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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Chemikalien sei; den frechen Unsinn, wie Schopenhauer es nennt, der Leugnung
andrer als chemisch-physikalischer Kräfte; die endgiltige Vernichtung des Menschen¬
wesens durch den Tod; die Unfreiheit des Willens ohne ein ergänzendes, transzen¬
dentes Reich der Freiheit; die Unmöglichkeit der Moralbegründung und die Leugnung
einer sittlichen Weltordnung." Man höre zwar seit einiger Zeit behaupten, daß
der Materialismus überwunden sei, aber diese Selbstbesinnung spiele sich in den
wenig besuchten Hochregionen der Wissenschaft ab, "während man in der Niederung,
wo das Gros der Aufgeklärten wohnt, zumeist noch daran festhält, daß die Welt¬
rätsel nur mit Hilfe von Mikroskop, Retorte, Affenstammbäumen und ähnlichem
Gerät der "exakten" Naturwissenschaft gelöst werden können. Wäre es anders, dann
hätte "Kraft und Stoff" nicht unlängst die zwanzigste Auflage erlebt, wären vom
"Welträtsel"-Buche nicht binnen wenigen Wochen zehntausend Exemplare und von
der Volksausgabe fünfmal so viel abgesetzt worden, und hätte Professor Ladenburg
uicht den Beifallsturm der Kasseler Naturforscherversammlung entfesselt, als er die
Dogmen des Materialismus wiederkäute. Von einem Schwinden der materialistischen
Denkweise bei den Massen kann man erst recht nichts bemerken W sie doch die
offizielle Religion der Sozialdemokratin Ja, unsre ganze Kultur ist vom Mate¬
rialismus so zerfressen, daß sogar die Rechtspflege nicht unberührt davon geblieben
ist, die Verletzung des Vermögens wird nämlich viel strenger bestraft als die aller
übrigen, namentlich der idealen Rechtsgüter."

So ists: und darum begrüßen wir mit Freuden dieses antimaterialistische
Goethebrevier, das durch Hunderte von Aussprüchen nachweist, daß die Materialisten
auf diesen einen der drei größten Deutschen neuerer Zeit so wenig Anspruch haben
wie auf die beiden andern, ja daß er unzweifelhaft auf dem entgegengesetzten Pole
des Fühlens und Denkens steht. Als Motto ist dem Büchlein Goethes Wort vor¬
gesetzt: "Werde ja nicht mild im Urteile! Was ist das Herrliche der Vorzeit, wenn
sich das Nichtige des Tages aufdringen darf, weil es für diesmal das Privilegium
hat, gegenwärtig und lebendig zu sein." Leider hat der Verfasser, der mit Du Pret
befreundet gewesen und Gesinnungsgenosse von ihm zu sein scheint, die Wirkung seiner
Schrift dadurch ein wenig beeinträchtigt, daß er dem Mystischen in und bei Goethe,
anstatt es nur zu streifen, einen sehr breiten Raum gewidmet hat. Für die Kenner
Goethes unterliegt es ja gar keinem Zweifel, daß er dieses Gebiet geliebt hat und
das gewesen ist, was die Nicolai des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts
gleich denen des achtzehnten Aberglauben nennen. Aber der Okkultismus, wie die
Mystik heute heißt, ist doch wirklich eine so bedenkliche und gefährliche Sache, daß
man mit ihrer Hervorhebung an Goethe diesem ein zweifelhaftes Lob spendet. Die
Materialisten werden, falls sie es nicht vorziehn, Seilings Buch zu ignorieren, bei
ihren Jüngern leicht Glauben finden, wenn sie sagen: Da diese Verirrung doch
gewiß nur der Dichterphantasie Goethes entsprungen ist, so hat man von seinem
gelegentlichen Lobe der Religion und von seinen spiritualistischen Äußerungen das¬
selbe zu halten. Daß das nicht zutrifft, daß das Religiöse der Kern von Goethes
Wesen ist, werden alle unbefangnen Leser des Büchleins einsehen, und die Gymnasial¬
lehrer, die doch ihren Schülern ein richtiges Bild von dem größten aller deutschen
Dichter und Denker entwerfen wollen, werden es hoffentlich benutzen.


Etwas vom Vaterunser.

Meine theologischen Freunde werden nicht immer mit
mir zufrieden sein, und das Muster eines guten Christen bin ich nicht. Aber in die Kirche
gehe ich doch ab und zu. Der Segenswunsch, mit dem uns der Geistliche entläßt,
bewährt sich da immer wieder: es wird stillerund ruhiger in einem, und man wundert
sich, wie man sich über so manche Dinge hat aufregen können. Uns Protestanten ist die
Predigt der Mittelpunkt des Gottesdienstes, ich finde, manchmal zu sehr, es gibt
noch andre Dinge, die erheben, und ich bin in rein liturgischen Gottesdiensten ge¬
wesen, bei denen die Gemeinde augenscheinlich tief ergriffen war. Nicht alle Geist¬
lichen sind fesselnde Redner, sie können übrigeus deswegen sehr wacker in ihrer Ge-


Grenzboten IV 1904 56
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Chemikalien sei; den frechen Unsinn, wie Schopenhauer es nennt, der Leugnung
andrer als chemisch-physikalischer Kräfte; die endgiltige Vernichtung des Menschen¬
wesens durch den Tod; die Unfreiheit des Willens ohne ein ergänzendes, transzen¬
dentes Reich der Freiheit; die Unmöglichkeit der Moralbegründung und die Leugnung
einer sittlichen Weltordnung." Man höre zwar seit einiger Zeit behaupten, daß
der Materialismus überwunden sei, aber diese Selbstbesinnung spiele sich in den
wenig besuchten Hochregionen der Wissenschaft ab, „während man in der Niederung,
wo das Gros der Aufgeklärten wohnt, zumeist noch daran festhält, daß die Welt¬
rätsel nur mit Hilfe von Mikroskop, Retorte, Affenstammbäumen und ähnlichem
Gerät der »exakten« Naturwissenschaft gelöst werden können. Wäre es anders, dann
hätte »Kraft und Stoff« nicht unlängst die zwanzigste Auflage erlebt, wären vom
»Welträtsel«-Buche nicht binnen wenigen Wochen zehntausend Exemplare und von
der Volksausgabe fünfmal so viel abgesetzt worden, und hätte Professor Ladenburg
uicht den Beifallsturm der Kasseler Naturforscherversammlung entfesselt, als er die
Dogmen des Materialismus wiederkäute. Von einem Schwinden der materialistischen
Denkweise bei den Massen kann man erst recht nichts bemerken W sie doch die
offizielle Religion der Sozialdemokratin Ja, unsre ganze Kultur ist vom Mate¬
rialismus so zerfressen, daß sogar die Rechtspflege nicht unberührt davon geblieben
ist, die Verletzung des Vermögens wird nämlich viel strenger bestraft als die aller
übrigen, namentlich der idealen Rechtsgüter."

So ists: und darum begrüßen wir mit Freuden dieses antimaterialistische
Goethebrevier, das durch Hunderte von Aussprüchen nachweist, daß die Materialisten
auf diesen einen der drei größten Deutschen neuerer Zeit so wenig Anspruch haben
wie auf die beiden andern, ja daß er unzweifelhaft auf dem entgegengesetzten Pole
des Fühlens und Denkens steht. Als Motto ist dem Büchlein Goethes Wort vor¬
gesetzt: „Werde ja nicht mild im Urteile! Was ist das Herrliche der Vorzeit, wenn
sich das Nichtige des Tages aufdringen darf, weil es für diesmal das Privilegium
hat, gegenwärtig und lebendig zu sein." Leider hat der Verfasser, der mit Du Pret
befreundet gewesen und Gesinnungsgenosse von ihm zu sein scheint, die Wirkung seiner
Schrift dadurch ein wenig beeinträchtigt, daß er dem Mystischen in und bei Goethe,
anstatt es nur zu streifen, einen sehr breiten Raum gewidmet hat. Für die Kenner
Goethes unterliegt es ja gar keinem Zweifel, daß er dieses Gebiet geliebt hat und
das gewesen ist, was die Nicolai des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts
gleich denen des achtzehnten Aberglauben nennen. Aber der Okkultismus, wie die
Mystik heute heißt, ist doch wirklich eine so bedenkliche und gefährliche Sache, daß
man mit ihrer Hervorhebung an Goethe diesem ein zweifelhaftes Lob spendet. Die
Materialisten werden, falls sie es nicht vorziehn, Seilings Buch zu ignorieren, bei
ihren Jüngern leicht Glauben finden, wenn sie sagen: Da diese Verirrung doch
gewiß nur der Dichterphantasie Goethes entsprungen ist, so hat man von seinem
gelegentlichen Lobe der Religion und von seinen spiritualistischen Äußerungen das¬
selbe zu halten. Daß das nicht zutrifft, daß das Religiöse der Kern von Goethes
Wesen ist, werden alle unbefangnen Leser des Büchleins einsehen, und die Gymnasial¬
lehrer, die doch ihren Schülern ein richtiges Bild von dem größten aller deutschen
Dichter und Denker entwerfen wollen, werden es hoffentlich benutzen.


Etwas vom Vaterunser.

Meine theologischen Freunde werden nicht immer mit
mir zufrieden sein, und das Muster eines guten Christen bin ich nicht. Aber in die Kirche
gehe ich doch ab und zu. Der Segenswunsch, mit dem uns der Geistliche entläßt,
bewährt sich da immer wieder: es wird stillerund ruhiger in einem, und man wundert
sich, wie man sich über so manche Dinge hat aufregen können. Uns Protestanten ist die
Predigt der Mittelpunkt des Gottesdienstes, ich finde, manchmal zu sehr, es gibt
noch andre Dinge, die erheben, und ich bin in rein liturgischen Gottesdiensten ge¬
wesen, bei denen die Gemeinde augenscheinlich tief ergriffen war. Nicht alle Geist¬
lichen sind fesselnde Redner, sie können übrigeus deswegen sehr wacker in ihrer Ge-


Grenzboten IV 1904 56
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[0419] Maßgebliches und Unmaßgebliches Chemikalien sei; den frechen Unsinn, wie Schopenhauer es nennt, der Leugnung andrer als chemisch-physikalischer Kräfte; die endgiltige Vernichtung des Menschen¬ wesens durch den Tod; die Unfreiheit des Willens ohne ein ergänzendes, transzen¬ dentes Reich der Freiheit; die Unmöglichkeit der Moralbegründung und die Leugnung einer sittlichen Weltordnung." Man höre zwar seit einiger Zeit behaupten, daß der Materialismus überwunden sei, aber diese Selbstbesinnung spiele sich in den wenig besuchten Hochregionen der Wissenschaft ab, „während man in der Niederung, wo das Gros der Aufgeklärten wohnt, zumeist noch daran festhält, daß die Welt¬ rätsel nur mit Hilfe von Mikroskop, Retorte, Affenstammbäumen und ähnlichem Gerät der »exakten« Naturwissenschaft gelöst werden können. Wäre es anders, dann hätte »Kraft und Stoff« nicht unlängst die zwanzigste Auflage erlebt, wären vom »Welträtsel«-Buche nicht binnen wenigen Wochen zehntausend Exemplare und von der Volksausgabe fünfmal so viel abgesetzt worden, und hätte Professor Ladenburg uicht den Beifallsturm der Kasseler Naturforscherversammlung entfesselt, als er die Dogmen des Materialismus wiederkäute. Von einem Schwinden der materialistischen Denkweise bei den Massen kann man erst recht nichts bemerken W sie doch die offizielle Religion der Sozialdemokratin Ja, unsre ganze Kultur ist vom Mate¬ rialismus so zerfressen, daß sogar die Rechtspflege nicht unberührt davon geblieben ist, die Verletzung des Vermögens wird nämlich viel strenger bestraft als die aller übrigen, namentlich der idealen Rechtsgüter." So ists: und darum begrüßen wir mit Freuden dieses antimaterialistische Goethebrevier, das durch Hunderte von Aussprüchen nachweist, daß die Materialisten auf diesen einen der drei größten Deutschen neuerer Zeit so wenig Anspruch haben wie auf die beiden andern, ja daß er unzweifelhaft auf dem entgegengesetzten Pole des Fühlens und Denkens steht. Als Motto ist dem Büchlein Goethes Wort vor¬ gesetzt: „Werde ja nicht mild im Urteile! Was ist das Herrliche der Vorzeit, wenn sich das Nichtige des Tages aufdringen darf, weil es für diesmal das Privilegium hat, gegenwärtig und lebendig zu sein." Leider hat der Verfasser, der mit Du Pret befreundet gewesen und Gesinnungsgenosse von ihm zu sein scheint, die Wirkung seiner Schrift dadurch ein wenig beeinträchtigt, daß er dem Mystischen in und bei Goethe, anstatt es nur zu streifen, einen sehr breiten Raum gewidmet hat. Für die Kenner Goethes unterliegt es ja gar keinem Zweifel, daß er dieses Gebiet geliebt hat und das gewesen ist, was die Nicolai des neunzehnten und des zwanzigsten Jahrhunderts gleich denen des achtzehnten Aberglauben nennen. Aber der Okkultismus, wie die Mystik heute heißt, ist doch wirklich eine so bedenkliche und gefährliche Sache, daß man mit ihrer Hervorhebung an Goethe diesem ein zweifelhaftes Lob spendet. Die Materialisten werden, falls sie es nicht vorziehn, Seilings Buch zu ignorieren, bei ihren Jüngern leicht Glauben finden, wenn sie sagen: Da diese Verirrung doch gewiß nur der Dichterphantasie Goethes entsprungen ist, so hat man von seinem gelegentlichen Lobe der Religion und von seinen spiritualistischen Äußerungen das¬ selbe zu halten. Daß das nicht zutrifft, daß das Religiöse der Kern von Goethes Wesen ist, werden alle unbefangnen Leser des Büchleins einsehen, und die Gymnasial¬ lehrer, die doch ihren Schülern ein richtiges Bild von dem größten aller deutschen Dichter und Denker entwerfen wollen, werden es hoffentlich benutzen. Etwas vom Vaterunser. Meine theologischen Freunde werden nicht immer mit mir zufrieden sein, und das Muster eines guten Christen bin ich nicht. Aber in die Kirche gehe ich doch ab und zu. Der Segenswunsch, mit dem uns der Geistliche entläßt, bewährt sich da immer wieder: es wird stillerund ruhiger in einem, und man wundert sich, wie man sich über so manche Dinge hat aufregen können. Uns Protestanten ist die Predigt der Mittelpunkt des Gottesdienstes, ich finde, manchmal zu sehr, es gibt noch andre Dinge, die erheben, und ich bin in rein liturgischen Gottesdiensten ge¬ wesen, bei denen die Gemeinde augenscheinlich tief ergriffen war. Nicht alle Geist¬ lichen sind fesselnde Redner, sie können übrigeus deswegen sehr wacker in ihrer Ge- Grenzboten IV 1904 56

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/419>, abgerufen am 26.06.2024.