freilich, wie oben bezüglich des Hauses Lippe schon gestreift wurde,
und wie man bei allen deutschen Fürstenhäusern beobachten kann, geradezu die
entgegengesetzte Tendenz. Steht doch sogar das den deutschen Standesherren,
das heißt den vormals reichsunmittelbaren und zugleich reichsständischen Häusern,
durch die deutsche Bundesakte von 1815 gewährleistete Recht der Ebenbürtigkeit
fiir die meisten dieser Familien auf dem Papier, da die regierenden Häuser es
tatsächlich vermeiden, sich mit ihnen zu verbinden, wozu sie offenbar niemand
zwingen kann. Man wird in? Laufe der Zeit vielleicht geradezu ein die Eben-
bnrt der meisten Standesherrlichen Familien durch langjährige, konstante und
gemeine Übung beseitigendes Gewohnheitsrecht feststellen können

Die bloße Möglichkeit, daß sich der so gekennzeichnete Zustand einmal
ändert, darf aber nicht dazu führen, daß man einfach, weil jene Normen zu
gewissen politischen Anschauungen schlecht passen, ihr Bestehn für die Gegenwart
Graf v. Se. leugnet. Damit leitet man die öffentliche Meinung irre.




Vom Strafmaß
(Schluß)

WM>is sich vor zwei Jahren der deutsche Juristentag mit der in
Aussicht genommnen Strafrechtsreform befassen sollte, entbrannte
unter den Fachleuten ein Streit über die Frage, ob es über¬
haupt möglich sei, eine wirkliche Strafrechtsreform zustande zu
I bringen, ohne daß sich der Gesetzgeber zu einem der großen
grundlegenden Gedanken bekennte, um die sich der sogenannte Schulenstreit
dreht. Zwei große Strömungen stehn sich bekanntlich in der Strafrechts¬
wissenschaft scharf gegenüber, die ihren Ausgangspunkt und prägnantesten
Ausdruck in der Frage nach Grund und Zweck der Strafe haben. Die eine
Gruppe, die klassische Schule, sieht in der gerechten Vergeltung das kriminal¬
politische Prinzip, in der Strafe eine abstrakte Notwendigkeit, die sittlich not¬
wendige Ergänzung der Straftat, die selbstverständliche Vergeltung des Ver¬
brechens; man nennt sie daher auch die abstrakte Schule und bezeichnet ihre


Grenzboten I V 1904 11
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[0083] Dom Strafmaß die Art, wie einzelne liberale, geschweige sozialistische Blätter solche Fragen erörtern, den Eindruck erwecken, als ob es sich bei den monarchischen Institutionen nur noch un? geduldete Rudimente einer überwundnen Kulturperiode, nicht aber um Ansprüche aus geltendem Recht handelte. Es ist jedem unbenommen, Rechts- institute wie das der Ebenburt und überhaupt das Sonderprivatrecht des hohen Adels für veraltet und ihr Bestehn für bedauerlich zu halten. Man mag auch von dem oder jenem Standpunkt aus auf Änderung dieser Rechtsnormen auf gesetzlichem Wege hinzuwirken suchen. Es ist ja theoretisch nicht ausgeschlossen, daß sich im Laufe der Zeit das Ebenburtsrecht unter dem Druck irgendwelcher Tatsachen oder Anschauungen mildert oder gar überhaupt verschwindet. Vor¬ läufig hat es freilich, wie oben bezüglich des Hauses Lippe schon gestreift wurde, und wie man bei allen deutschen Fürstenhäusern beobachten kann, geradezu die entgegengesetzte Tendenz. Steht doch sogar das den deutschen Standesherren, das heißt den vormals reichsunmittelbaren und zugleich reichsständischen Häusern, durch die deutsche Bundesakte von 1815 gewährleistete Recht der Ebenbürtigkeit fiir die meisten dieser Familien auf dem Papier, da die regierenden Häuser es tatsächlich vermeiden, sich mit ihnen zu verbinden, wozu sie offenbar niemand zwingen kann. Man wird in? Laufe der Zeit vielleicht geradezu ein die Eben- bnrt der meisten Standesherrlichen Familien durch langjährige, konstante und gemeine Übung beseitigendes Gewohnheitsrecht feststellen können Die bloße Möglichkeit, daß sich der so gekennzeichnete Zustand einmal ändert, darf aber nicht dazu führen, daß man einfach, weil jene Normen zu gewissen politischen Anschauungen schlecht passen, ihr Bestehn für die Gegenwart Graf v. Se. leugnet. Damit leitet man die öffentliche Meinung irre. Vom Strafmaß (Schluß) WM>is sich vor zwei Jahren der deutsche Juristentag mit der in Aussicht genommnen Strafrechtsreform befassen sollte, entbrannte unter den Fachleuten ein Streit über die Frage, ob es über¬ haupt möglich sei, eine wirkliche Strafrechtsreform zustande zu I bringen, ohne daß sich der Gesetzgeber zu einem der großen grundlegenden Gedanken bekennte, um die sich der sogenannte Schulenstreit dreht. Zwei große Strömungen stehn sich bekanntlich in der Strafrechts¬ wissenschaft scharf gegenüber, die ihren Ausgangspunkt und prägnantesten Ausdruck in der Frage nach Grund und Zweck der Strafe haben. Die eine Gruppe, die klassische Schule, sieht in der gerechten Vergeltung das kriminal¬ politische Prinzip, in der Strafe eine abstrakte Notwendigkeit, die sittlich not¬ wendige Ergänzung der Straftat, die selbstverständliche Vergeltung des Ver¬ brechens; man nennt sie daher auch die abstrakte Schule und bezeichnet ihre Grenzboten I V 1904 11

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/83>, abgerufen am 23.07.2024.