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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Die familiengeschichtliche Forschung

hat zu keiner Zeit nach Karl dem Großen die Nation ganz, wie in Frank¬
reich und England, in sich verkörpert. Es ist deshalb kein Zufall, daß wir
in der deutschen Geschichte nichts der königlichen Gabe ähnliches finden. Dafür
sind uns auch wenigstens die Staatsumwälzungen erspart geblieben, die durch
den ganzen Vorstellungskreis notwendig wurden, worin allein der Glaube an
die königliche Gabe erwachsen konnte.




Die familiengeschichtliche Forschung

in Deutschen Herold, der bekannten Zeitschrift für Wappen-, Siegel-
und Familienkunde, wurde vor einiger Zeit (Septembernummer 1903)
zur Vorsicht in familiengeschichtlichen Forschungen gemahnt, und
zwar im Hinblick aus einen Aufruf zu der Zusammenkunft einer
bürgerlichen Familie, die angeblich ihre Abstammung bis ins
Jahr 1379 festgestellt hat. Ohne zu bestreiten, daß sich vielleicht Träger des
Namens dieser Familie bis ins vierzehnte Jahrhundert nachweisen ließen, wurde
darauf hingewiesen, daß für jeden Stammbaum ausschließlich urkundliche Belege,
M der Hauptsache also Geburth- und Sterbeurkunden zugrunde gelegt und alle
"och so verlockenden Vermutungen verworfen werden müßten, wenn die Forschung
von der Wissenschaft der Genealogie ernst genommen zu werden wünsche. Zü¬
rich bemerkte die Schriftleitung zur Sache, daß einzelne bürgerliche Geschlechter,
Namentlich städtische, ihre Stammtafel bis ins vierzehnte Jahrhundert mit Sicher¬
heit feststellen könnten, daß solche Fälle aber zu den Ausnahmen gehörten.

Diese Mahnung gibt Veranlassung, den heutigen Stand der familiengeschicht¬
lichen Forschung der bürgerlichen Geschlechter den Lesern der Grenzboten in
^rzen Umrissen vorzuführen, besonders da dieser Zweig der Geschichte noch ver¬
hältnismäßig jung und die Genealogie eigentlich erst in den letzten Jahren auf
die bürgerlichen Familien ausgedehnt worden ist. Die adlichen Geschlechter
haben von jeher auf die Erforschung ihrer Familiengeschichte schon deshalb mehr
Wert gelegt, weil mit dem urkundlichen Nachweis einer bestimmten Ahnenreihe
"7 abgesehen von dem Glänze und Ruhme des Geschlechts -- mancherlei Vor-
^ne materieller Art, zum Beispiel in Stifts- und Erbschaftssachen, verbunden
^ind, die den einzelnen Gliedern zugute kommen können. Seit Jahrhunderten
haben sich deshalb die Gelehrten damit abgegeben, die Ahnentafeln der Ge¬
schlechter des Adels aufzustellen und dessen Stammbäume bis in die graue Vor-
hinaus zu verfolgen. Die Phantasie spielte dabei allerdings oft eine große
^olle, und es wirkt in unsern Tagen manchmal geradezu komisch, wenn irgend
^u alter Genealoge alles Ernstes die Wurzeln eines Adelsgeschlechts bis auf
^"ri den Großen oder bis zur Völkerwandrung, ja bis in die Römerzeit zurück¬
zuführen weiß. Das verflossene Jahrhundert hat auch auf diesem Gebiete
Mündlich aufgeräumt, an die Stelle haltloser Phantasien und Hypothesen ist


Die familiengeschichtliche Forschung

hat zu keiner Zeit nach Karl dem Großen die Nation ganz, wie in Frank¬
reich und England, in sich verkörpert. Es ist deshalb kein Zufall, daß wir
in der deutschen Geschichte nichts der königlichen Gabe ähnliches finden. Dafür
sind uns auch wenigstens die Staatsumwälzungen erspart geblieben, die durch
den ganzen Vorstellungskreis notwendig wurden, worin allein der Glaube an
die königliche Gabe erwachsen konnte.




Die familiengeschichtliche Forschung

in Deutschen Herold, der bekannten Zeitschrift für Wappen-, Siegel-
und Familienkunde, wurde vor einiger Zeit (Septembernummer 1903)
zur Vorsicht in familiengeschichtlichen Forschungen gemahnt, und
zwar im Hinblick aus einen Aufruf zu der Zusammenkunft einer
bürgerlichen Familie, die angeblich ihre Abstammung bis ins
Jahr 1379 festgestellt hat. Ohne zu bestreiten, daß sich vielleicht Träger des
Namens dieser Familie bis ins vierzehnte Jahrhundert nachweisen ließen, wurde
darauf hingewiesen, daß für jeden Stammbaum ausschließlich urkundliche Belege,
M der Hauptsache also Geburth- und Sterbeurkunden zugrunde gelegt und alle
»och so verlockenden Vermutungen verworfen werden müßten, wenn die Forschung
von der Wissenschaft der Genealogie ernst genommen zu werden wünsche. Zü¬
rich bemerkte die Schriftleitung zur Sache, daß einzelne bürgerliche Geschlechter,
Namentlich städtische, ihre Stammtafel bis ins vierzehnte Jahrhundert mit Sicher¬
heit feststellen könnten, daß solche Fälle aber zu den Ausnahmen gehörten.

Diese Mahnung gibt Veranlassung, den heutigen Stand der familiengeschicht¬
lichen Forschung der bürgerlichen Geschlechter den Lesern der Grenzboten in
^rzen Umrissen vorzuführen, besonders da dieser Zweig der Geschichte noch ver¬
hältnismäßig jung und die Genealogie eigentlich erst in den letzten Jahren auf
die bürgerlichen Familien ausgedehnt worden ist. Die adlichen Geschlechter
haben von jeher auf die Erforschung ihrer Familiengeschichte schon deshalb mehr
Wert gelegt, weil mit dem urkundlichen Nachweis einer bestimmten Ahnenreihe
"7 abgesehen von dem Glänze und Ruhme des Geschlechts — mancherlei Vor-
^ne materieller Art, zum Beispiel in Stifts- und Erbschaftssachen, verbunden
^ind, die den einzelnen Gliedern zugute kommen können. Seit Jahrhunderten
haben sich deshalb die Gelehrten damit abgegeben, die Ahnentafeln der Ge¬
schlechter des Adels aufzustellen und dessen Stammbäume bis in die graue Vor-
hinaus zu verfolgen. Die Phantasie spielte dabei allerdings oft eine große
^olle, und es wirkt in unsern Tagen manchmal geradezu komisch, wenn irgend
^u alter Genealoge alles Ernstes die Wurzeln eines Adelsgeschlechts bis auf
^"ri den Großen oder bis zur Völkerwandrung, ja bis in die Römerzeit zurück¬
zuführen weiß. Das verflossene Jahrhundert hat auch auf diesem Gebiete
Mündlich aufgeräumt, an die Stelle haltloser Phantasien und Hypothesen ist


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[0781] Die familiengeschichtliche Forschung hat zu keiner Zeit nach Karl dem Großen die Nation ganz, wie in Frank¬ reich und England, in sich verkörpert. Es ist deshalb kein Zufall, daß wir in der deutschen Geschichte nichts der königlichen Gabe ähnliches finden. Dafür sind uns auch wenigstens die Staatsumwälzungen erspart geblieben, die durch den ganzen Vorstellungskreis notwendig wurden, worin allein der Glaube an die königliche Gabe erwachsen konnte. Die familiengeschichtliche Forschung in Deutschen Herold, der bekannten Zeitschrift für Wappen-, Siegel- und Familienkunde, wurde vor einiger Zeit (Septembernummer 1903) zur Vorsicht in familiengeschichtlichen Forschungen gemahnt, und zwar im Hinblick aus einen Aufruf zu der Zusammenkunft einer bürgerlichen Familie, die angeblich ihre Abstammung bis ins Jahr 1379 festgestellt hat. Ohne zu bestreiten, daß sich vielleicht Träger des Namens dieser Familie bis ins vierzehnte Jahrhundert nachweisen ließen, wurde darauf hingewiesen, daß für jeden Stammbaum ausschließlich urkundliche Belege, M der Hauptsache also Geburth- und Sterbeurkunden zugrunde gelegt und alle »och so verlockenden Vermutungen verworfen werden müßten, wenn die Forschung von der Wissenschaft der Genealogie ernst genommen zu werden wünsche. Zü¬ rich bemerkte die Schriftleitung zur Sache, daß einzelne bürgerliche Geschlechter, Namentlich städtische, ihre Stammtafel bis ins vierzehnte Jahrhundert mit Sicher¬ heit feststellen könnten, daß solche Fälle aber zu den Ausnahmen gehörten. Diese Mahnung gibt Veranlassung, den heutigen Stand der familiengeschicht¬ lichen Forschung der bürgerlichen Geschlechter den Lesern der Grenzboten in ^rzen Umrissen vorzuführen, besonders da dieser Zweig der Geschichte noch ver¬ hältnismäßig jung und die Genealogie eigentlich erst in den letzten Jahren auf die bürgerlichen Familien ausgedehnt worden ist. Die adlichen Geschlechter haben von jeher auf die Erforschung ihrer Familiengeschichte schon deshalb mehr Wert gelegt, weil mit dem urkundlichen Nachweis einer bestimmten Ahnenreihe "7 abgesehen von dem Glänze und Ruhme des Geschlechts — mancherlei Vor- ^ne materieller Art, zum Beispiel in Stifts- und Erbschaftssachen, verbunden ^ind, die den einzelnen Gliedern zugute kommen können. Seit Jahrhunderten haben sich deshalb die Gelehrten damit abgegeben, die Ahnentafeln der Ge¬ schlechter des Adels aufzustellen und dessen Stammbäume bis in die graue Vor- hinaus zu verfolgen. Die Phantasie spielte dabei allerdings oft eine große ^olle, und es wirkt in unsern Tagen manchmal geradezu komisch, wenn irgend ^u alter Genealoge alles Ernstes die Wurzeln eines Adelsgeschlechts bis auf ^"ri den Großen oder bis zur Völkerwandrung, ja bis in die Römerzeit zurück¬ zuführen weiß. Das verflossene Jahrhundert hat auch auf diesem Gebiete Mündlich aufgeräumt, an die Stelle haltloser Phantasien und Hypothesen ist

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/781>, abgerufen am 29.06.2024.