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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Witwen- und Waisenversicherung an stelle der
Invalidenversicherung

! s scheint mir sehr dankenswert, wenn sich in dem großen Kreise
der Lobredner auch einmal ein Kritiker unsrer Reichsversichernngs-
gesetze hören läßt, wie der in den Grenzboten Ur. 11.

Er hat die moralische Rentenkrankheit unsers Volkes, die
!Gier, sich mit allen Mitteln, auch unlauter", eine Rente zu
verschaffen oder zu erhalten, nicht zu stark geschildert. Er hat aber auch in
seinem Schlußsatz die richtige Erklärung und Entschuldigung dieser unlautern
Rentengier angegeben, indem er darauf hinweist, daß die Privatversicherung
der höhern Stände genau dieselben Bilder zeigt.

Das ist es, was auch ich betonen möchte. Diese Rentenschleicherei, -bedecket
und -betrügerei ist nicht die besondre Schuld der Versicherten, sondern der
Fehler der Gesetze.

Zur Einleitung und zum Beispiel einiges über die Privatversicheruug.

Hat jemand sein Leben für den Todesfall versichert, und der Ver-
sicheruugsfnll ist eingetreten, so entsteht über diesen Eintritt beinahe nie ein
Zweifel. Derselbe Mensch ist entweder ganz tot oder gar nicht. Ebenso
klar ist das füllige Recht, wenn auf den Erlebensfall versichert ist, z. B. auf
das sechzigste Jahr. Es kann auch über die fällige Summe kein Zweifel sein.
Darum: wegen dieser Klarheit von Forderung des Versicherten und ver¬
pflichteter Leistung der Anstalt ist die Lebensversicherung ein reelles Ge¬
schäft, und weil die Geschäfts- und Prozeßunkosten gering sind, sogar ein gutes
Geschäft.

Anders mit der Unfallversicherung. Hier muß sowohl der Versicherungs¬
fall erst bewiesen als auch die Höhe der geschuldeten Zahlung nach der
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit erst eingeschützt werden. Sofort stehn
sich zwei Parteien gegenüber, von denen jede ihr gutes Recht verteidigen will,
weil das Recht erst im Widerspruch beider gefunden werden kann. In kleinen
Zahlungen zwar sind die Gesellschaften nobel. Gegen große aber suchen sie
sich zu wehren, und das ist ihre Pflicht. Der Berechtigte wehrt sich auch,
damit er nicht zu kurz komme, und das ist auch sein Recht und seine Pflicht.
Einem Arzt, der in solchem Streit öfter als Gutachter angerufen worden ist,
kaun es nicht verborgen bleiben, daß das Geschüft der Unfallversicherung
gegenüber dem der Lebensversicherung unklar, unsicher, durch die Prozeßkosten
teuer und durch das ganze Gebaren von beiden Seiten unreell ist. Und
warum? Nur wegen der Vieldeutigkeit des Versicherungsfallcs und der Un¬
klarheit der im Einzelfall fälligen Zahlung.

Regel ist: ein Versicherungsgeschäft ist um so gesünder und reeller, je




Witwen- und Waisenversicherung an stelle der
Invalidenversicherung

! s scheint mir sehr dankenswert, wenn sich in dem großen Kreise
der Lobredner auch einmal ein Kritiker unsrer Reichsversichernngs-
gesetze hören läßt, wie der in den Grenzboten Ur. 11.

Er hat die moralische Rentenkrankheit unsers Volkes, die
!Gier, sich mit allen Mitteln, auch unlauter», eine Rente zu
verschaffen oder zu erhalten, nicht zu stark geschildert. Er hat aber auch in
seinem Schlußsatz die richtige Erklärung und Entschuldigung dieser unlautern
Rentengier angegeben, indem er darauf hinweist, daß die Privatversicherung
der höhern Stände genau dieselben Bilder zeigt.

Das ist es, was auch ich betonen möchte. Diese Rentenschleicherei, -bedecket
und -betrügerei ist nicht die besondre Schuld der Versicherten, sondern der
Fehler der Gesetze.

Zur Einleitung und zum Beispiel einiges über die Privatversicheruug.

Hat jemand sein Leben für den Todesfall versichert, und der Ver-
sicheruugsfnll ist eingetreten, so entsteht über diesen Eintritt beinahe nie ein
Zweifel. Derselbe Mensch ist entweder ganz tot oder gar nicht. Ebenso
klar ist das füllige Recht, wenn auf den Erlebensfall versichert ist, z. B. auf
das sechzigste Jahr. Es kann auch über die fällige Summe kein Zweifel sein.
Darum: wegen dieser Klarheit von Forderung des Versicherten und ver¬
pflichteter Leistung der Anstalt ist die Lebensversicherung ein reelles Ge¬
schäft, und weil die Geschäfts- und Prozeßunkosten gering sind, sogar ein gutes
Geschäft.

Anders mit der Unfallversicherung. Hier muß sowohl der Versicherungs¬
fall erst bewiesen als auch die Höhe der geschuldeten Zahlung nach der
Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit erst eingeschützt werden. Sofort stehn
sich zwei Parteien gegenüber, von denen jede ihr gutes Recht verteidigen will,
weil das Recht erst im Widerspruch beider gefunden werden kann. In kleinen
Zahlungen zwar sind die Gesellschaften nobel. Gegen große aber suchen sie
sich zu wehren, und das ist ihre Pflicht. Der Berechtigte wehrt sich auch,
damit er nicht zu kurz komme, und das ist auch sein Recht und seine Pflicht.
Einem Arzt, der in solchem Streit öfter als Gutachter angerufen worden ist,
kaun es nicht verborgen bleiben, daß das Geschüft der Unfallversicherung
gegenüber dem der Lebensversicherung unklar, unsicher, durch die Prozeßkosten
teuer und durch das ganze Gebaren von beiden Seiten unreell ist. Und
warum? Nur wegen der Vieldeutigkeit des Versicherungsfallcs und der Un¬
klarheit der im Einzelfall fälligen Zahlung.

Regel ist: ein Versicherungsgeschäft ist um so gesünder und reeller, je


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[0258] [Abbildung] Witwen- und Waisenversicherung an stelle der Invalidenversicherung ! s scheint mir sehr dankenswert, wenn sich in dem großen Kreise der Lobredner auch einmal ein Kritiker unsrer Reichsversichernngs- gesetze hören läßt, wie der in den Grenzboten Ur. 11. Er hat die moralische Rentenkrankheit unsers Volkes, die !Gier, sich mit allen Mitteln, auch unlauter», eine Rente zu verschaffen oder zu erhalten, nicht zu stark geschildert. Er hat aber auch in seinem Schlußsatz die richtige Erklärung und Entschuldigung dieser unlautern Rentengier angegeben, indem er darauf hinweist, daß die Privatversicherung der höhern Stände genau dieselben Bilder zeigt. Das ist es, was auch ich betonen möchte. Diese Rentenschleicherei, -bedecket und -betrügerei ist nicht die besondre Schuld der Versicherten, sondern der Fehler der Gesetze. Zur Einleitung und zum Beispiel einiges über die Privatversicheruug. Hat jemand sein Leben für den Todesfall versichert, und der Ver- sicheruugsfnll ist eingetreten, so entsteht über diesen Eintritt beinahe nie ein Zweifel. Derselbe Mensch ist entweder ganz tot oder gar nicht. Ebenso klar ist das füllige Recht, wenn auf den Erlebensfall versichert ist, z. B. auf das sechzigste Jahr. Es kann auch über die fällige Summe kein Zweifel sein. Darum: wegen dieser Klarheit von Forderung des Versicherten und ver¬ pflichteter Leistung der Anstalt ist die Lebensversicherung ein reelles Ge¬ schäft, und weil die Geschäfts- und Prozeßunkosten gering sind, sogar ein gutes Geschäft. Anders mit der Unfallversicherung. Hier muß sowohl der Versicherungs¬ fall erst bewiesen als auch die Höhe der geschuldeten Zahlung nach der Beeinträchtigung der Erwerbsfähigkeit erst eingeschützt werden. Sofort stehn sich zwei Parteien gegenüber, von denen jede ihr gutes Recht verteidigen will, weil das Recht erst im Widerspruch beider gefunden werden kann. In kleinen Zahlungen zwar sind die Gesellschaften nobel. Gegen große aber suchen sie sich zu wehren, und das ist ihre Pflicht. Der Berechtigte wehrt sich auch, damit er nicht zu kurz komme, und das ist auch sein Recht und seine Pflicht. Einem Arzt, der in solchem Streit öfter als Gutachter angerufen worden ist, kaun es nicht verborgen bleiben, daß das Geschüft der Unfallversicherung gegenüber dem der Lebensversicherung unklar, unsicher, durch die Prozeßkosten teuer und durch das ganze Gebaren von beiden Seiten unreell ist. Und warum? Nur wegen der Vieldeutigkeit des Versicherungsfallcs und der Un¬ klarheit der im Einzelfall fälligen Zahlung. Regel ist: ein Versicherungsgeschäft ist um so gesünder und reeller, je

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/258>, abgerufen am 28.06.2024.