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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Frauentrost

Sprache des Kindes unter dem Einflüsse der jetzt vorhandnen Sprachen, von
denen vor ihrer Entstehung natürlich noch keine vorhanden sein konnte. Die
Lautvertanschungen und Lautverstummelungen der Kindersprache pflegt man
damit zu erklären, daß das Kind gewisse Laute, die es nicht auszusprechen ver¬
möge, durch andre ersetze. Wundt verwirft diese Erklärung. Das Kind ver¬
möge zu der Zeit, wo es anfängt zu sprechen, alle Laute zu bilden. "Das
nämliche Kind, welches das Kind Tink und die Pfeife Peipe nennt, spricht etwa
das Wort Gasse Gack und Vater Faata aus." Die Ursachen der Entstellung
seien in ungenauer Wahrnehmung des Gesprochnen durch Ohr und Auge zu
suchen und in der Kontaktwirkung, die beim Kinde noch stärker ist als beim
Erwachsnen. Kommen in einem Worte mehrere Konsonanten vor, dann assi¬
miliert sich der eine leicht dem andern nachfolgenden oder vorhergehenden; so
wird aus Kute Date, aus Kanone Nanone, aus Nase Nana, aus Decke Dedde.

Was den Wortschatz des Kindes betrifft, so besteht er bekanntlich größten¬
teils aus Hauptwörtern; dann folgen der Zahl nach die Zeitwörter, die nur
im Infinitiv gebraucht werden, dann die Eigenschaftswörter; sonstige Wörter
kommen sehr wenig vor. Man hat den Wortschatz zweier zweijähriger Mädchen
aus gebildeten Familien, eines deutschen und eines englischen, inventarisiert;
jenes verfügte über 489 Wörter (249 Substantive-, 119 Verba, 23 Adjektivs.
46 Adverbia, 52 sonstige Wörter), dieses über 1121 (592 Substantiva. 283 Verba,
114 Adjektiva. 56 Adverbia, 76 sonstige Wörter). Der Wortschatz des deutschen
Mädchens wird für normal, der des englischen für übernormal erklärt. Die
neusten englischen Wörterbücher enthalten 100 000 Wörter; Milton hat über
8000, Shakespeare über 15 000 gebraucht, und ungefähr soviel mögen dem
höher gebildeten modernen Menschen geläufig sein. Dagegen hat ein englischer
Landgeistlicher berechnet, daß einige Tagelöhner seiner Gemeinde nicht mehr als
300 Wörter hatten. In solchem Maße differenzieren die moderne Zivilisation
und die Arbeitteilung die Bildung, daß sie den Vorstellungskreis des Menschen
der untersten Schicht unter den des zweijährigen Kindes gebildeter Eltern
hinabdrücken! (Schluß folgt)




Frauentrost

as feine und zarte Buch, das diesen Titel trügt/) hat ein Freund
der Grenzboten geschrieben, der ungenannt bleiben will. Es beruht
auf Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hat. an seiner
Frau und seiner Familie, und die er durch weitergehende Beob¬
achtungen ergänzt hat. Es befaßt sich nicht mit der modernen
Frauenbewegung und macht keine Vorschläge zu neuen Berufsarten -- wie
wären die auch noch möglich? Wie einer Krankheit gegenüber, wo äußere Heil-



Frauentrost, Gedanken für Männer, Mädchen und Frauen. München, Reck. 1,80 Mark.
Frauentrost

Sprache des Kindes unter dem Einflüsse der jetzt vorhandnen Sprachen, von
denen vor ihrer Entstehung natürlich noch keine vorhanden sein konnte. Die
Lautvertanschungen und Lautverstummelungen der Kindersprache pflegt man
damit zu erklären, daß das Kind gewisse Laute, die es nicht auszusprechen ver¬
möge, durch andre ersetze. Wundt verwirft diese Erklärung. Das Kind ver¬
möge zu der Zeit, wo es anfängt zu sprechen, alle Laute zu bilden. „Das
nämliche Kind, welches das Kind Tink und die Pfeife Peipe nennt, spricht etwa
das Wort Gasse Gack und Vater Faata aus." Die Ursachen der Entstellung
seien in ungenauer Wahrnehmung des Gesprochnen durch Ohr und Auge zu
suchen und in der Kontaktwirkung, die beim Kinde noch stärker ist als beim
Erwachsnen. Kommen in einem Worte mehrere Konsonanten vor, dann assi¬
miliert sich der eine leicht dem andern nachfolgenden oder vorhergehenden; so
wird aus Kute Date, aus Kanone Nanone, aus Nase Nana, aus Decke Dedde.

Was den Wortschatz des Kindes betrifft, so besteht er bekanntlich größten¬
teils aus Hauptwörtern; dann folgen der Zahl nach die Zeitwörter, die nur
im Infinitiv gebraucht werden, dann die Eigenschaftswörter; sonstige Wörter
kommen sehr wenig vor. Man hat den Wortschatz zweier zweijähriger Mädchen
aus gebildeten Familien, eines deutschen und eines englischen, inventarisiert;
jenes verfügte über 489 Wörter (249 Substantive-, 119 Verba, 23 Adjektivs.
46 Adverbia, 52 sonstige Wörter), dieses über 1121 (592 Substantiva. 283 Verba,
114 Adjektiva. 56 Adverbia, 76 sonstige Wörter). Der Wortschatz des deutschen
Mädchens wird für normal, der des englischen für übernormal erklärt. Die
neusten englischen Wörterbücher enthalten 100 000 Wörter; Milton hat über
8000, Shakespeare über 15 000 gebraucht, und ungefähr soviel mögen dem
höher gebildeten modernen Menschen geläufig sein. Dagegen hat ein englischer
Landgeistlicher berechnet, daß einige Tagelöhner seiner Gemeinde nicht mehr als
300 Wörter hatten. In solchem Maße differenzieren die moderne Zivilisation
und die Arbeitteilung die Bildung, daß sie den Vorstellungskreis des Menschen
der untersten Schicht unter den des zweijährigen Kindes gebildeter Eltern
hinabdrücken! (Schluß folgt)




Frauentrost

as feine und zarte Buch, das diesen Titel trügt/) hat ein Freund
der Grenzboten geschrieben, der ungenannt bleiben will. Es beruht
auf Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hat. an seiner
Frau und seiner Familie, und die er durch weitergehende Beob¬
achtungen ergänzt hat. Es befaßt sich nicht mit der modernen
Frauenbewegung und macht keine Vorschläge zu neuen Berufsarten — wie
wären die auch noch möglich? Wie einer Krankheit gegenüber, wo äußere Heil-



Frauentrost, Gedanken für Männer, Mädchen und Frauen. München, Reck. 1,80 Mark.
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[0565] Frauentrost Sprache des Kindes unter dem Einflüsse der jetzt vorhandnen Sprachen, von denen vor ihrer Entstehung natürlich noch keine vorhanden sein konnte. Die Lautvertanschungen und Lautverstummelungen der Kindersprache pflegt man damit zu erklären, daß das Kind gewisse Laute, die es nicht auszusprechen ver¬ möge, durch andre ersetze. Wundt verwirft diese Erklärung. Das Kind ver¬ möge zu der Zeit, wo es anfängt zu sprechen, alle Laute zu bilden. „Das nämliche Kind, welches das Kind Tink und die Pfeife Peipe nennt, spricht etwa das Wort Gasse Gack und Vater Faata aus." Die Ursachen der Entstellung seien in ungenauer Wahrnehmung des Gesprochnen durch Ohr und Auge zu suchen und in der Kontaktwirkung, die beim Kinde noch stärker ist als beim Erwachsnen. Kommen in einem Worte mehrere Konsonanten vor, dann assi¬ miliert sich der eine leicht dem andern nachfolgenden oder vorhergehenden; so wird aus Kute Date, aus Kanone Nanone, aus Nase Nana, aus Decke Dedde. Was den Wortschatz des Kindes betrifft, so besteht er bekanntlich größten¬ teils aus Hauptwörtern; dann folgen der Zahl nach die Zeitwörter, die nur im Infinitiv gebraucht werden, dann die Eigenschaftswörter; sonstige Wörter kommen sehr wenig vor. Man hat den Wortschatz zweier zweijähriger Mädchen aus gebildeten Familien, eines deutschen und eines englischen, inventarisiert; jenes verfügte über 489 Wörter (249 Substantive-, 119 Verba, 23 Adjektivs. 46 Adverbia, 52 sonstige Wörter), dieses über 1121 (592 Substantiva. 283 Verba, 114 Adjektiva. 56 Adverbia, 76 sonstige Wörter). Der Wortschatz des deutschen Mädchens wird für normal, der des englischen für übernormal erklärt. Die neusten englischen Wörterbücher enthalten 100 000 Wörter; Milton hat über 8000, Shakespeare über 15 000 gebraucht, und ungefähr soviel mögen dem höher gebildeten modernen Menschen geläufig sein. Dagegen hat ein englischer Landgeistlicher berechnet, daß einige Tagelöhner seiner Gemeinde nicht mehr als 300 Wörter hatten. In solchem Maße differenzieren die moderne Zivilisation und die Arbeitteilung die Bildung, daß sie den Vorstellungskreis des Menschen der untersten Schicht unter den des zweijährigen Kindes gebildeter Eltern hinabdrücken! (Schluß folgt) Frauentrost as feine und zarte Buch, das diesen Titel trügt/) hat ein Freund der Grenzboten geschrieben, der ungenannt bleiben will. Es beruht auf Erfahrungen, die er in seinem Leben gemacht hat. an seiner Frau und seiner Familie, und die er durch weitergehende Beob¬ achtungen ergänzt hat. Es befaßt sich nicht mit der modernen Frauenbewegung und macht keine Vorschläge zu neuen Berufsarten — wie wären die auch noch möglich? Wie einer Krankheit gegenüber, wo äußere Heil- Frauentrost, Gedanken für Männer, Mädchen und Frauen. München, Reck. 1,80 Mark.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/565>, abgerufen am 26.06.2024.