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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Der Tod des Herzogs von Lnghien

in Tiere und Pflanzen und wird in dem Maße inniger und vielgestaltiger,
als sich die lebenden Wesen immer feiner organisieren. Tiere nähren sich von
andern Tieren und von Pflanzen, viele Tiere leben als Schmarotzer von
andern oder in Symbiose mit andern; manche Arten leben in Herden, andre
in wohlorganisierten Staaten zusammen; Pflanzen werden von Insekten be¬
fruchtet. In der menschlichen Gesellschaft gipfelt diese Integration. Nachdem
er die Zukunftsaussichteu des Menschengeschlechts, namentlich in Beziehung
auf das Maß seiner Vermehrung, ausführlich erörtert hat, schließt er, in die
Soziologie übergreifend, das Werk mit den Worten: "Unser Endergebnis ist,
daß im Menschengeschlecht alle diese Ausgleichungen (öMiMratioris) zwischen
Konstitution und äußern Bedingungen, zwischen der Struktur der Gesellschaft
und der Natur ihrer Glieder, zwischen Fruchtbarkeit und Sterblichkeit zugleich
einem gemeinsamen Ziele zustreben. Indem sich der Mensch dem Gleich¬
gewicht zwischen seiner Natur und den stetig wechselnden Umstünden nähert
und auch dem Gleichgewicht zwischen seiner Natur und den Anforderungen der
Gesellschaft, nähert er sich zugleich jener untersten Grenze der Fruchtbarkeit,
die die Bevölkerung im Gleichgewicht erhält, indem immer gerade so viel
Kinder geboren werden, als Erwachsne sterben. Aber in einem Universum,
dessen Teile beständig in Bewegung sind, sodaß jeder einzelne Teil einem be¬
ständigen Wechsel der Daseinsbedingungen unterworfen bleibt, kann weder
dieser noch irgend ein andrer Gleichgewichtszustand jemals vollkommen werden."




Der Tod des Herzogs von Gnghien
Zur Erinnerung an den 2^. März IMH von Walter Berg

Les, ol-i.den'! , . . Koi'vom. o^oss!

u den denkwürdigen Tagen, deren Gedächtnis das neue Jahr in
uns wachruft, gehört auch der 21. März. Hundert Jahre sind
verflossen, seitdem in der nebligen Nacht vom 20. zum 21. März
der Herzog von Enghien im Festungsgraben zu Vincennes als
schuldloses Opfer napoleonischer Herrschsucht unter den Kugeln der
Gendarmen siel. Keine Tat hat auf Napoleons Leben einen so schwarzen
Schatten geworfen wie diese; keine scheint darum auch sein Gewissen so schwer
belastet zu haben, denn er war später aufs eifrigste bemüht, sie in mildern
Lichte darzustellen. Auch die Hinrichtungen Palus und Hofers waren Gewalt¬
taten, aber es läßt sich für sie doch wenigstens ein Schein der Rechtfertigung
finden, denn Palm wurde nach wirklich bestehenden Gesetzen gerichtet, deren
Anwendung auf seinen Fall freilich eine tyrannische Willkür war, und Hofers
Tod entschied der Spruch eines wenigstens in der Form regelrechten Kriegs¬
gerichts. Die Erschießung Enghiens aber läßt sich in keiner Weise entschul-


Der Tod des Herzogs von Lnghien

in Tiere und Pflanzen und wird in dem Maße inniger und vielgestaltiger,
als sich die lebenden Wesen immer feiner organisieren. Tiere nähren sich von
andern Tieren und von Pflanzen, viele Tiere leben als Schmarotzer von
andern oder in Symbiose mit andern; manche Arten leben in Herden, andre
in wohlorganisierten Staaten zusammen; Pflanzen werden von Insekten be¬
fruchtet. In der menschlichen Gesellschaft gipfelt diese Integration. Nachdem
er die Zukunftsaussichteu des Menschengeschlechts, namentlich in Beziehung
auf das Maß seiner Vermehrung, ausführlich erörtert hat, schließt er, in die
Soziologie übergreifend, das Werk mit den Worten: „Unser Endergebnis ist,
daß im Menschengeschlecht alle diese Ausgleichungen (öMiMratioris) zwischen
Konstitution und äußern Bedingungen, zwischen der Struktur der Gesellschaft
und der Natur ihrer Glieder, zwischen Fruchtbarkeit und Sterblichkeit zugleich
einem gemeinsamen Ziele zustreben. Indem sich der Mensch dem Gleich¬
gewicht zwischen seiner Natur und den stetig wechselnden Umstünden nähert
und auch dem Gleichgewicht zwischen seiner Natur und den Anforderungen der
Gesellschaft, nähert er sich zugleich jener untersten Grenze der Fruchtbarkeit,
die die Bevölkerung im Gleichgewicht erhält, indem immer gerade so viel
Kinder geboren werden, als Erwachsne sterben. Aber in einem Universum,
dessen Teile beständig in Bewegung sind, sodaß jeder einzelne Teil einem be¬
ständigen Wechsel der Daseinsbedingungen unterworfen bleibt, kann weder
dieser noch irgend ein andrer Gleichgewichtszustand jemals vollkommen werden."




Der Tod des Herzogs von Gnghien
Zur Erinnerung an den 2^. März IMH von Walter Berg

Les, ol-i.den'! , . . Koi'vom. o^oss!

u den denkwürdigen Tagen, deren Gedächtnis das neue Jahr in
uns wachruft, gehört auch der 21. März. Hundert Jahre sind
verflossen, seitdem in der nebligen Nacht vom 20. zum 21. März
der Herzog von Enghien im Festungsgraben zu Vincennes als
schuldloses Opfer napoleonischer Herrschsucht unter den Kugeln der
Gendarmen siel. Keine Tat hat auf Napoleons Leben einen so schwarzen
Schatten geworfen wie diese; keine scheint darum auch sein Gewissen so schwer
belastet zu haben, denn er war später aufs eifrigste bemüht, sie in mildern
Lichte darzustellen. Auch die Hinrichtungen Palus und Hofers waren Gewalt¬
taten, aber es läßt sich für sie doch wenigstens ein Schein der Rechtfertigung
finden, denn Palm wurde nach wirklich bestehenden Gesetzen gerichtet, deren
Anwendung auf seinen Fall freilich eine tyrannische Willkür war, und Hofers
Tod entschied der Spruch eines wenigstens in der Form regelrechten Kriegs¬
gerichts. Die Erschießung Enghiens aber läßt sich in keiner Weise entschul-


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[0593] Der Tod des Herzogs von Lnghien in Tiere und Pflanzen und wird in dem Maße inniger und vielgestaltiger, als sich die lebenden Wesen immer feiner organisieren. Tiere nähren sich von andern Tieren und von Pflanzen, viele Tiere leben als Schmarotzer von andern oder in Symbiose mit andern; manche Arten leben in Herden, andre in wohlorganisierten Staaten zusammen; Pflanzen werden von Insekten be¬ fruchtet. In der menschlichen Gesellschaft gipfelt diese Integration. Nachdem er die Zukunftsaussichteu des Menschengeschlechts, namentlich in Beziehung auf das Maß seiner Vermehrung, ausführlich erörtert hat, schließt er, in die Soziologie übergreifend, das Werk mit den Worten: „Unser Endergebnis ist, daß im Menschengeschlecht alle diese Ausgleichungen (öMiMratioris) zwischen Konstitution und äußern Bedingungen, zwischen der Struktur der Gesellschaft und der Natur ihrer Glieder, zwischen Fruchtbarkeit und Sterblichkeit zugleich einem gemeinsamen Ziele zustreben. Indem sich der Mensch dem Gleich¬ gewicht zwischen seiner Natur und den stetig wechselnden Umstünden nähert und auch dem Gleichgewicht zwischen seiner Natur und den Anforderungen der Gesellschaft, nähert er sich zugleich jener untersten Grenze der Fruchtbarkeit, die die Bevölkerung im Gleichgewicht erhält, indem immer gerade so viel Kinder geboren werden, als Erwachsne sterben. Aber in einem Universum, dessen Teile beständig in Bewegung sind, sodaß jeder einzelne Teil einem be¬ ständigen Wechsel der Daseinsbedingungen unterworfen bleibt, kann weder dieser noch irgend ein andrer Gleichgewichtszustand jemals vollkommen werden." Der Tod des Herzogs von Gnghien Zur Erinnerung an den 2^. März IMH von Walter Berg Les, ol-i.den'! , . . Koi'vom. o^oss! u den denkwürdigen Tagen, deren Gedächtnis das neue Jahr in uns wachruft, gehört auch der 21. März. Hundert Jahre sind verflossen, seitdem in der nebligen Nacht vom 20. zum 21. März der Herzog von Enghien im Festungsgraben zu Vincennes als schuldloses Opfer napoleonischer Herrschsucht unter den Kugeln der Gendarmen siel. Keine Tat hat auf Napoleons Leben einen so schwarzen Schatten geworfen wie diese; keine scheint darum auch sein Gewissen so schwer belastet zu haben, denn er war später aufs eifrigste bemüht, sie in mildern Lichte darzustellen. Auch die Hinrichtungen Palus und Hofers waren Gewalt¬ taten, aber es läßt sich für sie doch wenigstens ein Schein der Rechtfertigung finden, denn Palm wurde nach wirklich bestehenden Gesetzen gerichtet, deren Anwendung auf seinen Fall freilich eine tyrannische Willkür war, und Hofers Tod entschied der Spruch eines wenigstens in der Form regelrechten Kriegs¬ gerichts. Die Erschießung Enghiens aber läßt sich in keiner Weise entschul-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/593>, abgerufen am 29.06.2024.