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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Aus rätischen Alpenstraßen
Gelo Raemmel von (Schluß)

is am nächsten Morgen um sieben Uhr die Post nach Chiavenna
abfuhr, genügten für die fünf Reisenden ein Zweispänner und
ein Einspänner. Am Nachmittag und Abend vorher hatten sich
Gewitterwolken, die finster über dein Rhcintale standen, in starkem
Regen entladen; jetzt leuchtete wieder ein dunkelblauer Himmel,
von dem sich die Umrisse der Berge scharf abhoben, und dichter, silbergrauer
Tau bedeckte die Wiesen. Die Splügenstraße überschreitet den Rhein und
steigt durch schönen Nadelwald in Windungen aufwärts; den Hintergrund schließt
über dem Dorfe der grane zerrissene Kalkberg, im Westen heben sich immer
höher die blaudunkeln Massen und die weißen Gletscher des Rheinwaldhorns
heraus, von denen der Hinterrhein herabkommt. Sobald die Straße durch eine
kurze Galerie in das Heusuerbachtal eintritt, ändert sich die Szenerie. In
tiefer Schlucht braust unten der Bach, an den steilen Hohen rechts und
links Hort allmählich der Wald auf, nur zerzauste Baumgruppen oder einzelne
Fichten haften an den Felshängen. Zwischen dem schwarzgrauen Geröll, das
sie bedeckt, sickern regellos in schmalen Rinnen die Wildbäche hernieder, und
Schneeflecke zeigen sich bis dicht an die Straße. Die Luft wird frischer und
schärfer. Hier und da ist auch der alte schmale Saumpfad auf längere Strecken
sichtbar. Wo sich das Tal zwischen kahlen Bergen schließt, klimmt die Post-
straße wieder in zahllosen kurzen, hochaufgemcmerten Serpentinen nach dem
letzten einsamen Berghaus (2035 Meter) hinauf, zwischen wüstem Geröll; aber
auch in dieser Höhe gedeiht unter den heißen Strahlen der südlichen Sonne
eine reiche Vegetation, große Disteln, Eisenhut, Glockenblumen in tiefen satten
Farben. In 2117 Meter Höhe ist das Joch des Passes, it 6<zii<z
8x1uAg., erreicht, eine schmale Hochfläche; ein Häuschen, das aus dem Gestein
seiner Umgebung aufgeführt und von ihr kaum zu unterscheiden ist, bezeichnet
mit seinem Wappenschild die Grenze Italiens, die hier mit der Sprachgrenze
zusammenfällt. Kaum hundert Meter tiefer, in der Entfernung von einer halben
Stunde, zeigt sich in einem öden Hochtale, das mit Geröll oder sumpfigen
Wiesen bedeckt ist, inmitten eines Ringes zackiger, kahler, geröllbedeckter, mit
Schneeflecken übersäter Berghäupter die italienische Dogana, eine ansehnliche
Häusergrnppe, die auch einen ehemals weit größern Verkehr verrät, links eine
Reihe von Gasthäusern mit der vasa al riooveio (Zufluchtshaus), der Zoll¬
station und der Post, gegenüber ein großes Steinhaus mit der Wohnung des
Kaplcms und weiterhin eine Anzahl Wohnhäuser. Auf dem Platze dazwischen
trieb schon das ganze Italien sein Wesen; einige fahrende Händler hatten ihren


Grenzboten IV 1904 99


Aus rätischen Alpenstraßen
Gelo Raemmel von (Schluß)

is am nächsten Morgen um sieben Uhr die Post nach Chiavenna
abfuhr, genügten für die fünf Reisenden ein Zweispänner und
ein Einspänner. Am Nachmittag und Abend vorher hatten sich
Gewitterwolken, die finster über dein Rhcintale standen, in starkem
Regen entladen; jetzt leuchtete wieder ein dunkelblauer Himmel,
von dem sich die Umrisse der Berge scharf abhoben, und dichter, silbergrauer
Tau bedeckte die Wiesen. Die Splügenstraße überschreitet den Rhein und
steigt durch schönen Nadelwald in Windungen aufwärts; den Hintergrund schließt
über dem Dorfe der grane zerrissene Kalkberg, im Westen heben sich immer
höher die blaudunkeln Massen und die weißen Gletscher des Rheinwaldhorns
heraus, von denen der Hinterrhein herabkommt. Sobald die Straße durch eine
kurze Galerie in das Heusuerbachtal eintritt, ändert sich die Szenerie. In
tiefer Schlucht braust unten der Bach, an den steilen Hohen rechts und
links Hort allmählich der Wald auf, nur zerzauste Baumgruppen oder einzelne
Fichten haften an den Felshängen. Zwischen dem schwarzgrauen Geröll, das
sie bedeckt, sickern regellos in schmalen Rinnen die Wildbäche hernieder, und
Schneeflecke zeigen sich bis dicht an die Straße. Die Luft wird frischer und
schärfer. Hier und da ist auch der alte schmale Saumpfad auf längere Strecken
sichtbar. Wo sich das Tal zwischen kahlen Bergen schließt, klimmt die Post-
straße wieder in zahllosen kurzen, hochaufgemcmerten Serpentinen nach dem
letzten einsamen Berghaus (2035 Meter) hinauf, zwischen wüstem Geröll; aber
auch in dieser Höhe gedeiht unter den heißen Strahlen der südlichen Sonne
eine reiche Vegetation, große Disteln, Eisenhut, Glockenblumen in tiefen satten
Farben. In 2117 Meter Höhe ist das Joch des Passes, it 6<zii<z
8x1uAg., erreicht, eine schmale Hochfläche; ein Häuschen, das aus dem Gestein
seiner Umgebung aufgeführt und von ihr kaum zu unterscheiden ist, bezeichnet
mit seinem Wappenschild die Grenze Italiens, die hier mit der Sprachgrenze
zusammenfällt. Kaum hundert Meter tiefer, in der Entfernung von einer halben
Stunde, zeigt sich in einem öden Hochtale, das mit Geröll oder sumpfigen
Wiesen bedeckt ist, inmitten eines Ringes zackiger, kahler, geröllbedeckter, mit
Schneeflecken übersäter Berghäupter die italienische Dogana, eine ansehnliche
Häusergrnppe, die auch einen ehemals weit größern Verkehr verrät, links eine
Reihe von Gasthäusern mit der vasa al riooveio (Zufluchtshaus), der Zoll¬
station und der Post, gegenüber ein großes Steinhaus mit der Wohnung des
Kaplcms und weiterhin eine Anzahl Wohnhäuser. Auf dem Platze dazwischen
trieb schon das ganze Italien sein Wesen; einige fahrende Händler hatten ihren


Grenzboten IV 1904 99
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[0737] [Abbildung] Aus rätischen Alpenstraßen Gelo Raemmel von (Schluß) is am nächsten Morgen um sieben Uhr die Post nach Chiavenna abfuhr, genügten für die fünf Reisenden ein Zweispänner und ein Einspänner. Am Nachmittag und Abend vorher hatten sich Gewitterwolken, die finster über dein Rhcintale standen, in starkem Regen entladen; jetzt leuchtete wieder ein dunkelblauer Himmel, von dem sich die Umrisse der Berge scharf abhoben, und dichter, silbergrauer Tau bedeckte die Wiesen. Die Splügenstraße überschreitet den Rhein und steigt durch schönen Nadelwald in Windungen aufwärts; den Hintergrund schließt über dem Dorfe der grane zerrissene Kalkberg, im Westen heben sich immer höher die blaudunkeln Massen und die weißen Gletscher des Rheinwaldhorns heraus, von denen der Hinterrhein herabkommt. Sobald die Straße durch eine kurze Galerie in das Heusuerbachtal eintritt, ändert sich die Szenerie. In tiefer Schlucht braust unten der Bach, an den steilen Hohen rechts und links Hort allmählich der Wald auf, nur zerzauste Baumgruppen oder einzelne Fichten haften an den Felshängen. Zwischen dem schwarzgrauen Geröll, das sie bedeckt, sickern regellos in schmalen Rinnen die Wildbäche hernieder, und Schneeflecke zeigen sich bis dicht an die Straße. Die Luft wird frischer und schärfer. Hier und da ist auch der alte schmale Saumpfad auf längere Strecken sichtbar. Wo sich das Tal zwischen kahlen Bergen schließt, klimmt die Post- straße wieder in zahllosen kurzen, hochaufgemcmerten Serpentinen nach dem letzten einsamen Berghaus (2035 Meter) hinauf, zwischen wüstem Geröll; aber auch in dieser Höhe gedeiht unter den heißen Strahlen der südlichen Sonne eine reiche Vegetation, große Disteln, Eisenhut, Glockenblumen in tiefen satten Farben. In 2117 Meter Höhe ist das Joch des Passes, it 6<zii<z 8x1uAg., erreicht, eine schmale Hochfläche; ein Häuschen, das aus dem Gestein seiner Umgebung aufgeführt und von ihr kaum zu unterscheiden ist, bezeichnet mit seinem Wappenschild die Grenze Italiens, die hier mit der Sprachgrenze zusammenfällt. Kaum hundert Meter tiefer, in der Entfernung von einer halben Stunde, zeigt sich in einem öden Hochtale, das mit Geröll oder sumpfigen Wiesen bedeckt ist, inmitten eines Ringes zackiger, kahler, geröllbedeckter, mit Schneeflecken übersäter Berghäupter die italienische Dogana, eine ansehnliche Häusergrnppe, die auch einen ehemals weit größern Verkehr verrät, links eine Reihe von Gasthäusern mit der vasa al riooveio (Zufluchtshaus), der Zoll¬ station und der Post, gegenüber ein großes Steinhaus mit der Wohnung des Kaplcms und weiterhin eine Anzahl Wohnhäuser. Auf dem Platze dazwischen trieb schon das ganze Italien sein Wesen; einige fahrende Händler hatten ihren Grenzboten IV 1904 99

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/737>, abgerufen am 26.06.2024.