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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen

Reichstag wurde aufgelöst, und man vertraute der gewaltigen und besonnenen
Energie Bismarcks, Kaum aber war die Auflösung des Reichstags erfolgt, da
erhob ein großer Teil der liuksliberalen Presse ein Gezeter über die drohende
Reaktion. Konnte uns denn irgend etwas andres helfen als eine kraftvolle, gesunde
Reaktion gegen die doktrinäre Verbummelung großer parlamentarischer Fraktionen
und gewisser Regiernngskreise? Wir alle, das ganze Volk, waren mitschuldig an
dem unheilvollen Verlauf der Dinge, das war in weiten Kreisen das Bewußtsein,
mit dem man zu den am 30. Juli stattfindenden Neichstagswnhlen gegangen war.

So war die politische Stimmung, als ich mein neues Amt antrat. Der erste
Anfang war nicht schwer, da sich die meisten Minister noch auf Urlaub fanden. Der
Unterstaatssekretär Homeher reiste noch am Tage meines Eintritts auf vier Wochen
nach Kissingen, sodaß ich gleich mit seiner Vertretung beauftragt wurde. Auch diese
Vertretung gelang bei der willigen Unterstützung, die ich bei dem Geh. Kanzleirat
Insel fand, ohne alle Schwierigkeit. Sogar der alte Geheime Rat v. Wangenheim
schien nichts darin zu finden, daß ich, der jüngere Rat, mit Homeyers Vertretung
betraut worden war. Das war wegen der Anciennität gegen alle Kleiderordnung
und hätte in den andern Ministerien sicher zu Reibungen geführt. Herrn v. Wangen-
Heim schien es aber kühl zu lassen. Er hatte es wohl nach frühern Erfahrungen
kaum anders erwartet. Jedenfalls genierte es mich mehr als ihn.

Zwischen dem Fürsten Bismarck und dem päpstlichen Nuntius in München,
Monsignore Masella, schwebten damals in Kissingen Verhandlungen über eine Bei¬
legung des Kulturkampfes. Sie erzeugte" viel Unruhe. Graf Stolberg sagte mir
aber, an ein grundsätzliches und deshalb bedenkliches Nachgeben Bismarcks sei nicht
zu denken.

Meine Geschäfte im Staatsministerium ließen mir reichliche Zeit übrig. Gleich¬
wohl kam ich mit dem tiefern Eindringen in die politischen Angelegenheiten nicht
so schnell vorwärts, wie ich gewünscht und gedacht hatte. Es zeigte sich auch da
die Richtigkeit der alten Erfahrung: je größer die Arbeitslast, desto größer die
Leistung, desto besser kauft man die Zeit aus. Dagegen machte ich mir damals
reichlichere Tagebuchnotizen. Einige davon mögen hier folgen. Nicht daß ich solchen
Aufzeichnungen besondern Wert beimäße. Sie bedeuten nicht mehr als die Wieder¬
gabe der flüchtigen Eindrücke des Augenblicks. Sie tragen ein durchaus subjektives
Gepräge und sind überdies von den Umständen, unter denen sie empfangen werden,
von der Örtlichkeit, den Stimmungen, ja auch von den jeweiligen geselligen Be¬
rührungen mehr abhängig, als das dem, der sie niederschreibe, bewußt zu sein
pflegt. Sie können mithin auf volle Objektivität nur selten Anspruch machen und
siud sehr oft eine mangelhafte Quelle für die sachlich richtige Erfassung und Be¬
urteilung der Wirklichkeit. Aber ganz wertlos sind sie darum doch nicht. Man
muß nur diese ihnen der Natur der Sache nach zukommenden Schranken immer mit
in Betracht zieh". Mit diesem Vorbehalt können sie als Stimmungsbilder ihrer
Zeit von nicht geringem Interesse sein und für die Gewinnung eines objektiv zu¬
treffenden Bildes unter der Voraussetzung wichtige Anhaltpunkte gewähren, daß die
subjektive Wahrhaftigkeit des Beobachters nicht begründeten Zweifeln unterliegt. In
dem Maße, als Eitelkeit, Selbstbespieglnng, Liebedienerei oder andre, seien es be¬
wußte oder unbewußte Tendenzen, diesen beeinflussen, wächst die Unzuverlässigkeit
seiner Notizen. Inwieweit im einzelnen Falle mit diesen psychologischen Einflüssen zu
rechnen ist, das wird der unbefangen prüfende Dritte meist instinktiv herausfühlen.


Tagebuchblätter (^373)

12. August 1878. Nach einer Sitzung des Stadtmisfionskomitees hatte ich
heute ein eingehendes politisches Gespräch mit dem Hofprediger Stöcker. Er hält
trotz des jämmerlichen Erfolges bei den Wahlen an seinen christlich-sozialen Partei¬
bestrebungen fest. Er meint es ehrlich und treu mit dem Volke, aber er irrt sich.
Er täuscht sich auch wohl über seine Begabung, Politik zu treiben. Er will "an


Erinnerungen

Reichstag wurde aufgelöst, und man vertraute der gewaltigen und besonnenen
Energie Bismarcks, Kaum aber war die Auflösung des Reichstags erfolgt, da
erhob ein großer Teil der liuksliberalen Presse ein Gezeter über die drohende
Reaktion. Konnte uns denn irgend etwas andres helfen als eine kraftvolle, gesunde
Reaktion gegen die doktrinäre Verbummelung großer parlamentarischer Fraktionen
und gewisser Regiernngskreise? Wir alle, das ganze Volk, waren mitschuldig an
dem unheilvollen Verlauf der Dinge, das war in weiten Kreisen das Bewußtsein,
mit dem man zu den am 30. Juli stattfindenden Neichstagswnhlen gegangen war.

So war die politische Stimmung, als ich mein neues Amt antrat. Der erste
Anfang war nicht schwer, da sich die meisten Minister noch auf Urlaub fanden. Der
Unterstaatssekretär Homeher reiste noch am Tage meines Eintritts auf vier Wochen
nach Kissingen, sodaß ich gleich mit seiner Vertretung beauftragt wurde. Auch diese
Vertretung gelang bei der willigen Unterstützung, die ich bei dem Geh. Kanzleirat
Insel fand, ohne alle Schwierigkeit. Sogar der alte Geheime Rat v. Wangenheim
schien nichts darin zu finden, daß ich, der jüngere Rat, mit Homeyers Vertretung
betraut worden war. Das war wegen der Anciennität gegen alle Kleiderordnung
und hätte in den andern Ministerien sicher zu Reibungen geführt. Herrn v. Wangen-
Heim schien es aber kühl zu lassen. Er hatte es wohl nach frühern Erfahrungen
kaum anders erwartet. Jedenfalls genierte es mich mehr als ihn.

Zwischen dem Fürsten Bismarck und dem päpstlichen Nuntius in München,
Monsignore Masella, schwebten damals in Kissingen Verhandlungen über eine Bei¬
legung des Kulturkampfes. Sie erzeugte» viel Unruhe. Graf Stolberg sagte mir
aber, an ein grundsätzliches und deshalb bedenkliches Nachgeben Bismarcks sei nicht
zu denken.

Meine Geschäfte im Staatsministerium ließen mir reichliche Zeit übrig. Gleich¬
wohl kam ich mit dem tiefern Eindringen in die politischen Angelegenheiten nicht
so schnell vorwärts, wie ich gewünscht und gedacht hatte. Es zeigte sich auch da
die Richtigkeit der alten Erfahrung: je größer die Arbeitslast, desto größer die
Leistung, desto besser kauft man die Zeit aus. Dagegen machte ich mir damals
reichlichere Tagebuchnotizen. Einige davon mögen hier folgen. Nicht daß ich solchen
Aufzeichnungen besondern Wert beimäße. Sie bedeuten nicht mehr als die Wieder¬
gabe der flüchtigen Eindrücke des Augenblicks. Sie tragen ein durchaus subjektives
Gepräge und sind überdies von den Umständen, unter denen sie empfangen werden,
von der Örtlichkeit, den Stimmungen, ja auch von den jeweiligen geselligen Be¬
rührungen mehr abhängig, als das dem, der sie niederschreibe, bewußt zu sein
pflegt. Sie können mithin auf volle Objektivität nur selten Anspruch machen und
siud sehr oft eine mangelhafte Quelle für die sachlich richtige Erfassung und Be¬
urteilung der Wirklichkeit. Aber ganz wertlos sind sie darum doch nicht. Man
muß nur diese ihnen der Natur der Sache nach zukommenden Schranken immer mit
in Betracht zieh«. Mit diesem Vorbehalt können sie als Stimmungsbilder ihrer
Zeit von nicht geringem Interesse sein und für die Gewinnung eines objektiv zu¬
treffenden Bildes unter der Voraussetzung wichtige Anhaltpunkte gewähren, daß die
subjektive Wahrhaftigkeit des Beobachters nicht begründeten Zweifeln unterliegt. In
dem Maße, als Eitelkeit, Selbstbespieglnng, Liebedienerei oder andre, seien es be¬
wußte oder unbewußte Tendenzen, diesen beeinflussen, wächst die Unzuverlässigkeit
seiner Notizen. Inwieweit im einzelnen Falle mit diesen psychologischen Einflüssen zu
rechnen ist, das wird der unbefangen prüfende Dritte meist instinktiv herausfühlen.


Tagebuchblätter (^373)

12. August 1878. Nach einer Sitzung des Stadtmisfionskomitees hatte ich
heute ein eingehendes politisches Gespräch mit dem Hofprediger Stöcker. Er hält
trotz des jämmerlichen Erfolges bei den Wahlen an seinen christlich-sozialen Partei¬
bestrebungen fest. Er meint es ehrlich und treu mit dem Volke, aber er irrt sich.
Er täuscht sich auch wohl über seine Begabung, Politik zu treiben. Er will „an


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[0168] Erinnerungen Reichstag wurde aufgelöst, und man vertraute der gewaltigen und besonnenen Energie Bismarcks, Kaum aber war die Auflösung des Reichstags erfolgt, da erhob ein großer Teil der liuksliberalen Presse ein Gezeter über die drohende Reaktion. Konnte uns denn irgend etwas andres helfen als eine kraftvolle, gesunde Reaktion gegen die doktrinäre Verbummelung großer parlamentarischer Fraktionen und gewisser Regiernngskreise? Wir alle, das ganze Volk, waren mitschuldig an dem unheilvollen Verlauf der Dinge, das war in weiten Kreisen das Bewußtsein, mit dem man zu den am 30. Juli stattfindenden Neichstagswnhlen gegangen war. So war die politische Stimmung, als ich mein neues Amt antrat. Der erste Anfang war nicht schwer, da sich die meisten Minister noch auf Urlaub fanden. Der Unterstaatssekretär Homeher reiste noch am Tage meines Eintritts auf vier Wochen nach Kissingen, sodaß ich gleich mit seiner Vertretung beauftragt wurde. Auch diese Vertretung gelang bei der willigen Unterstützung, die ich bei dem Geh. Kanzleirat Insel fand, ohne alle Schwierigkeit. Sogar der alte Geheime Rat v. Wangenheim schien nichts darin zu finden, daß ich, der jüngere Rat, mit Homeyers Vertretung betraut worden war. Das war wegen der Anciennität gegen alle Kleiderordnung und hätte in den andern Ministerien sicher zu Reibungen geführt. Herrn v. Wangen- Heim schien es aber kühl zu lassen. Er hatte es wohl nach frühern Erfahrungen kaum anders erwartet. Jedenfalls genierte es mich mehr als ihn. Zwischen dem Fürsten Bismarck und dem päpstlichen Nuntius in München, Monsignore Masella, schwebten damals in Kissingen Verhandlungen über eine Bei¬ legung des Kulturkampfes. Sie erzeugte» viel Unruhe. Graf Stolberg sagte mir aber, an ein grundsätzliches und deshalb bedenkliches Nachgeben Bismarcks sei nicht zu denken. Meine Geschäfte im Staatsministerium ließen mir reichliche Zeit übrig. Gleich¬ wohl kam ich mit dem tiefern Eindringen in die politischen Angelegenheiten nicht so schnell vorwärts, wie ich gewünscht und gedacht hatte. Es zeigte sich auch da die Richtigkeit der alten Erfahrung: je größer die Arbeitslast, desto größer die Leistung, desto besser kauft man die Zeit aus. Dagegen machte ich mir damals reichlichere Tagebuchnotizen. Einige davon mögen hier folgen. Nicht daß ich solchen Aufzeichnungen besondern Wert beimäße. Sie bedeuten nicht mehr als die Wieder¬ gabe der flüchtigen Eindrücke des Augenblicks. Sie tragen ein durchaus subjektives Gepräge und sind überdies von den Umständen, unter denen sie empfangen werden, von der Örtlichkeit, den Stimmungen, ja auch von den jeweiligen geselligen Be¬ rührungen mehr abhängig, als das dem, der sie niederschreibe, bewußt zu sein pflegt. Sie können mithin auf volle Objektivität nur selten Anspruch machen und siud sehr oft eine mangelhafte Quelle für die sachlich richtige Erfassung und Be¬ urteilung der Wirklichkeit. Aber ganz wertlos sind sie darum doch nicht. Man muß nur diese ihnen der Natur der Sache nach zukommenden Schranken immer mit in Betracht zieh«. Mit diesem Vorbehalt können sie als Stimmungsbilder ihrer Zeit von nicht geringem Interesse sein und für die Gewinnung eines objektiv zu¬ treffenden Bildes unter der Voraussetzung wichtige Anhaltpunkte gewähren, daß die subjektive Wahrhaftigkeit des Beobachters nicht begründeten Zweifeln unterliegt. In dem Maße, als Eitelkeit, Selbstbespieglnng, Liebedienerei oder andre, seien es be¬ wußte oder unbewußte Tendenzen, diesen beeinflussen, wächst die Unzuverlässigkeit seiner Notizen. Inwieweit im einzelnen Falle mit diesen psychologischen Einflüssen zu rechnen ist, das wird der unbefangen prüfende Dritte meist instinktiv herausfühlen. Tagebuchblätter (^373) 12. August 1878. Nach einer Sitzung des Stadtmisfionskomitees hatte ich heute ein eingehendes politisches Gespräch mit dem Hofprediger Stöcker. Er hält trotz des jämmerlichen Erfolges bei den Wahlen an seinen christlich-sozialen Partei¬ bestrebungen fest. Er meint es ehrlich und treu mit dem Volke, aber er irrt sich. Er täuscht sich auch wohl über seine Begabung, Politik zu treiben. Er will „an

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/168>, abgerufen am 13.11.2024.