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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Line Trojafahrt

Und nun wandten wir uns zur Umkehr. Zwei Stunden lang mußten wir
durch die grüne Einsamkeit reiten, noch einmal auf langer schräger Furt den Ska¬
mander passieren. Als wir an dem Dorfe Tschiblak vorbeikamen, hörten wir lautes
Geschrei und Schüsse. Ich dachte schon an Kampf und Überfall. Allein die Ago-
jaten sagten, es sei nur eine "Chara," ein Fest, und bald erschienen am Dorfrande,
Gespenstern gleich, weißverhüllte Mohammedanerinnen. Gestern feierten die Griechen,
heute die Tscherkessen, es geht lustig zu in der alten Troas!

Da noch etwas Zeit zum Abendbrot war, so bat ich den Ägiueten, mir, nachdem
wir heute so viele falschen Quellen gesehen hatten, die echte Quelle von Ilion
zu zeigen. Gern willfahrte er mir und führte mich hinunter zum westlichen Abhang
des Burghügels nur wenige hundert Schritt vom südlichen Haupttor der Stadt,
das Homer "das Mische" nennt. Dort hat Schliemann einen in den Berg getriebnen
Stollen gefunden, der sich im Innern in drei Gänge teilt; in jedem kam bei der
Ausräumung schönes Trinkwasser zutage. Hier lagen die "breiten, schönen, steinernen
Waschplätze, wo die Gattinnen und schönen Töchter der Troer zu waschen pflegten,
zuvor im Frieden, bevor die Söhne der Achäer kamen." Jetzt gibt es hier nnr
noch kaltes Wasser, aber bei der vulkanischen Natur der Landschaft ist nicht ausge¬
schlossen, daß hier ehemals auch eine "von warmem Wasser floß und ringsum von
ihr ein Rauch aufstieg wie von brennendem Feuer." Wenn aber Homer diese
Quellen als "Quellen des Skamander" bezeichnet (Il. 22, 48), so kann das nur
bedeuten: Quellen, die in den Skamander fließen. Schließlich sind ja alle Quellen,
die in einen Fluß fließen, zugleich dessen Quellen, da sie sein Wasser vermehren.
Wollte man die homerische Bezeichnung wörtlich nehmen, so müßte man Ilion auf
die Abhänge des Jda verlegen; denn dort erst sind die Quellen des Skamanders
im geographischen Sinne zu finden.

Wir beide setzten uns an den Eingang des alten Quellhauses, dem spärliches
aber klares Wasser entrieselte. Ein wilder Feigenbaum breitete seine Äste über der
Öffnung, vor dem Eingang und an den Seiten rankte sich wildes Brombeeren¬
gestrüpp; grüne Gräser und rötliche Anemonen schaukelten im Winde. Gerade vor
uns ging die Sonne zur Rüste und hob den Spitzkegel von Tenedos und den
zackigen Riesen von Samothrake in dunkeln scharfen Linien vom schimmernden Horizont
ab. Über dem dunkelblauen Strom des Hellespont glänzten schon die elektrischen
Leuchtfeuer von Europa, das künstliche moderne Licht neben der uralten, ewigen
Sonne Homers. Die tiefste Ruhe lagerte über der weiten Ebne, und eine fast
feierliche und zugleich wehmütige Stimmung erfüllte unsre Herzen. Solche Schön¬
heit und solche Vergänglichkeit!


5. Die Abreise von Troja

Es war der letzte Abend, den wir auf dem Boden der heiligen Ilios ge¬
meinsam zubrachten. Am andern Morgen sollte sich die kleine Reiterschar auf
Nimmerwiederzusammenfinden trennen. Etwa ein Dutzend wollten trotz Pest und
Quarantäne nach Konstantinopel gehn. Diese mußten früh abreiten, um womöglich
noch an demselben Tage in der Dardanellenstadt ein Schiff zu finden. Eine größere
Zahl wollte nach Athen zurück; diese hatten Zeit bis zum Nachmittag, da ihr Schiff
erst am nächsten Morgen abging. Dörpfeld, Berger, Thiersch und die beiden
deutschen Damen wollten noch einige Tage in Troja bleiben, um Studien und
Aufnahmen zu machen. Die beiden jüngern Herren wollten dann noch das wilde
Jdagebirge mit seinen Schneegipfeln, seinen rauschenden Quellen und seinen dichten
Eichenwäldern auf einer mehrtägigen Tour besuchen. Diesen hätte ich mich am
liebsten angeschlossen, aber der Zustand meiner offnen Wunde verbot ein solches
Unternehmen gebieterisch. Ich fühlte deutlich, daß ich das ewige Reiten nun ein¬
stellen mußte, wenn die Geschichte nicht ernst werden sollte. In den Waldschluchten
des Jda gibt es auch keinen Machaon und keinen Podalirios. man verläßt sich dort
heutzutage auf Allah, und dessen Name gewährte mir keine ausreichende Garantie.
So beschloß ich, mich der Kreuzfahrt gegen Konstantinopel anzuschließen.


Line Trojafahrt

Und nun wandten wir uns zur Umkehr. Zwei Stunden lang mußten wir
durch die grüne Einsamkeit reiten, noch einmal auf langer schräger Furt den Ska¬
mander passieren. Als wir an dem Dorfe Tschiblak vorbeikamen, hörten wir lautes
Geschrei und Schüsse. Ich dachte schon an Kampf und Überfall. Allein die Ago-
jaten sagten, es sei nur eine „Chara," ein Fest, und bald erschienen am Dorfrande,
Gespenstern gleich, weißverhüllte Mohammedanerinnen. Gestern feierten die Griechen,
heute die Tscherkessen, es geht lustig zu in der alten Troas!

Da noch etwas Zeit zum Abendbrot war, so bat ich den Ägiueten, mir, nachdem
wir heute so viele falschen Quellen gesehen hatten, die echte Quelle von Ilion
zu zeigen. Gern willfahrte er mir und führte mich hinunter zum westlichen Abhang
des Burghügels nur wenige hundert Schritt vom südlichen Haupttor der Stadt,
das Homer „das Mische" nennt. Dort hat Schliemann einen in den Berg getriebnen
Stollen gefunden, der sich im Innern in drei Gänge teilt; in jedem kam bei der
Ausräumung schönes Trinkwasser zutage. Hier lagen die „breiten, schönen, steinernen
Waschplätze, wo die Gattinnen und schönen Töchter der Troer zu waschen pflegten,
zuvor im Frieden, bevor die Söhne der Achäer kamen." Jetzt gibt es hier nnr
noch kaltes Wasser, aber bei der vulkanischen Natur der Landschaft ist nicht ausge¬
schlossen, daß hier ehemals auch eine „von warmem Wasser floß und ringsum von
ihr ein Rauch aufstieg wie von brennendem Feuer." Wenn aber Homer diese
Quellen als „Quellen des Skamander" bezeichnet (Il. 22, 48), so kann das nur
bedeuten: Quellen, die in den Skamander fließen. Schließlich sind ja alle Quellen,
die in einen Fluß fließen, zugleich dessen Quellen, da sie sein Wasser vermehren.
Wollte man die homerische Bezeichnung wörtlich nehmen, so müßte man Ilion auf
die Abhänge des Jda verlegen; denn dort erst sind die Quellen des Skamanders
im geographischen Sinne zu finden.

Wir beide setzten uns an den Eingang des alten Quellhauses, dem spärliches
aber klares Wasser entrieselte. Ein wilder Feigenbaum breitete seine Äste über der
Öffnung, vor dem Eingang und an den Seiten rankte sich wildes Brombeeren¬
gestrüpp; grüne Gräser und rötliche Anemonen schaukelten im Winde. Gerade vor
uns ging die Sonne zur Rüste und hob den Spitzkegel von Tenedos und den
zackigen Riesen von Samothrake in dunkeln scharfen Linien vom schimmernden Horizont
ab. Über dem dunkelblauen Strom des Hellespont glänzten schon die elektrischen
Leuchtfeuer von Europa, das künstliche moderne Licht neben der uralten, ewigen
Sonne Homers. Die tiefste Ruhe lagerte über der weiten Ebne, und eine fast
feierliche und zugleich wehmütige Stimmung erfüllte unsre Herzen. Solche Schön¬
heit und solche Vergänglichkeit!


5. Die Abreise von Troja

Es war der letzte Abend, den wir auf dem Boden der heiligen Ilios ge¬
meinsam zubrachten. Am andern Morgen sollte sich die kleine Reiterschar auf
Nimmerwiederzusammenfinden trennen. Etwa ein Dutzend wollten trotz Pest und
Quarantäne nach Konstantinopel gehn. Diese mußten früh abreiten, um womöglich
noch an demselben Tage in der Dardanellenstadt ein Schiff zu finden. Eine größere
Zahl wollte nach Athen zurück; diese hatten Zeit bis zum Nachmittag, da ihr Schiff
erst am nächsten Morgen abging. Dörpfeld, Berger, Thiersch und die beiden
deutschen Damen wollten noch einige Tage in Troja bleiben, um Studien und
Aufnahmen zu machen. Die beiden jüngern Herren wollten dann noch das wilde
Jdagebirge mit seinen Schneegipfeln, seinen rauschenden Quellen und seinen dichten
Eichenwäldern auf einer mehrtägigen Tour besuchen. Diesen hätte ich mich am
liebsten angeschlossen, aber der Zustand meiner offnen Wunde verbot ein solches
Unternehmen gebieterisch. Ich fühlte deutlich, daß ich das ewige Reiten nun ein¬
stellen mußte, wenn die Geschichte nicht ernst werden sollte. In den Waldschluchten
des Jda gibt es auch keinen Machaon und keinen Podalirios. man verläßt sich dort
heutzutage auf Allah, und dessen Name gewährte mir keine ausreichende Garantie.
So beschloß ich, mich der Kreuzfahrt gegen Konstantinopel anzuschließen.


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[0354] Line Trojafahrt Und nun wandten wir uns zur Umkehr. Zwei Stunden lang mußten wir durch die grüne Einsamkeit reiten, noch einmal auf langer schräger Furt den Ska¬ mander passieren. Als wir an dem Dorfe Tschiblak vorbeikamen, hörten wir lautes Geschrei und Schüsse. Ich dachte schon an Kampf und Überfall. Allein die Ago- jaten sagten, es sei nur eine „Chara," ein Fest, und bald erschienen am Dorfrande, Gespenstern gleich, weißverhüllte Mohammedanerinnen. Gestern feierten die Griechen, heute die Tscherkessen, es geht lustig zu in der alten Troas! Da noch etwas Zeit zum Abendbrot war, so bat ich den Ägiueten, mir, nachdem wir heute so viele falschen Quellen gesehen hatten, die echte Quelle von Ilion zu zeigen. Gern willfahrte er mir und führte mich hinunter zum westlichen Abhang des Burghügels nur wenige hundert Schritt vom südlichen Haupttor der Stadt, das Homer „das Mische" nennt. Dort hat Schliemann einen in den Berg getriebnen Stollen gefunden, der sich im Innern in drei Gänge teilt; in jedem kam bei der Ausräumung schönes Trinkwasser zutage. Hier lagen die „breiten, schönen, steinernen Waschplätze, wo die Gattinnen und schönen Töchter der Troer zu waschen pflegten, zuvor im Frieden, bevor die Söhne der Achäer kamen." Jetzt gibt es hier nnr noch kaltes Wasser, aber bei der vulkanischen Natur der Landschaft ist nicht ausge¬ schlossen, daß hier ehemals auch eine „von warmem Wasser floß und ringsum von ihr ein Rauch aufstieg wie von brennendem Feuer." Wenn aber Homer diese Quellen als „Quellen des Skamander" bezeichnet (Il. 22, 48), so kann das nur bedeuten: Quellen, die in den Skamander fließen. Schließlich sind ja alle Quellen, die in einen Fluß fließen, zugleich dessen Quellen, da sie sein Wasser vermehren. Wollte man die homerische Bezeichnung wörtlich nehmen, so müßte man Ilion auf die Abhänge des Jda verlegen; denn dort erst sind die Quellen des Skamanders im geographischen Sinne zu finden. Wir beide setzten uns an den Eingang des alten Quellhauses, dem spärliches aber klares Wasser entrieselte. Ein wilder Feigenbaum breitete seine Äste über der Öffnung, vor dem Eingang und an den Seiten rankte sich wildes Brombeeren¬ gestrüpp; grüne Gräser und rötliche Anemonen schaukelten im Winde. Gerade vor uns ging die Sonne zur Rüste und hob den Spitzkegel von Tenedos und den zackigen Riesen von Samothrake in dunkeln scharfen Linien vom schimmernden Horizont ab. Über dem dunkelblauen Strom des Hellespont glänzten schon die elektrischen Leuchtfeuer von Europa, das künstliche moderne Licht neben der uralten, ewigen Sonne Homers. Die tiefste Ruhe lagerte über der weiten Ebne, und eine fast feierliche und zugleich wehmütige Stimmung erfüllte unsre Herzen. Solche Schön¬ heit und solche Vergänglichkeit! 5. Die Abreise von Troja Es war der letzte Abend, den wir auf dem Boden der heiligen Ilios ge¬ meinsam zubrachten. Am andern Morgen sollte sich die kleine Reiterschar auf Nimmerwiederzusammenfinden trennen. Etwa ein Dutzend wollten trotz Pest und Quarantäne nach Konstantinopel gehn. Diese mußten früh abreiten, um womöglich noch an demselben Tage in der Dardanellenstadt ein Schiff zu finden. Eine größere Zahl wollte nach Athen zurück; diese hatten Zeit bis zum Nachmittag, da ihr Schiff erst am nächsten Morgen abging. Dörpfeld, Berger, Thiersch und die beiden deutschen Damen wollten noch einige Tage in Troja bleiben, um Studien und Aufnahmen zu machen. Die beiden jüngern Herren wollten dann noch das wilde Jdagebirge mit seinen Schneegipfeln, seinen rauschenden Quellen und seinen dichten Eichenwäldern auf einer mehrtägigen Tour besuchen. Diesen hätte ich mich am liebsten angeschlossen, aber der Zustand meiner offnen Wunde verbot ein solches Unternehmen gebieterisch. Ich fühlte deutlich, daß ich das ewige Reiten nun ein¬ stellen mußte, wenn die Geschichte nicht ernst werden sollte. In den Waldschluchten des Jda gibt es auch keinen Machaon und keinen Podalirios. man verläßt sich dort heutzutage auf Allah, und dessen Name gewährte mir keine ausreichende Garantie. So beschloß ich, mich der Kreuzfahrt gegen Konstantinopel anzuschließen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/354>, abgerufen am 28.06.2024.