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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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und 145 bürgerliche. Die sozialdemokratischen Blätter hatten zusammen eine
Auflage von 76800 Exemplaren, die 145 bürgerlichen eine solche von 785400.
Von 125 bürgerlichen Blättern fehlen die Angaben über die Höhe der Auf¬
lage. 77000 Exemplare sozialdemvkratischer Tagesblätter im Königreich Sachsen!
Das ist eine geradezu lächerlich geringe Zahl, wenn man den Blick aufs Ganze
richtet; deun von den 3^ Millionen Einwohnern, die Sachsen 1895 hatte,
gehörte schon mehr als die Hälfte zur Jndustriebevölkerung! Und dabei ist
die Verbreitung der sozialdemokratischen Tagespresse in Sachsen die stärkste
im ganzen Reiche, wo sie über ^/z Million sozialdemokratischer Abonnenten
verfügte.

Wir können es uns nicht versagen, hier einen Seitenblick auf die sozial¬
demokratischen Wahlerfolge zu werfen. Bei der Reichstagswahl von 1898
hat die Partei mehr als 2 Millionen Stimmen (27 Prozent aller abgegebnen
giltigen) und 1903 sogar mehr als 3 Millionen (32 Prozent) auf sich ver¬
einigt; in dem dazwischen liegenden Jahre 1901 aber hatte die gesamte sozial¬
demokratische Tagespresse nur ^/z Million sozialdemokratischer Abonnenten.
Bedenkt man noch, daß unter diesen Abonnenten eine nennenswerte Anzahl
solcher war, die das Wahlalter noch nicht erreicht hatten, dann hat man einen
sichern Anhalt über die Anzahl der "Mitläufer." Diese zählen nicht nach
Hunderttausenden, nein, nach Millionen!

Im deutschen Volke hat die Presse keiner der ansehnlichern Parteien eine
so geringe Verbreitung gefunden, und keine ist mit solchem Widerstreben auf¬
genommen worden, wie die der sozialdemokratischen Partei. Und mit aller
Bestimmtheit darf man sagen, daß das deutsche Volk nicht der Boden ist, auf
dem dieses dürftige "zukunftstaatliche" Bäumchen gedeihen wird.


Paul Liter


Vor vierzig Jahren
Veto Rciemmel Erinnerungen von
(Schluß)
2

a ging die Zeit der begeisterten aber tatenlosen Schwärmerei
für die nationale Einheit und Größe jäh zu Ende, und die prak¬
tische Politik, die schließlich diese Einheit gründen sollte, trat in
ihrer ganzen herben Strenge urplötzlich an uns heran. Zunächst
erhielten wir eine sehr empfindliche Lektion darüber, daß in der
Politik nicht die wohlmeinende Schwäche, sondern die Macht entscheidet,
sie altes verlebtes Recht zerbricht und neues Recht schafft, heute wie
SU allen Zeiten.

Scheinbar plötzlich tauchte die unsterbliche Schleswig-holsteinische Frage wieder
auf, die trotz des Londoner Protokolls von 1852 in Deutschland niemals so
^de als gelöst betrachtet worden war. Obwohl ich das Land damals noch


Grenzboten II 1904 28
vor vierzig Jah^n

und 145 bürgerliche. Die sozialdemokratischen Blätter hatten zusammen eine
Auflage von 76800 Exemplaren, die 145 bürgerlichen eine solche von 785400.
Von 125 bürgerlichen Blättern fehlen die Angaben über die Höhe der Auf¬
lage. 77000 Exemplare sozialdemvkratischer Tagesblätter im Königreich Sachsen!
Das ist eine geradezu lächerlich geringe Zahl, wenn man den Blick aufs Ganze
richtet; deun von den 3^ Millionen Einwohnern, die Sachsen 1895 hatte,
gehörte schon mehr als die Hälfte zur Jndustriebevölkerung! Und dabei ist
die Verbreitung der sozialdemokratischen Tagespresse in Sachsen die stärkste
im ganzen Reiche, wo sie über ^/z Million sozialdemokratischer Abonnenten
verfügte.

Wir können es uns nicht versagen, hier einen Seitenblick auf die sozial¬
demokratischen Wahlerfolge zu werfen. Bei der Reichstagswahl von 1898
hat die Partei mehr als 2 Millionen Stimmen (27 Prozent aller abgegebnen
giltigen) und 1903 sogar mehr als 3 Millionen (32 Prozent) auf sich ver¬
einigt; in dem dazwischen liegenden Jahre 1901 aber hatte die gesamte sozial¬
demokratische Tagespresse nur ^/z Million sozialdemokratischer Abonnenten.
Bedenkt man noch, daß unter diesen Abonnenten eine nennenswerte Anzahl
solcher war, die das Wahlalter noch nicht erreicht hatten, dann hat man einen
sichern Anhalt über die Anzahl der „Mitläufer." Diese zählen nicht nach
Hunderttausenden, nein, nach Millionen!

Im deutschen Volke hat die Presse keiner der ansehnlichern Parteien eine
so geringe Verbreitung gefunden, und keine ist mit solchem Widerstreben auf¬
genommen worden, wie die der sozialdemokratischen Partei. Und mit aller
Bestimmtheit darf man sagen, daß das deutsche Volk nicht der Boden ist, auf
dem dieses dürftige „zukunftstaatliche" Bäumchen gedeihen wird.


Paul Liter


Vor vierzig Jahren
Veto Rciemmel Erinnerungen von
(Schluß)
2

a ging die Zeit der begeisterten aber tatenlosen Schwärmerei
für die nationale Einheit und Größe jäh zu Ende, und die prak¬
tische Politik, die schließlich diese Einheit gründen sollte, trat in
ihrer ganzen herben Strenge urplötzlich an uns heran. Zunächst
erhielten wir eine sehr empfindliche Lektion darüber, daß in der
Politik nicht die wohlmeinende Schwäche, sondern die Macht entscheidet,
sie altes verlebtes Recht zerbricht und neues Recht schafft, heute wie
SU allen Zeiten.

Scheinbar plötzlich tauchte die unsterbliche Schleswig-holsteinische Frage wieder
auf, die trotz des Londoner Protokolls von 1852 in Deutschland niemals so
^de als gelöst betrachtet worden war. Obwohl ich das Land damals noch


Grenzboten II 1904 28
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[0214] vor vierzig Jah^n und 145 bürgerliche. Die sozialdemokratischen Blätter hatten zusammen eine Auflage von 76800 Exemplaren, die 145 bürgerlichen eine solche von 785400. Von 125 bürgerlichen Blättern fehlen die Angaben über die Höhe der Auf¬ lage. 77000 Exemplare sozialdemvkratischer Tagesblätter im Königreich Sachsen! Das ist eine geradezu lächerlich geringe Zahl, wenn man den Blick aufs Ganze richtet; deun von den 3^ Millionen Einwohnern, die Sachsen 1895 hatte, gehörte schon mehr als die Hälfte zur Jndustriebevölkerung! Und dabei ist die Verbreitung der sozialdemokratischen Tagespresse in Sachsen die stärkste im ganzen Reiche, wo sie über ^/z Million sozialdemokratischer Abonnenten verfügte. Wir können es uns nicht versagen, hier einen Seitenblick auf die sozial¬ demokratischen Wahlerfolge zu werfen. Bei der Reichstagswahl von 1898 hat die Partei mehr als 2 Millionen Stimmen (27 Prozent aller abgegebnen giltigen) und 1903 sogar mehr als 3 Millionen (32 Prozent) auf sich ver¬ einigt; in dem dazwischen liegenden Jahre 1901 aber hatte die gesamte sozial¬ demokratische Tagespresse nur ^/z Million sozialdemokratischer Abonnenten. Bedenkt man noch, daß unter diesen Abonnenten eine nennenswerte Anzahl solcher war, die das Wahlalter noch nicht erreicht hatten, dann hat man einen sichern Anhalt über die Anzahl der „Mitläufer." Diese zählen nicht nach Hunderttausenden, nein, nach Millionen! Im deutschen Volke hat die Presse keiner der ansehnlichern Parteien eine so geringe Verbreitung gefunden, und keine ist mit solchem Widerstreben auf¬ genommen worden, wie die der sozialdemokratischen Partei. Und mit aller Bestimmtheit darf man sagen, daß das deutsche Volk nicht der Boden ist, auf dem dieses dürftige „zukunftstaatliche" Bäumchen gedeihen wird. Paul Liter Vor vierzig Jahren Veto Rciemmel Erinnerungen von (Schluß) 2 a ging die Zeit der begeisterten aber tatenlosen Schwärmerei für die nationale Einheit und Größe jäh zu Ende, und die prak¬ tische Politik, die schließlich diese Einheit gründen sollte, trat in ihrer ganzen herben Strenge urplötzlich an uns heran. Zunächst erhielten wir eine sehr empfindliche Lektion darüber, daß in der Politik nicht die wohlmeinende Schwäche, sondern die Macht entscheidet, sie altes verlebtes Recht zerbricht und neues Recht schafft, heute wie SU allen Zeiten. Scheinbar plötzlich tauchte die unsterbliche Schleswig-holsteinische Frage wieder auf, die trotz des Londoner Protokolls von 1852 in Deutschland niemals so ^de als gelöst betrachtet worden war. Obwohl ich das Land damals noch Grenzboten II 1904 28

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/214>, abgerufen am 13.11.2024.