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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Werden die Sozialdemokraten marschieren?

1848 und 1849. Damals glaubten die Fürsten und ihre Regierungen, durch
diesen Treueid sich gegen den Umsturz ihrer Throne sichern zu können. Wert
hat er nie gehabt. Kein Thron ist durch ihn erhalten worden; ebensowenig
unterläßt ein Soldat das Desertieren, weil er den Fahneneid leisten mußte."

Nach allem müssen wir für den sozialdemokratischen Soldaten bestens
danken und dem General Caprivi beipflichten, wenn er, gerade mit Bezug auf
die Gefahren für die Mannszucht, die aus dem Vorhandensein solcher Vater¬
landsverteidiger erwachsen, sagte: "Wir werden alle darin einverstanden sein,
daß eine Armee ohne Disziplin das Geld nicht wert ist, was sie kostet."


9. Die Vertrauenswürdigkeit sozialdemokratischer Erklärungen

Eine ernste Frage wegen der Bereitwilligkeit sozialdemvkratischer Soldaten,
zu marschieren, ist die, ob die Führer es mit den mitgeteilten Erklärungen
ernst meinten. Man ist über diesen Punkt zu den ernstesten Zweifeln be¬
rechtigt, schon aus dem einfachen Gründe, daß sich die einzelnen Erklärungen
nicht immer decken. Gelegentlich desavouieren sich diese Herren gegenseitig,
zuweilen auch, je nach dem Publikum, vor dem sie reden, sich selber. Auf
dem Parteitage in Erfurt (Oktober 1891) meinte Vollmar, Bebel sei für den
Krieg (notabene nur gegen Nußland!), weil er von einem "Weltkriege" den
Sieg des Sozialismus erwarte. Der Genosse Vollmar muß doch den Ge¬
nossen Bebel einigermaßen kennen. So ist es denn die Hoffnung auf den
"großen Kladderadatsch," mit der Bebel, wenn es losgeht, die Flinte auf die
Schulter legt, während er vorgibt, "ein Plätzchen deutscher Erde" verteidigen
zu wollen?

Vor allen Dingen aber stehn die Erklärungen der Führer vielfach in
Widerspruch zueinander. Welcher von den verschiednen Lesarten soll man nun
Glauben schenken? Wenn einmal ein gut staatsbürgerliches Wort mit unter¬
läuft, so ist es für die Ordnungsparteien zum Fenster hinausgesprvchen, die
verständnisinnigen Genossen wissen schon, was sie davon zu halten haben-
Aber der hochwohllöblichen Polizei, unverbesserlich optimistischen Sozialpolitikern
und geistesträgen Philistern wird mit Erfolg Sand in die Augen gestreut.
Ergibt sich dieser Standpunkt nicht ganz klar aus den Worten, die Bebel auf
dem Sozialistentage zu Zürich sprach? Es war dort die Frage aufgeworfen
worden, ob denn das Volk von den Waffen, die es durch gewisse Verhältnisse
erhalte, im passenden Augenblick auch Gebrauch machen solle. Bebel er¬
klärte: "Darauf sage ich nichts. Oder halten Sie mich für einen solchen
Esel, daß ich darauf Antwort gebe und mich in Deutschland draußen kom¬
promittiere?" Also, um sich nicht zu kompromittieren, macht er aus seinem
Herzen eine Mördergrube; die Enthüllung seiner wahren Gedanken würde ihn
kompromittieren.

Es kann ja auch gar nicht anders sein, Jntcrncitionalitüt und Vaterlands¬
gefühl sind unvereinbare Gegensätze. Darum zeugt es von wenig Kenntnis der
deutschen Verhältnisse, wenn ausländische Blätter, zum Beispiel italienische, ihren
gleichfalls international und deshalb gleichfalls vaterlandslos denkenden Sozialisten
Bebel als Musterbild eines patriotisch fühlenden Volkstribunen hinstellen.


Werden die Sozialdemokraten marschieren?

1848 und 1849. Damals glaubten die Fürsten und ihre Regierungen, durch
diesen Treueid sich gegen den Umsturz ihrer Throne sichern zu können. Wert
hat er nie gehabt. Kein Thron ist durch ihn erhalten worden; ebensowenig
unterläßt ein Soldat das Desertieren, weil er den Fahneneid leisten mußte."

Nach allem müssen wir für den sozialdemokratischen Soldaten bestens
danken und dem General Caprivi beipflichten, wenn er, gerade mit Bezug auf
die Gefahren für die Mannszucht, die aus dem Vorhandensein solcher Vater¬
landsverteidiger erwachsen, sagte: „Wir werden alle darin einverstanden sein,
daß eine Armee ohne Disziplin das Geld nicht wert ist, was sie kostet."


9. Die Vertrauenswürdigkeit sozialdemokratischer Erklärungen

Eine ernste Frage wegen der Bereitwilligkeit sozialdemvkratischer Soldaten,
zu marschieren, ist die, ob die Führer es mit den mitgeteilten Erklärungen
ernst meinten. Man ist über diesen Punkt zu den ernstesten Zweifeln be¬
rechtigt, schon aus dem einfachen Gründe, daß sich die einzelnen Erklärungen
nicht immer decken. Gelegentlich desavouieren sich diese Herren gegenseitig,
zuweilen auch, je nach dem Publikum, vor dem sie reden, sich selber. Auf
dem Parteitage in Erfurt (Oktober 1891) meinte Vollmar, Bebel sei für den
Krieg (notabene nur gegen Nußland!), weil er von einem „Weltkriege" den
Sieg des Sozialismus erwarte. Der Genosse Vollmar muß doch den Ge¬
nossen Bebel einigermaßen kennen. So ist es denn die Hoffnung auf den
„großen Kladderadatsch," mit der Bebel, wenn es losgeht, die Flinte auf die
Schulter legt, während er vorgibt, „ein Plätzchen deutscher Erde" verteidigen
zu wollen?

Vor allen Dingen aber stehn die Erklärungen der Führer vielfach in
Widerspruch zueinander. Welcher von den verschiednen Lesarten soll man nun
Glauben schenken? Wenn einmal ein gut staatsbürgerliches Wort mit unter¬
läuft, so ist es für die Ordnungsparteien zum Fenster hinausgesprvchen, die
verständnisinnigen Genossen wissen schon, was sie davon zu halten haben-
Aber der hochwohllöblichen Polizei, unverbesserlich optimistischen Sozialpolitikern
und geistesträgen Philistern wird mit Erfolg Sand in die Augen gestreut.
Ergibt sich dieser Standpunkt nicht ganz klar aus den Worten, die Bebel auf
dem Sozialistentage zu Zürich sprach? Es war dort die Frage aufgeworfen
worden, ob denn das Volk von den Waffen, die es durch gewisse Verhältnisse
erhalte, im passenden Augenblick auch Gebrauch machen solle. Bebel er¬
klärte: „Darauf sage ich nichts. Oder halten Sie mich für einen solchen
Esel, daß ich darauf Antwort gebe und mich in Deutschland draußen kom¬
promittiere?" Also, um sich nicht zu kompromittieren, macht er aus seinem
Herzen eine Mördergrube; die Enthüllung seiner wahren Gedanken würde ihn
kompromittieren.

Es kann ja auch gar nicht anders sein, Jntcrncitionalitüt und Vaterlands¬
gefühl sind unvereinbare Gegensätze. Darum zeugt es von wenig Kenntnis der
deutschen Verhältnisse, wenn ausländische Blätter, zum Beispiel italienische, ihren
gleichfalls international und deshalb gleichfalls vaterlandslos denkenden Sozialisten
Bebel als Musterbild eines patriotisch fühlenden Volkstribunen hinstellen.


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[0435] Werden die Sozialdemokraten marschieren? 1848 und 1849. Damals glaubten die Fürsten und ihre Regierungen, durch diesen Treueid sich gegen den Umsturz ihrer Throne sichern zu können. Wert hat er nie gehabt. Kein Thron ist durch ihn erhalten worden; ebensowenig unterläßt ein Soldat das Desertieren, weil er den Fahneneid leisten mußte." Nach allem müssen wir für den sozialdemokratischen Soldaten bestens danken und dem General Caprivi beipflichten, wenn er, gerade mit Bezug auf die Gefahren für die Mannszucht, die aus dem Vorhandensein solcher Vater¬ landsverteidiger erwachsen, sagte: „Wir werden alle darin einverstanden sein, daß eine Armee ohne Disziplin das Geld nicht wert ist, was sie kostet." 9. Die Vertrauenswürdigkeit sozialdemokratischer Erklärungen Eine ernste Frage wegen der Bereitwilligkeit sozialdemvkratischer Soldaten, zu marschieren, ist die, ob die Führer es mit den mitgeteilten Erklärungen ernst meinten. Man ist über diesen Punkt zu den ernstesten Zweifeln be¬ rechtigt, schon aus dem einfachen Gründe, daß sich die einzelnen Erklärungen nicht immer decken. Gelegentlich desavouieren sich diese Herren gegenseitig, zuweilen auch, je nach dem Publikum, vor dem sie reden, sich selber. Auf dem Parteitage in Erfurt (Oktober 1891) meinte Vollmar, Bebel sei für den Krieg (notabene nur gegen Nußland!), weil er von einem „Weltkriege" den Sieg des Sozialismus erwarte. Der Genosse Vollmar muß doch den Ge¬ nossen Bebel einigermaßen kennen. So ist es denn die Hoffnung auf den „großen Kladderadatsch," mit der Bebel, wenn es losgeht, die Flinte auf die Schulter legt, während er vorgibt, „ein Plätzchen deutscher Erde" verteidigen zu wollen? Vor allen Dingen aber stehn die Erklärungen der Führer vielfach in Widerspruch zueinander. Welcher von den verschiednen Lesarten soll man nun Glauben schenken? Wenn einmal ein gut staatsbürgerliches Wort mit unter¬ läuft, so ist es für die Ordnungsparteien zum Fenster hinausgesprvchen, die verständnisinnigen Genossen wissen schon, was sie davon zu halten haben- Aber der hochwohllöblichen Polizei, unverbesserlich optimistischen Sozialpolitikern und geistesträgen Philistern wird mit Erfolg Sand in die Augen gestreut. Ergibt sich dieser Standpunkt nicht ganz klar aus den Worten, die Bebel auf dem Sozialistentage zu Zürich sprach? Es war dort die Frage aufgeworfen worden, ob denn das Volk von den Waffen, die es durch gewisse Verhältnisse erhalte, im passenden Augenblick auch Gebrauch machen solle. Bebel er¬ klärte: „Darauf sage ich nichts. Oder halten Sie mich für einen solchen Esel, daß ich darauf Antwort gebe und mich in Deutschland draußen kom¬ promittiere?" Also, um sich nicht zu kompromittieren, macht er aus seinem Herzen eine Mördergrube; die Enthüllung seiner wahren Gedanken würde ihn kompromittieren. Es kann ja auch gar nicht anders sein, Jntcrncitionalitüt und Vaterlands¬ gefühl sind unvereinbare Gegensätze. Darum zeugt es von wenig Kenntnis der deutschen Verhältnisse, wenn ausländische Blätter, zum Beispiel italienische, ihren gleichfalls international und deshalb gleichfalls vaterlandslos denkenden Sozialisten Bebel als Musterbild eines patriotisch fühlenden Volkstribunen hinstellen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/435>, abgerufen am 26.06.2024.