Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.Auf rätischen Alpenstraßen bunten Kram um allerhand Stoffen unter freiem Himmel ausgebreitet, Zoll¬ Das ist also die "Schlüsselburg," das Clavenna der Römer, das Cläven Auf rätischen Alpenstraßen bunten Kram um allerhand Stoffen unter freiem Himmel ausgebreitet, Zoll¬ Das ist also die „Schlüsselburg," das Clavenna der Römer, das Cläven <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0738" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/295957"/> <fw type="header" place="top"> Auf rätischen Alpenstraßen</fw><lb/> <p xml:id="ID_3713" prev="#ID_3712"> bunten Kram um allerhand Stoffen unter freiem Himmel ausgebreitet, Zoll¬<lb/> beamte und andre Leute standen schwatzend und lachend im Kreise umher, im<lb/> Gastzimmer gab es die landesüblichen Strohstühle, das hartrindige Weißbrot,<lb/> den OiM iiLro und den Vivo roh8o gerade so gut wie hundert Meilen weiter<lb/> südlich; da ist zwischen diesem öden Alpenhochtal und dem vrangenumkränzten<lb/> Palermo am blauen Tqrrhenischen Meere kein Unterschied. Auf den Wiesen<lb/> weideten mit anderm Vieh zwischen den Heuern sogar dieselben hochbeinigen,<lb/> magern schwarzen Schweine wie im Sabinergebirge. Aber die zahlreichen großen<lb/> Znfluchtshäuser an der Straße und die Steinhütten der vsA'b.ihl-1, wie die<lb/> Italiener die „Weger," die Straßenarbeiter nennen, verraten zur Genüge, daß<lb/> hier die heitre Sommerzeit mit dem azurblauen Himmel eine Ausnahme ist,<lb/> und daß hoher Schnee und wütende Stürme hier oben den Reisenden noch<lb/> ebenso Gefahren bringen wie in den Jahrhunderten des Saumverkehrs. Der<lb/> alte Saumweg geht hier rechts ab nach der tiefen Cardinelloschlucht, die neue<lb/> Straße klimmt in zahllosen kunstvollen Windungen auf hohen Steindämmen die<lb/> Felswand hinunter; tief unten liegt im Wiesentale Jsvlato (1277 Meter), das<lb/> seinen Namen wahrhaftig verdient; dort sieht man auch den alten lawinenge¬<lb/> fährlichen Saumweg ziehn, der im Dezember 1800 den Franzosen schwere Ver¬<lb/> luste kostete und 1834 durch Hochwasser zerstört wurde. Auf einem Vorsprunge<lb/> der senkrechten Felswand schwebt das Dörfchen Pianazzo (1400 Meter); hier<lb/> stürzt der Madesimo in einem prachtvollen rauschenden, donnernden Falle zu<lb/> weißem Schaum aufgelöst zweihundert Meter senkrecht hinunter. Hier beginnt<lb/> auch die lange Reihe von (zehn) Galerien, deren längste fünfhundert Meter<lb/> mißt, denn hier fahren auf dieser ganzen Strecke im Winter und bei der Schnee¬<lb/> schmelze die Lawinen zu Tale. Nun geht es rasch hinunter ins Tal des Liro,<lb/> die Abhänge bedecken sich wieder mit Baumwuchs, und der Badeort Ccnnpo<lb/> Doleino, wo die Pferde gewechselt werden, liegt auf einer Seehöhe von<lb/> 1104 Metern doch schon inmitten einer reichen Vegetation. Immer heißer<lb/> brennt die südliche Sonne, und hinter Lirano beginnen geradezu Wälder von<lb/> prachtvollen Edelkastanien, deren schöne eichenartige Stämme und dunkelgrüne<lb/> Kronen dichte Büschel der stachlichten Früchte an allen Ästen tragen. In langen<lb/> Kehren, in scharfem Trabe geht es ununterbrochen bergab, oft über breite, fast<lb/> wasserleere Geröllbccken von Torrenten, durch zahllose weißrötliche Gueistrümmer,<lb/> durch weiße Ortschaften wie Galivaggio und San Giacomo (den Hauptort des<lb/> ganzen Tales), deren schlanke Kirchtürme weithin die Gegend beherrschen.<lb/> Endlich wird in grünem, fruchtbarem Talkessel zwischen mächtigen Berghäuptern<lb/> Chiavenna sichtbar; an Weinbergen und Kastanienhainen vorbei rollt der Wagen<lb/> bergab und führt dann langsam durch die engen, holprig gepflasterten Gassen<lb/> einer ganz und gar italienischen Kleinstadt. Binnen 3^ Stunden, den<lb/> Aufenthalt eingeschlossen, sind wir von der Paßhöhe bis nach Chiavenna<lb/> 1800 Meter hinuntcrgestiegcn, und in brennender, blendender Mittagssonne<lb/> liegen Stadt und Tal.</p><lb/> <p xml:id="ID_3714" next="#ID_3715"> Das ist also die „Schlüsselburg," das Clavenna der Römer, das Cläven<lb/> der mittelalterlichen Dentschen, in der Tat der Schlüssel zu zwei der wichtigsten<lb/> Alpenstraßen, zum Splügen und zum Septimer-Julier, die ostwärts im Tale</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0738]
Auf rätischen Alpenstraßen
bunten Kram um allerhand Stoffen unter freiem Himmel ausgebreitet, Zoll¬
beamte und andre Leute standen schwatzend und lachend im Kreise umher, im
Gastzimmer gab es die landesüblichen Strohstühle, das hartrindige Weißbrot,
den OiM iiLro und den Vivo roh8o gerade so gut wie hundert Meilen weiter
südlich; da ist zwischen diesem öden Alpenhochtal und dem vrangenumkränzten
Palermo am blauen Tqrrhenischen Meere kein Unterschied. Auf den Wiesen
weideten mit anderm Vieh zwischen den Heuern sogar dieselben hochbeinigen,
magern schwarzen Schweine wie im Sabinergebirge. Aber die zahlreichen großen
Znfluchtshäuser an der Straße und die Steinhütten der vsA'b.ihl-1, wie die
Italiener die „Weger," die Straßenarbeiter nennen, verraten zur Genüge, daß
hier die heitre Sommerzeit mit dem azurblauen Himmel eine Ausnahme ist,
und daß hoher Schnee und wütende Stürme hier oben den Reisenden noch
ebenso Gefahren bringen wie in den Jahrhunderten des Saumverkehrs. Der
alte Saumweg geht hier rechts ab nach der tiefen Cardinelloschlucht, die neue
Straße klimmt in zahllosen kunstvollen Windungen auf hohen Steindämmen die
Felswand hinunter; tief unten liegt im Wiesentale Jsvlato (1277 Meter), das
seinen Namen wahrhaftig verdient; dort sieht man auch den alten lawinenge¬
fährlichen Saumweg ziehn, der im Dezember 1800 den Franzosen schwere Ver¬
luste kostete und 1834 durch Hochwasser zerstört wurde. Auf einem Vorsprunge
der senkrechten Felswand schwebt das Dörfchen Pianazzo (1400 Meter); hier
stürzt der Madesimo in einem prachtvollen rauschenden, donnernden Falle zu
weißem Schaum aufgelöst zweihundert Meter senkrecht hinunter. Hier beginnt
auch die lange Reihe von (zehn) Galerien, deren längste fünfhundert Meter
mißt, denn hier fahren auf dieser ganzen Strecke im Winter und bei der Schnee¬
schmelze die Lawinen zu Tale. Nun geht es rasch hinunter ins Tal des Liro,
die Abhänge bedecken sich wieder mit Baumwuchs, und der Badeort Ccnnpo
Doleino, wo die Pferde gewechselt werden, liegt auf einer Seehöhe von
1104 Metern doch schon inmitten einer reichen Vegetation. Immer heißer
brennt die südliche Sonne, und hinter Lirano beginnen geradezu Wälder von
prachtvollen Edelkastanien, deren schöne eichenartige Stämme und dunkelgrüne
Kronen dichte Büschel der stachlichten Früchte an allen Ästen tragen. In langen
Kehren, in scharfem Trabe geht es ununterbrochen bergab, oft über breite, fast
wasserleere Geröllbccken von Torrenten, durch zahllose weißrötliche Gueistrümmer,
durch weiße Ortschaften wie Galivaggio und San Giacomo (den Hauptort des
ganzen Tales), deren schlanke Kirchtürme weithin die Gegend beherrschen.
Endlich wird in grünem, fruchtbarem Talkessel zwischen mächtigen Berghäuptern
Chiavenna sichtbar; an Weinbergen und Kastanienhainen vorbei rollt der Wagen
bergab und führt dann langsam durch die engen, holprig gepflasterten Gassen
einer ganz und gar italienischen Kleinstadt. Binnen 3^ Stunden, den
Aufenthalt eingeschlossen, sind wir von der Paßhöhe bis nach Chiavenna
1800 Meter hinuntcrgestiegcn, und in brennender, blendender Mittagssonne
liegen Stadt und Tal.
Das ist also die „Schlüsselburg," das Clavenna der Römer, das Cläven
der mittelalterlichen Dentschen, in der Tat der Schlüssel zu zwei der wichtigsten
Alpenstraßen, zum Splügen und zum Septimer-Julier, die ostwärts im Tale
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