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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Uonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

durch Vereinigung und Trennung die verschiedensten Wesen aufzubauen, nicht
ein Ergebnis des Naturlaufs, sondern die vom Schöpfer gesetzte Bedingung seines
Anfangs ist, darf man sie als etwas außerhalb der natürlichen Entwicklung und
vor ihr liegendes ein Wunder nennen. Und mag man sich die psychophysischen
Bedingungen der Sprache, die mit denen der Menschenveruunft zusammenfallen,
als in die ersten Daseinsbedingungen der Welt eingeschlossen oder ihnen auf
einer gewissen Stufe der allgemeinen Entwicklung zugegeben denken, jedenfalls
erscheinen auch sie als ein Wunder. Die wichtigste der Bedingungen, die die
Sprache möglich macheu, ist die Zuordnung von Sprachwerkzeugen zu einem
für die Entwicklung von Vernunft tauglichen Gehirn. Hätte der Schöpfer die
Pferde den Menschenverstand entwickeln lassen, den dem klugen Hans seine Ver¬
ehrer zuschreiben, so würde er sie auch Organe haben entwickeln lassen, die sich
L. I- zur Gedankenmitteilung besser eignen als Pferdehufe.




Konstantinopolitanische Reiseerlebnisse
Friedrich Seiler von
5treifzüge in der weitern Umgegend

er längere Zeit das Studium einer fremden Großstadt in Staub,
Rauch und Hitze betrieben hat, dessen Nerven sehnen sich nach Ab¬
spannung. Eine solche gewährt dem Stambulfahrcr fast mehr noch
als der Bosporus eine Tagestour nach den reizend an der asiatischen
Küste liegenden Prinzeninseln. Es war an einem herrlichen Mcit-
morgen -- die abendländische Christenheit feierte gerade Pfingsten,
das liebliche Fest --, als wir auf der "neuen Brücke" an der Abfahrtstelle des
Dampfers erschienen. Viel zu früh. Man kommt in der Türkei überhaupt nie
zur richtigen Zeit, wenigstens überall da, wo die türkische Zeit gilt. Das ist mich
so eine unmoderne und unmotivierte Schikane für den Fremden, die mit Eigensinn
gerade bei den Dampfschiffahrplänen festgehalten wird. Der türkische Tag läuft
von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und hat vierundzwanzig Stunden, mögen
die Tage nun kurz oder lang sein. Folglich sind die türkischen Stunden jeden Tag
von verschiedner Länge, und die türkische Uhr müßte jeden Tag anders gestellt
werden, wird es aber nnr jeden fünften. Der Fremde hat nun die angenehme
Aufgabe, die türkischen Stunden in seiue fränkische Zeit umzurechnen, wils nie
gelingt. Wir mußten die Verlornen anderthalb Stunden, so gut es ging, durch
Herumbummeln hinbringen. Ich sah mir die zehn Minuten von der "neuen Brücke"
entfernte "alte" an. Sie ist jetzt antiquiert, schäbig, baufällig und viel weniger
benutzt als ihre jüngere Schwester. Als ich an der Abfahrtstelle wieder mit
meinem Genossen zusammentraf, hatte sich das Bild stark geändert. Vorhin war es
einsam gewesen, jetzt flutete um den engen Schalterranm auf der feuchten Landnngs-
poute die Menge der Sonntagsansflügler, meistens Griechen und Levantiner. Ein
kleiner schwarzer Herr nahm sich unser freundlichst an, löste im heißen Gedränge
unsre Billetts und geleitete uns auf das richtige Schiff. Er sprach mit uus ein
gutes Französisch ohne die den Griechen eigne Lispelei und stellte sich uns als
Monsieur Jaaillier, königlich preußischen Hofphotographe", vor. Er ist in der Tat


Uonstantinopolitanische Reiseerlebnisse

durch Vereinigung und Trennung die verschiedensten Wesen aufzubauen, nicht
ein Ergebnis des Naturlaufs, sondern die vom Schöpfer gesetzte Bedingung seines
Anfangs ist, darf man sie als etwas außerhalb der natürlichen Entwicklung und
vor ihr liegendes ein Wunder nennen. Und mag man sich die psychophysischen
Bedingungen der Sprache, die mit denen der Menschenveruunft zusammenfallen,
als in die ersten Daseinsbedingungen der Welt eingeschlossen oder ihnen auf
einer gewissen Stufe der allgemeinen Entwicklung zugegeben denken, jedenfalls
erscheinen auch sie als ein Wunder. Die wichtigste der Bedingungen, die die
Sprache möglich macheu, ist die Zuordnung von Sprachwerkzeugen zu einem
für die Entwicklung von Vernunft tauglichen Gehirn. Hätte der Schöpfer die
Pferde den Menschenverstand entwickeln lassen, den dem klugen Hans seine Ver¬
ehrer zuschreiben, so würde er sie auch Organe haben entwickeln lassen, die sich
L. I- zur Gedankenmitteilung besser eignen als Pferdehufe.




Konstantinopolitanische Reiseerlebnisse
Friedrich Seiler von
5treifzüge in der weitern Umgegend

er längere Zeit das Studium einer fremden Großstadt in Staub,
Rauch und Hitze betrieben hat, dessen Nerven sehnen sich nach Ab¬
spannung. Eine solche gewährt dem Stambulfahrcr fast mehr noch
als der Bosporus eine Tagestour nach den reizend an der asiatischen
Küste liegenden Prinzeninseln. Es war an einem herrlichen Mcit-
morgen — die abendländische Christenheit feierte gerade Pfingsten,
das liebliche Fest —, als wir auf der „neuen Brücke" an der Abfahrtstelle des
Dampfers erschienen. Viel zu früh. Man kommt in der Türkei überhaupt nie
zur richtigen Zeit, wenigstens überall da, wo die türkische Zeit gilt. Das ist mich
so eine unmoderne und unmotivierte Schikane für den Fremden, die mit Eigensinn
gerade bei den Dampfschiffahrplänen festgehalten wird. Der türkische Tag läuft
von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und hat vierundzwanzig Stunden, mögen
die Tage nun kurz oder lang sein. Folglich sind die türkischen Stunden jeden Tag
von verschiedner Länge, und die türkische Uhr müßte jeden Tag anders gestellt
werden, wird es aber nnr jeden fünften. Der Fremde hat nun die angenehme
Aufgabe, die türkischen Stunden in seiue fränkische Zeit umzurechnen, wils nie
gelingt. Wir mußten die Verlornen anderthalb Stunden, so gut es ging, durch
Herumbummeln hinbringen. Ich sah mir die zehn Minuten von der „neuen Brücke"
entfernte „alte" an. Sie ist jetzt antiquiert, schäbig, baufällig und viel weniger
benutzt als ihre jüngere Schwester. Als ich an der Abfahrtstelle wieder mit
meinem Genossen zusammentraf, hatte sich das Bild stark geändert. Vorhin war es
einsam gewesen, jetzt flutete um den engen Schalterranm auf der feuchten Landnngs-
poute die Menge der Sonntagsansflügler, meistens Griechen und Levantiner. Ein
kleiner schwarzer Herr nahm sich unser freundlichst an, löste im heißen Gedränge
unsre Billetts und geleitete uns auf das richtige Schiff. Er sprach mit uus ein
gutes Französisch ohne die den Griechen eigne Lispelei und stellte sich uns als
Monsieur Jaaillier, königlich preußischen Hofphotographe», vor. Er ist in der Tat


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[0698] Uonstantinopolitanische Reiseerlebnisse durch Vereinigung und Trennung die verschiedensten Wesen aufzubauen, nicht ein Ergebnis des Naturlaufs, sondern die vom Schöpfer gesetzte Bedingung seines Anfangs ist, darf man sie als etwas außerhalb der natürlichen Entwicklung und vor ihr liegendes ein Wunder nennen. Und mag man sich die psychophysischen Bedingungen der Sprache, die mit denen der Menschenveruunft zusammenfallen, als in die ersten Daseinsbedingungen der Welt eingeschlossen oder ihnen auf einer gewissen Stufe der allgemeinen Entwicklung zugegeben denken, jedenfalls erscheinen auch sie als ein Wunder. Die wichtigste der Bedingungen, die die Sprache möglich macheu, ist die Zuordnung von Sprachwerkzeugen zu einem für die Entwicklung von Vernunft tauglichen Gehirn. Hätte der Schöpfer die Pferde den Menschenverstand entwickeln lassen, den dem klugen Hans seine Ver¬ ehrer zuschreiben, so würde er sie auch Organe haben entwickeln lassen, die sich L. I- zur Gedankenmitteilung besser eignen als Pferdehufe. Konstantinopolitanische Reiseerlebnisse Friedrich Seiler von 5treifzüge in der weitern Umgegend er längere Zeit das Studium einer fremden Großstadt in Staub, Rauch und Hitze betrieben hat, dessen Nerven sehnen sich nach Ab¬ spannung. Eine solche gewährt dem Stambulfahrcr fast mehr noch als der Bosporus eine Tagestour nach den reizend an der asiatischen Küste liegenden Prinzeninseln. Es war an einem herrlichen Mcit- morgen — die abendländische Christenheit feierte gerade Pfingsten, das liebliche Fest —, als wir auf der „neuen Brücke" an der Abfahrtstelle des Dampfers erschienen. Viel zu früh. Man kommt in der Türkei überhaupt nie zur richtigen Zeit, wenigstens überall da, wo die türkische Zeit gilt. Das ist mich so eine unmoderne und unmotivierte Schikane für den Fremden, die mit Eigensinn gerade bei den Dampfschiffahrplänen festgehalten wird. Der türkische Tag läuft von Sonnenaufgang bis Sonnenuntergang und hat vierundzwanzig Stunden, mögen die Tage nun kurz oder lang sein. Folglich sind die türkischen Stunden jeden Tag von verschiedner Länge, und die türkische Uhr müßte jeden Tag anders gestellt werden, wird es aber nnr jeden fünften. Der Fremde hat nun die angenehme Aufgabe, die türkischen Stunden in seiue fränkische Zeit umzurechnen, wils nie gelingt. Wir mußten die Verlornen anderthalb Stunden, so gut es ging, durch Herumbummeln hinbringen. Ich sah mir die zehn Minuten von der „neuen Brücke" entfernte „alte" an. Sie ist jetzt antiquiert, schäbig, baufällig und viel weniger benutzt als ihre jüngere Schwester. Als ich an der Abfahrtstelle wieder mit meinem Genossen zusammentraf, hatte sich das Bild stark geändert. Vorhin war es einsam gewesen, jetzt flutete um den engen Schalterranm auf der feuchten Landnngs- poute die Menge der Sonntagsansflügler, meistens Griechen und Levantiner. Ein kleiner schwarzer Herr nahm sich unser freundlichst an, löste im heißen Gedränge unsre Billetts und geleitete uns auf das richtige Schiff. Er sprach mit uus ein gutes Französisch ohne die den Griechen eigne Lispelei und stellte sich uns als Monsieur Jaaillier, königlich preußischen Hofphotographe», vor. Er ist in der Tat

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/698>, abgerufen am 26.06.2024.