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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr.

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Erinnerungen

in Berlin, am Hofe und im Staatsministerium waren für mich von großem Interesse,
und da er gut erzählte und seine Person bescheiden zurücktreten ließ, hörte ich ihm
gern zu. Er besaß eine Privatsammlung aller auf den Geschäftsgang im Staats¬
ministerium bezüglichen Kabinettsorders, Erlasse und Verfügungen, die begreiflicher¬
weise sehr instruktiv für mich war. Eines Tages überraschte er mich mit einer
saubern Abschrift dieser Sammlung, die er für mich hatte anfertigen lassen. Dadurch
wurde ich auf diesem Gebiete schnell und leicht orientiert, sodaß ich zum nicht ge¬
ringen Erstaunen des Untcrstaatssekretärs bald annähernd ebensogut Bescheid wußte,
wie er selbst. Kurz, der alte Geheimrat Insel unterstützte mich nach Kräften und
chüele mir, wo er nur konnte, den Weg. Er feierte beim Staatsministerium noch
sein Jubiläum und erhielt dabei den Kronenorden zweiter Klasse. Als er später seine
Pensionierung nachsuchte, bekam er sogar den Roten Adlerorden zweiter Klasse, für
einen Bnreaubcamten eine ganz ungewöhnliche Auszeichnung. Ich habe ihn, auch
als er schon in den Ruhestand getreten und ich in den Reichsdienst übernommen war,
bis zu seinem Tode noch öfters besucht und werde sein Andenken immer dankbar in
Ehren halten.

Präsident des Staatsministeriums war Fürst Bismarck. Es war deshalb meine
Pflicht, mich bei ihm zu melden. Er war aber zu Ende Juli 1878 nicht in Berlin,
sondern, wenn ich nicht irre, in Kissingen. Infolgedessen meldete ich mich schriftlich
bei ihm in der militärischen Form, wie ich sie als Offizier gewöhnt war. Es war
mir gesagt worden, daß der Fürst auf diese Meldungen seiner Untergebnen Wert
lege, auch wenn er diese persönlich nicht kannte. Natürlich dachte ich damals nicht
daran, daß ich durch meine amtliche Stellung auch einmal in persönliche Berührung
mit dem Fürsten Bismarck kommen könnte. Dazu war der Abstand viel zu groß,
er zu hoch, ich zu klein. Aber der Gedanke, daß ich der Untergebne des Fürsten
geworden sei, schloß doch die Erkenntnis in sich, daß ich nunmehr einer wesentlich
politischen Behörde angehörte. In meinen Tagebuchnotizen zeigt sich dieses nun¬
mehr bei mir in den Vordergrund getretene politische Interesse ganz deutlich.

Freilich war auch die Zeit danach angetan, jeden, der sein Vaterland liebte,
mit banger politischer Sorge zu erfüllen. Was hatten wir in den letzten Monaten
nicht alles erlebt! Zuerst gegen Ende April das Attentat Hotels auf unsern lieben
alten Kaiser Wilhelm. Zehn Minuten vor dem Attentat sah ich, Mittags vom
Ministerium kommend, den Kaiser mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden,
im zweispcinnigen Wagen über den Lützowplatz fahren und freute mich über die
schlichte einfache Erscheinung des Kaisers und seiner Tochter. Kaum eine halbe
Stunde später erfuhren wir die Nachricht von dem Attentat. Sie erfüllte uns und
die überwiegende Menge der Berliner Bevölkerung mit Bestürzung, Schrecken und
Abscheu. Es ging eine ehrliche, gesunde Entrüstung und Erregung durch unser
Volk. Blitzartig beleuchtete die Untat Hotels den Abgrund sittlicher Verwilderung,
in den uns die materialistische Richtung der Zeit hineingeführt hatte und noch tiefer
hineinzuführen drohte, falls es nicht gelang, Einhalt zu tun. Immerhin war es
ein Trost, daß der Kaiser nicht getroffen war. Da geschah am 2. Juni das Un¬
erhörte, Unglaubliche, das mörderische Attentat Nobilings. Berlin war wie erstarrt.
Wieder war der Täter ein Sozialdemokrat, diesesmal aber ein gebildeter Mensch,
ein promovierter Doktor; unser Kaiser war von Rehposten und Schroten entsetzlich
verletzt. Wie einem Stück Wild hatte der Verbrecher ihm aufgelauert, um den
Ahnungslosen aus dem Hinterhalt des Hauses Ur. 13 Unter den Linden tückisch
niederzustrecken. Es war wie ein sichtbares Wunder, daß die Verwundungen des
geliebten alten Herrn nicht noch viel schlimmer waren. Dennoch lag er schwer
danieder. Das Blut des Königs war geflossen und sein Leben in äußerster Gefahr.
Nun endlich erreichte die Aufregung in der Hauptstadt und im Lande den Höhe-
punkt. Hatte der Reichstag vorher das nach dem Hödelschen Attentate vorgelegte
Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ab¬
gelehnt, so erhob sich nnn ein allgemeines Geschrei gegen die Sozialdemokratie. Der


Erinnerungen

in Berlin, am Hofe und im Staatsministerium waren für mich von großem Interesse,
und da er gut erzählte und seine Person bescheiden zurücktreten ließ, hörte ich ihm
gern zu. Er besaß eine Privatsammlung aller auf den Geschäftsgang im Staats¬
ministerium bezüglichen Kabinettsorders, Erlasse und Verfügungen, die begreiflicher¬
weise sehr instruktiv für mich war. Eines Tages überraschte er mich mit einer
saubern Abschrift dieser Sammlung, die er für mich hatte anfertigen lassen. Dadurch
wurde ich auf diesem Gebiete schnell und leicht orientiert, sodaß ich zum nicht ge¬
ringen Erstaunen des Untcrstaatssekretärs bald annähernd ebensogut Bescheid wußte,
wie er selbst. Kurz, der alte Geheimrat Insel unterstützte mich nach Kräften und
chüele mir, wo er nur konnte, den Weg. Er feierte beim Staatsministerium noch
sein Jubiläum und erhielt dabei den Kronenorden zweiter Klasse. Als er später seine
Pensionierung nachsuchte, bekam er sogar den Roten Adlerorden zweiter Klasse, für
einen Bnreaubcamten eine ganz ungewöhnliche Auszeichnung. Ich habe ihn, auch
als er schon in den Ruhestand getreten und ich in den Reichsdienst übernommen war,
bis zu seinem Tode noch öfters besucht und werde sein Andenken immer dankbar in
Ehren halten.

Präsident des Staatsministeriums war Fürst Bismarck. Es war deshalb meine
Pflicht, mich bei ihm zu melden. Er war aber zu Ende Juli 1878 nicht in Berlin,
sondern, wenn ich nicht irre, in Kissingen. Infolgedessen meldete ich mich schriftlich
bei ihm in der militärischen Form, wie ich sie als Offizier gewöhnt war. Es war
mir gesagt worden, daß der Fürst auf diese Meldungen seiner Untergebnen Wert
lege, auch wenn er diese persönlich nicht kannte. Natürlich dachte ich damals nicht
daran, daß ich durch meine amtliche Stellung auch einmal in persönliche Berührung
mit dem Fürsten Bismarck kommen könnte. Dazu war der Abstand viel zu groß,
er zu hoch, ich zu klein. Aber der Gedanke, daß ich der Untergebne des Fürsten
geworden sei, schloß doch die Erkenntnis in sich, daß ich nunmehr einer wesentlich
politischen Behörde angehörte. In meinen Tagebuchnotizen zeigt sich dieses nun¬
mehr bei mir in den Vordergrund getretene politische Interesse ganz deutlich.

Freilich war auch die Zeit danach angetan, jeden, der sein Vaterland liebte,
mit banger politischer Sorge zu erfüllen. Was hatten wir in den letzten Monaten
nicht alles erlebt! Zuerst gegen Ende April das Attentat Hotels auf unsern lieben
alten Kaiser Wilhelm. Zehn Minuten vor dem Attentat sah ich, Mittags vom
Ministerium kommend, den Kaiser mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden,
im zweispcinnigen Wagen über den Lützowplatz fahren und freute mich über die
schlichte einfache Erscheinung des Kaisers und seiner Tochter. Kaum eine halbe
Stunde später erfuhren wir die Nachricht von dem Attentat. Sie erfüllte uns und
die überwiegende Menge der Berliner Bevölkerung mit Bestürzung, Schrecken und
Abscheu. Es ging eine ehrliche, gesunde Entrüstung und Erregung durch unser
Volk. Blitzartig beleuchtete die Untat Hotels den Abgrund sittlicher Verwilderung,
in den uns die materialistische Richtung der Zeit hineingeführt hatte und noch tiefer
hineinzuführen drohte, falls es nicht gelang, Einhalt zu tun. Immerhin war es
ein Trost, daß der Kaiser nicht getroffen war. Da geschah am 2. Juni das Un¬
erhörte, Unglaubliche, das mörderische Attentat Nobilings. Berlin war wie erstarrt.
Wieder war der Täter ein Sozialdemokrat, diesesmal aber ein gebildeter Mensch,
ein promovierter Doktor; unser Kaiser war von Rehposten und Schroten entsetzlich
verletzt. Wie einem Stück Wild hatte der Verbrecher ihm aufgelauert, um den
Ahnungslosen aus dem Hinterhalt des Hauses Ur. 13 Unter den Linden tückisch
niederzustrecken. Es war wie ein sichtbares Wunder, daß die Verwundungen des
geliebten alten Herrn nicht noch viel schlimmer waren. Dennoch lag er schwer
danieder. Das Blut des Königs war geflossen und sein Leben in äußerster Gefahr.
Nun endlich erreichte die Aufregung in der Hauptstadt und im Lande den Höhe-
punkt. Hatte der Reichstag vorher das nach dem Hödelschen Attentate vorgelegte
Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ab¬
gelehnt, so erhob sich nnn ein allgemeines Geschrei gegen die Sozialdemokratie. Der


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[0167] Erinnerungen in Berlin, am Hofe und im Staatsministerium waren für mich von großem Interesse, und da er gut erzählte und seine Person bescheiden zurücktreten ließ, hörte ich ihm gern zu. Er besaß eine Privatsammlung aller auf den Geschäftsgang im Staats¬ ministerium bezüglichen Kabinettsorders, Erlasse und Verfügungen, die begreiflicher¬ weise sehr instruktiv für mich war. Eines Tages überraschte er mich mit einer saubern Abschrift dieser Sammlung, die er für mich hatte anfertigen lassen. Dadurch wurde ich auf diesem Gebiete schnell und leicht orientiert, sodaß ich zum nicht ge¬ ringen Erstaunen des Untcrstaatssekretärs bald annähernd ebensogut Bescheid wußte, wie er selbst. Kurz, der alte Geheimrat Insel unterstützte mich nach Kräften und chüele mir, wo er nur konnte, den Weg. Er feierte beim Staatsministerium noch sein Jubiläum und erhielt dabei den Kronenorden zweiter Klasse. Als er später seine Pensionierung nachsuchte, bekam er sogar den Roten Adlerorden zweiter Klasse, für einen Bnreaubcamten eine ganz ungewöhnliche Auszeichnung. Ich habe ihn, auch als er schon in den Ruhestand getreten und ich in den Reichsdienst übernommen war, bis zu seinem Tode noch öfters besucht und werde sein Andenken immer dankbar in Ehren halten. Präsident des Staatsministeriums war Fürst Bismarck. Es war deshalb meine Pflicht, mich bei ihm zu melden. Er war aber zu Ende Juli 1878 nicht in Berlin, sondern, wenn ich nicht irre, in Kissingen. Infolgedessen meldete ich mich schriftlich bei ihm in der militärischen Form, wie ich sie als Offizier gewöhnt war. Es war mir gesagt worden, daß der Fürst auf diese Meldungen seiner Untergebnen Wert lege, auch wenn er diese persönlich nicht kannte. Natürlich dachte ich damals nicht daran, daß ich durch meine amtliche Stellung auch einmal in persönliche Berührung mit dem Fürsten Bismarck kommen könnte. Dazu war der Abstand viel zu groß, er zu hoch, ich zu klein. Aber der Gedanke, daß ich der Untergebne des Fürsten geworden sei, schloß doch die Erkenntnis in sich, daß ich nunmehr einer wesentlich politischen Behörde angehörte. In meinen Tagebuchnotizen zeigt sich dieses nun¬ mehr bei mir in den Vordergrund getretene politische Interesse ganz deutlich. Freilich war auch die Zeit danach angetan, jeden, der sein Vaterland liebte, mit banger politischer Sorge zu erfüllen. Was hatten wir in den letzten Monaten nicht alles erlebt! Zuerst gegen Ende April das Attentat Hotels auf unsern lieben alten Kaiser Wilhelm. Zehn Minuten vor dem Attentat sah ich, Mittags vom Ministerium kommend, den Kaiser mit seiner Tochter, der Großherzogin von Baden, im zweispcinnigen Wagen über den Lützowplatz fahren und freute mich über die schlichte einfache Erscheinung des Kaisers und seiner Tochter. Kaum eine halbe Stunde später erfuhren wir die Nachricht von dem Attentat. Sie erfüllte uns und die überwiegende Menge der Berliner Bevölkerung mit Bestürzung, Schrecken und Abscheu. Es ging eine ehrliche, gesunde Entrüstung und Erregung durch unser Volk. Blitzartig beleuchtete die Untat Hotels den Abgrund sittlicher Verwilderung, in den uns die materialistische Richtung der Zeit hineingeführt hatte und noch tiefer hineinzuführen drohte, falls es nicht gelang, Einhalt zu tun. Immerhin war es ein Trost, daß der Kaiser nicht getroffen war. Da geschah am 2. Juni das Un¬ erhörte, Unglaubliche, das mörderische Attentat Nobilings. Berlin war wie erstarrt. Wieder war der Täter ein Sozialdemokrat, diesesmal aber ein gebildeter Mensch, ein promovierter Doktor; unser Kaiser war von Rehposten und Schroten entsetzlich verletzt. Wie einem Stück Wild hatte der Verbrecher ihm aufgelauert, um den Ahnungslosen aus dem Hinterhalt des Hauses Ur. 13 Unter den Linden tückisch niederzustrecken. Es war wie ein sichtbares Wunder, daß die Verwundungen des geliebten alten Herrn nicht noch viel schlimmer waren. Dennoch lag er schwer danieder. Das Blut des Königs war geflossen und sein Leben in äußerster Gefahr. Nun endlich erreichte die Aufregung in der Hauptstadt und im Lande den Höhe- punkt. Hatte der Reichstag vorher das nach dem Hödelschen Attentate vorgelegte Ausnahmegesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie ab¬ gelehnt, so erhob sich nnn ein allgemeines Geschrei gegen die Sozialdemokratie. Der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_293618/167>, abgerufen am 30.06.2024.