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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr.

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Glücksinseln und Träume

geführt werden, als hingen Leben und Seligkeit davon ab. Käthe Kcmtzsch
verwahrt sich dagegen, daß ihr Buch Kindern in die Hand gegeben werde.
Sie habe "nur für den Lehrer, für den Erzieher geschrieben." Mit größerm
Behagen ist wohl noch in keinem Kreise das Wort "Erziehen" mit allen
seinen Ableitungen gebraucht worden. Ein Seitenstück zu den Kunsterziehern
sind die "Musikpädagogen," wie sich seit einiger Zeit die Lehrer und
Lehrerinnen des Klavierspiels zu nennen lieben. "Man übersieht die eminente
Bedeutung dieser Fccktoreu für das Leben," heißt es in dem zweiten Buche.
Daselbst wird ein Kinderzimmer gewünscht mit einem Glasschrank für selbst¬
gefertigte, zerbrechliche Gegenstände, mit Sand zum Spielen, Ton zum Kneten,
Leim zum Kleben, mit Strohhnufchcn, Kastanien, Gerten und Wachsstümpfchen;
nlle diese Dinge müssen aufbewahrt werden können. Wir möchten hierüber
gern einmal die Mütter hören und empfehlen den Kunsterziehern zunächst die
Ausbildung von Kindermädchen, die diese Wüstenei in Ordnung zu halten




Glücksinseln und Träume
Friedrich Ratzel von5. Mein Dorf
(Schluß)

>cum mich unsre Bauern ihre Nahrung aus dem Acker, dem Garten
I und dem Weinberg ziehn, sind sie doch alle Viehzüchter. Die ärmste
! Witwe hat eine Ziege, der kleinste Bauer eine Kuh und ein Schwein,
>der Hofbauer hat zwölf glänzende Kühe im Stalle, vier Pferde, die
noch praller leuchten, und drei oder vier Schweine. "Das Vieh ist
"nicht, was Menschen sind," sagt man wohl, aber doch kommt es
gleich hinter ihnen. Wenn man bedenkt, wie das Vieh auf den Menschen an¬
gewiesen ist, besonders im kranken Zustande, wo es sich so wenig helfen kann, be¬
greift man die Sorge, mit der es umgeben wird. Es spricht sich darin sogar der
ganze Charakter einer Wirtschaft aus: vernachlässigtes Vieh gereicht ihr zur Un-
ehre, gerade so wie vernachlässigte Kinder, und insofern noch mehr, als dort ein
greifbarer oder zählbarer materieller Nachteil herausschaue.

Da jedes Haus seinen Grasgarten hat, über dessen Nasen alte und junge
Obstbäume ihren Schatten werfen und nacheinander ihre Blüten, Früchte und
Blätter ausstreuen, und da diese Gärten immer viel ausgedehnter sind als die
Hänser und die Hofreiten, liegen unsre Dörfer buchstäblich in Gärten. Man hat
aber auch andre alte Bäume stehn lassen, als man neuen Häusern und Gärten
Raum schuf, und ehe sie abstarben, sorgte man für Nachwuchs. So ist das Dorf
nicht bloß mit den Bäumen seiner Gärten, sondern auch mit Eichen, Linden, Ahorn
eng verschwistert. Das sind dankbare Freunde, die Stürme abhalten, Schatten
spenden, den Bienen Nahrung geben. In unsern Wäldern sind die großen Ahorn¬
uno Eschenbäume längst verschwunden, und darum ist auch der Holzwerk dieser
Hausbnnme nicht gering. Linden wachsen immer noch in feuchten Wäldern.

Die ältern Gärten liegen zum Teil beträchtlich tiefer als der Boden, auf dem
die Häuser und Scheunen stehn. Auch hier wohnen die Menschen auf ihren eignen


Glücksinseln und Träume

geführt werden, als hingen Leben und Seligkeit davon ab. Käthe Kcmtzsch
verwahrt sich dagegen, daß ihr Buch Kindern in die Hand gegeben werde.
Sie habe „nur für den Lehrer, für den Erzieher geschrieben." Mit größerm
Behagen ist wohl noch in keinem Kreise das Wort „Erziehen" mit allen
seinen Ableitungen gebraucht worden. Ein Seitenstück zu den Kunsterziehern
sind die „Musikpädagogen," wie sich seit einiger Zeit die Lehrer und
Lehrerinnen des Klavierspiels zu nennen lieben. „Man übersieht die eminente
Bedeutung dieser Fccktoreu für das Leben," heißt es in dem zweiten Buche.
Daselbst wird ein Kinderzimmer gewünscht mit einem Glasschrank für selbst¬
gefertigte, zerbrechliche Gegenstände, mit Sand zum Spielen, Ton zum Kneten,
Leim zum Kleben, mit Strohhnufchcn, Kastanien, Gerten und Wachsstümpfchen;
nlle diese Dinge müssen aufbewahrt werden können. Wir möchten hierüber
gern einmal die Mütter hören und empfehlen den Kunsterziehern zunächst die
Ausbildung von Kindermädchen, die diese Wüstenei in Ordnung zu halten




Glücksinseln und Träume
Friedrich Ratzel von5. Mein Dorf
(Schluß)

>cum mich unsre Bauern ihre Nahrung aus dem Acker, dem Garten
I und dem Weinberg ziehn, sind sie doch alle Viehzüchter. Die ärmste
! Witwe hat eine Ziege, der kleinste Bauer eine Kuh und ein Schwein,
>der Hofbauer hat zwölf glänzende Kühe im Stalle, vier Pferde, die
noch praller leuchten, und drei oder vier Schweine. „Das Vieh ist
»nicht, was Menschen sind," sagt man wohl, aber doch kommt es
gleich hinter ihnen. Wenn man bedenkt, wie das Vieh auf den Menschen an¬
gewiesen ist, besonders im kranken Zustande, wo es sich so wenig helfen kann, be¬
greift man die Sorge, mit der es umgeben wird. Es spricht sich darin sogar der
ganze Charakter einer Wirtschaft aus: vernachlässigtes Vieh gereicht ihr zur Un-
ehre, gerade so wie vernachlässigte Kinder, und insofern noch mehr, als dort ein
greifbarer oder zählbarer materieller Nachteil herausschaue.

Da jedes Haus seinen Grasgarten hat, über dessen Nasen alte und junge
Obstbäume ihren Schatten werfen und nacheinander ihre Blüten, Früchte und
Blätter ausstreuen, und da diese Gärten immer viel ausgedehnter sind als die
Hänser und die Hofreiten, liegen unsre Dörfer buchstäblich in Gärten. Man hat
aber auch andre alte Bäume stehn lassen, als man neuen Häusern und Gärten
Raum schuf, und ehe sie abstarben, sorgte man für Nachwuchs. So ist das Dorf
nicht bloß mit den Bäumen seiner Gärten, sondern auch mit Eichen, Linden, Ahorn
eng verschwistert. Das sind dankbare Freunde, die Stürme abhalten, Schatten
spenden, den Bienen Nahrung geben. In unsern Wäldern sind die großen Ahorn¬
uno Eschenbäume längst verschwunden, und darum ist auch der Holzwerk dieser
Hausbnnme nicht gering. Linden wachsen immer noch in feuchten Wäldern.

Die ältern Gärten liegen zum Teil beträchtlich tiefer als der Boden, auf dem
die Häuser und Scheunen stehn. Auch hier wohnen die Menschen auf ihren eignen


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[0393] Glücksinseln und Träume geführt werden, als hingen Leben und Seligkeit davon ab. Käthe Kcmtzsch verwahrt sich dagegen, daß ihr Buch Kindern in die Hand gegeben werde. Sie habe „nur für den Lehrer, für den Erzieher geschrieben." Mit größerm Behagen ist wohl noch in keinem Kreise das Wort „Erziehen" mit allen seinen Ableitungen gebraucht worden. Ein Seitenstück zu den Kunsterziehern sind die „Musikpädagogen," wie sich seit einiger Zeit die Lehrer und Lehrerinnen des Klavierspiels zu nennen lieben. „Man übersieht die eminente Bedeutung dieser Fccktoreu für das Leben," heißt es in dem zweiten Buche. Daselbst wird ein Kinderzimmer gewünscht mit einem Glasschrank für selbst¬ gefertigte, zerbrechliche Gegenstände, mit Sand zum Spielen, Ton zum Kneten, Leim zum Kleben, mit Strohhnufchcn, Kastanien, Gerten und Wachsstümpfchen; nlle diese Dinge müssen aufbewahrt werden können. Wir möchten hierüber gern einmal die Mütter hören und empfehlen den Kunsterziehern zunächst die Ausbildung von Kindermädchen, die diese Wüstenei in Ordnung zu halten Glücksinseln und Träume Friedrich Ratzel von5. Mein Dorf (Schluß) >cum mich unsre Bauern ihre Nahrung aus dem Acker, dem Garten I und dem Weinberg ziehn, sind sie doch alle Viehzüchter. Die ärmste ! Witwe hat eine Ziege, der kleinste Bauer eine Kuh und ein Schwein, >der Hofbauer hat zwölf glänzende Kühe im Stalle, vier Pferde, die noch praller leuchten, und drei oder vier Schweine. „Das Vieh ist »nicht, was Menschen sind," sagt man wohl, aber doch kommt es gleich hinter ihnen. Wenn man bedenkt, wie das Vieh auf den Menschen an¬ gewiesen ist, besonders im kranken Zustande, wo es sich so wenig helfen kann, be¬ greift man die Sorge, mit der es umgeben wird. Es spricht sich darin sogar der ganze Charakter einer Wirtschaft aus: vernachlässigtes Vieh gereicht ihr zur Un- ehre, gerade so wie vernachlässigte Kinder, und insofern noch mehr, als dort ein greifbarer oder zählbarer materieller Nachteil herausschaue. Da jedes Haus seinen Grasgarten hat, über dessen Nasen alte und junge Obstbäume ihren Schatten werfen und nacheinander ihre Blüten, Früchte und Blätter ausstreuen, und da diese Gärten immer viel ausgedehnter sind als die Hänser und die Hofreiten, liegen unsre Dörfer buchstäblich in Gärten. Man hat aber auch andre alte Bäume stehn lassen, als man neuen Häusern und Gärten Raum schuf, und ehe sie abstarben, sorgte man für Nachwuchs. So ist das Dorf nicht bloß mit den Bäumen seiner Gärten, sondern auch mit Eichen, Linden, Ahorn eng verschwistert. Das sind dankbare Freunde, die Stürme abhalten, Schatten spenden, den Bienen Nahrung geben. In unsern Wäldern sind die großen Ahorn¬ uno Eschenbäume längst verschwunden, und darum ist auch der Holzwerk dieser Hausbnnme nicht gering. Linden wachsen immer noch in feuchten Wäldern. Die ältern Gärten liegen zum Teil beträchtlich tiefer als der Boden, auf dem die Häuser und Scheunen stehn. Auch hier wohnen die Menschen auf ihren eignen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_295218/393>, abgerufen am 26.06.2024.