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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

meinte wirken, und man hört doch auf sie, weil man sich sagt: Sie meinens gut.
Mitunter freilich meinen sich zu gut, und wenn die erste halbe Stunde vorbei ist,
ertappt man sich wohl dabei, wie einem die Gedanken abschweifen, und die steife
Kirchenbank wird einem immer unbequemer. Wenn endlich das erlösende Amen
erschallt, folgt noch das vorgeschriebne Kirchengebet. Es ist sicherlich schön und
zweckentsprechend abgefaßt, aber auch das hohe Konsistorium wird zugeben, so ganz
nach der Vorschrift des Meisters ist es nicht, der uns lehrt, beim Beten nicht viele
Worte zu machen. Wenn es aber zum Schlüsse heißt: Was wir sonst noch auf
dem Herzen haben, das fassen wir zusammen im Gebet unsers Herrn, da merkt
man an der Haltung der ganzen Gemeinde, mag auch das Herkommen eine Rolle
dabei spielen, daß jetzt etwas andres kommt, und daß alle Herzen dabei sind.

Je älter man wird, um so öfter hat man den traurigen Gang mitgemacht,
einen lieben Menschen zur letzten Ruhe zu geleiten. Schwer ist uns der Gang
manchmal geworden, auch Wenn sichs nicht um die handelte, die uns unersetzlich
sind. Es reißt uns schon herum, das Leid der Angehörigen mit anzusehen. Wohl
sucht der Geistliche nach Kräften zu trösten, aber die Hand, die Balsam auflegen
will, öffnet manchmal die Wunde noch mehr. Auf einmal verstummt das herz¬
brechende Schluchzen der gramgebeugten alten Mutter, aus dem immer die Frage
herausklang: Warum nicht ich? Kein krampfhaftes Zucken erschüttert mehr die ver¬
härmte Witwe: wir beten das Vaterunser. Und mit den geweihten Worten senkt
es sich wie Friede und Ergebung auf die Schwergeprüften herab.

So erinnert uns, meine ich, das Vaterunser an Augenblicke unsers Innen¬
lebens, von denen wir selten sprechen, und auch nicht mit jedem, nur mit einem
Freunde, den wir ganz erkannt haben, in stiller Stunde, wenn uns das Herz ein¬
mal aufgeht.

Dieser Tage war ich mit einer jungen Freundin zusammen. Die aufgeweckte
Kleine berichtet mir immer von ihren Fortschritten in der Schule. Diesesmal schaute
sie besonders stolz zu mir auf: Wir haben das Vaterunser auf Französisch gelernt?
soll ich dirs mal aufsagen?

Ich hab mirs nicht aufsagen lassen. Es war mir gegen das Gefühl. Es
gibt wohl kaum eine wichtige Bibelstelle, worüber sich die Eifrer der verschiednen
Konfessionen nicht in den Haaren lägen. Das Vaterunser tasten sie weniger an,
und wenn sich doch tun, so merken wenigstens wir Laien nichts davon. Daß die
Worte, an denen sich alle Christen ohne Unterschied von jeher aufgerichtet haben
und immer wieder aufrichten werden, auf ihre französische Lautgestalt hin zerpflückt
und als Sprachübung heruntergeleiert werden, dazu wurde uns meines Erachtens
das Vaterunser nicht gegeben.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig -- Druck von Karl Marquart in Leipzig


Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften wolle man an den Verleger
persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr. Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).

. Die Manuskripte werden deutlich und sauber und nur aus die eine Seite des Papiers
geschrieben mit breitem Rande erbeten.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

meinte wirken, und man hört doch auf sie, weil man sich sagt: Sie meinens gut.
Mitunter freilich meinen sich zu gut, und wenn die erste halbe Stunde vorbei ist,
ertappt man sich wohl dabei, wie einem die Gedanken abschweifen, und die steife
Kirchenbank wird einem immer unbequemer. Wenn endlich das erlösende Amen
erschallt, folgt noch das vorgeschriebne Kirchengebet. Es ist sicherlich schön und
zweckentsprechend abgefaßt, aber auch das hohe Konsistorium wird zugeben, so ganz
nach der Vorschrift des Meisters ist es nicht, der uns lehrt, beim Beten nicht viele
Worte zu machen. Wenn es aber zum Schlüsse heißt: Was wir sonst noch auf
dem Herzen haben, das fassen wir zusammen im Gebet unsers Herrn, da merkt
man an der Haltung der ganzen Gemeinde, mag auch das Herkommen eine Rolle
dabei spielen, daß jetzt etwas andres kommt, und daß alle Herzen dabei sind.

Je älter man wird, um so öfter hat man den traurigen Gang mitgemacht,
einen lieben Menschen zur letzten Ruhe zu geleiten. Schwer ist uns der Gang
manchmal geworden, auch Wenn sichs nicht um die handelte, die uns unersetzlich
sind. Es reißt uns schon herum, das Leid der Angehörigen mit anzusehen. Wohl
sucht der Geistliche nach Kräften zu trösten, aber die Hand, die Balsam auflegen
will, öffnet manchmal die Wunde noch mehr. Auf einmal verstummt das herz¬
brechende Schluchzen der gramgebeugten alten Mutter, aus dem immer die Frage
herausklang: Warum nicht ich? Kein krampfhaftes Zucken erschüttert mehr die ver¬
härmte Witwe: wir beten das Vaterunser. Und mit den geweihten Worten senkt
es sich wie Friede und Ergebung auf die Schwergeprüften herab.

So erinnert uns, meine ich, das Vaterunser an Augenblicke unsers Innen¬
lebens, von denen wir selten sprechen, und auch nicht mit jedem, nur mit einem
Freunde, den wir ganz erkannt haben, in stiller Stunde, wenn uns das Herz ein¬
mal aufgeht.

Dieser Tage war ich mit einer jungen Freundin zusammen. Die aufgeweckte
Kleine berichtet mir immer von ihren Fortschritten in der Schule. Diesesmal schaute
sie besonders stolz zu mir auf: Wir haben das Vaterunser auf Französisch gelernt?
soll ich dirs mal aufsagen?

Ich hab mirs nicht aufsagen lassen. Es war mir gegen das Gefühl. Es
gibt wohl kaum eine wichtige Bibelstelle, worüber sich die Eifrer der verschiednen
Konfessionen nicht in den Haaren lägen. Das Vaterunser tasten sie weniger an,
und wenn sich doch tun, so merken wenigstens wir Laien nichts davon. Daß die
Worte, an denen sich alle Christen ohne Unterschied von jeher aufgerichtet haben
und immer wieder aufrichten werden, auf ihre französische Lautgestalt hin zerpflückt
und als Sprachübung heruntergeleiert werden, dazu wurde uns meines Erachtens
das Vaterunser nicht gegeben.






Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig


Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften wolle man an den Verleger
persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr. Wilh. Grunow, Jnselstraße 20).

. Die Manuskripte werden deutlich und sauber und nur aus die eine Seite des Papiers
geschrieben mit breitem Rande erbeten.


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[0420] Maßgebliches und Unmaßgebliches meinte wirken, und man hört doch auf sie, weil man sich sagt: Sie meinens gut. Mitunter freilich meinen sich zu gut, und wenn die erste halbe Stunde vorbei ist, ertappt man sich wohl dabei, wie einem die Gedanken abschweifen, und die steife Kirchenbank wird einem immer unbequemer. Wenn endlich das erlösende Amen erschallt, folgt noch das vorgeschriebne Kirchengebet. Es ist sicherlich schön und zweckentsprechend abgefaßt, aber auch das hohe Konsistorium wird zugeben, so ganz nach der Vorschrift des Meisters ist es nicht, der uns lehrt, beim Beten nicht viele Worte zu machen. Wenn es aber zum Schlüsse heißt: Was wir sonst noch auf dem Herzen haben, das fassen wir zusammen im Gebet unsers Herrn, da merkt man an der Haltung der ganzen Gemeinde, mag auch das Herkommen eine Rolle dabei spielen, daß jetzt etwas andres kommt, und daß alle Herzen dabei sind. Je älter man wird, um so öfter hat man den traurigen Gang mitgemacht, einen lieben Menschen zur letzten Ruhe zu geleiten. Schwer ist uns der Gang manchmal geworden, auch Wenn sichs nicht um die handelte, die uns unersetzlich sind. Es reißt uns schon herum, das Leid der Angehörigen mit anzusehen. Wohl sucht der Geistliche nach Kräften zu trösten, aber die Hand, die Balsam auflegen will, öffnet manchmal die Wunde noch mehr. Auf einmal verstummt das herz¬ brechende Schluchzen der gramgebeugten alten Mutter, aus dem immer die Frage herausklang: Warum nicht ich? Kein krampfhaftes Zucken erschüttert mehr die ver¬ härmte Witwe: wir beten das Vaterunser. Und mit den geweihten Worten senkt es sich wie Friede und Ergebung auf die Schwergeprüften herab. So erinnert uns, meine ich, das Vaterunser an Augenblicke unsers Innen¬ lebens, von denen wir selten sprechen, und auch nicht mit jedem, nur mit einem Freunde, den wir ganz erkannt haben, in stiller Stunde, wenn uns das Herz ein¬ mal aufgeht. Dieser Tage war ich mit einer jungen Freundin zusammen. Die aufgeweckte Kleine berichtet mir immer von ihren Fortschritten in der Schule. Diesesmal schaute sie besonders stolz zu mir auf: Wir haben das Vaterunser auf Französisch gelernt? soll ich dirs mal aufsagen? Ich hab mirs nicht aufsagen lassen. Es war mir gegen das Gefühl. Es gibt wohl kaum eine wichtige Bibelstelle, worüber sich die Eifrer der verschiednen Konfessionen nicht in den Haaren lägen. Das Vaterunser tasten sie weniger an, und wenn sich doch tun, so merken wenigstens wir Laien nichts davon. Daß die Worte, an denen sich alle Christen ohne Unterschied von jeher aufgerichtet haben und immer wieder aufrichten werden, auf ihre französische Lautgestalt hin zerpflückt und als Sprachübung heruntergeleiert werden, dazu wurde uns meines Erachtens das Vaterunser nicht gegeben. Herausgegeben von Johannes Grunow in Leipzig Verlag von Fr. Wilh. Grunow in Leipzig — Druck von Karl Marquart in Leipzig Alle für die Grenzboten bestimmten Aufsätze und Zuschriften wolle man an den Verleger persönlich richten (I. Grunow, Firma: Fr. Wilh. Grunow, Jnselstraße 20). . Die Manuskripte werden deutlich und sauber und nur aus die eine Seite des Papiers geschrieben mit breitem Rande erbeten.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/420>, abgerufen am 29.06.2024.