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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Aus deutschem Volksmunde

Altersruhe Platz. Die Matrone, in der Mitte ihrer Kinder und Kindeskinder
im Schlosse zu Nohant, bot Freunden und Besuchern ein sympathisches Bild.
Dieser stimmungsvolle Lebensabend spiegelt sich am klarsten in den Erzählungen,
die sie ihren Enkelinnen Aurore und Gabriele widmete. Wer die treffliche Er¬
zählerin unter die Jugendschriftsteller einreihen wollte, würde bei den Pädagogen
sicher auf heftigen Widerspruch stoßen. Und dennoch! Wie prächtig denkt sich
diese echte Kinderfreuudin in das Gemüt der Kleinen hinein. Wie geschickt
flicht sie in oft humorvollen Bericht unaufdringliche Lehren. Sie weckt Teil¬
nahme für einfache Sitten, für ein ländliches schmuckes Heim, zieht die über¬
triebne Putzsucht ins Lächerliche, bekämpft den törichten Hochmut, fördert die
Liebe zur Natur und verklärt die Alltäglichkeit mit einem nicht übertrieben
phantastischen Hauche. Im 66g,vt, ^vous feiert sie symbolisch die alles über¬
windende geduldige Arbeit, in den ^i1s8 <te (üour^Zö schildert sie einen der
Kinderwelt vortrefflich angepaßten modernen Robinson Crusoe, in !><Z ^uaZ-g rv8s
dichtet sie ein liebliches Märchen, das den Fleiß der Spinnerin zum Motiv hat.
In den Duft eines Nvsenwölkchcns hüllt sie den entschwundnen Mädchentraum
einer Greisin, die ihrer gelehrigen Großnichte am Spinnrade das schlichte Ge¬
heimnis unverdrossenen Eifers verrät und mit den bedeutungsvollen Worten
schließt: "Träume entfliehen, die Arbeit bleibt."

Wer heute in der Fülle der zum Teil vergessenen Werke George Sands
nach einem passenden Lebensmotto für die Licht- und die Schattenseiten dieser
großen Natur sucht, der möge sinnend Halt machen vor einer Stelle der 8sxt
(üorclt;" lÄ I^rs: "Die Liebe ist die höchste Weisheit; die Tugend beruht
auf der Liebe, und das tugendhafteste Herz ist das, das am meisten liebt!"




Aus deutschem Volksmunde

>u der Erklärung volkstümlicher Ausdrücke und Wendungen ist
viel gesündigt worden, teils dnrch allzu flotte Zurechtdeutung,
teils durch übertriebne Spitzfindigkeit. Der zuverlässigste Weg
bleibt aber doch die rückschreitende Forschung, die zunächst die
I Spuren hinauf verfolgt, soweit das möglich ist, und dann die all¬
mähliche Entwicklung und Ausbreitung von der gefundnen Wurzel aus aufzeigt.
Voraussetzung dazu ist die sorgfältige Sammlung und Sichtung der einschlügigen
Belege. Das ist bisher nicht immer ausreichend geschehen. Denn mag auch
das in Betracht kommende Sprachgut in oft jahrhundertelangem Umlauf bis¬
weilen nicht nur das ursprüngliche Gepräge stark abgeschliffen, sondern wohl
gar die äußere Form arg verunstaltet haben, so ist es dennoch weit nützlicher,
diesen Fundstücken durch aufmerksame Prüfung ihre Geschichte mühsam abzu¬
fragen, als sich in wohlfeilen Phantasievorstellungen zu gefallen. Darum
soll hier an einer Reihe anspruchsloser Lesefrüchte zur Ergänzung der Hcmpt-
fundstütte, des Grimmschen Wörterbuchs, das Aufkommen und Fortleben einer


Aus deutschem Volksmunde

Altersruhe Platz. Die Matrone, in der Mitte ihrer Kinder und Kindeskinder
im Schlosse zu Nohant, bot Freunden und Besuchern ein sympathisches Bild.
Dieser stimmungsvolle Lebensabend spiegelt sich am klarsten in den Erzählungen,
die sie ihren Enkelinnen Aurore und Gabriele widmete. Wer die treffliche Er¬
zählerin unter die Jugendschriftsteller einreihen wollte, würde bei den Pädagogen
sicher auf heftigen Widerspruch stoßen. Und dennoch! Wie prächtig denkt sich
diese echte Kinderfreuudin in das Gemüt der Kleinen hinein. Wie geschickt
flicht sie in oft humorvollen Bericht unaufdringliche Lehren. Sie weckt Teil¬
nahme für einfache Sitten, für ein ländliches schmuckes Heim, zieht die über¬
triebne Putzsucht ins Lächerliche, bekämpft den törichten Hochmut, fördert die
Liebe zur Natur und verklärt die Alltäglichkeit mit einem nicht übertrieben
phantastischen Hauche. Im 66g,vt, ^vous feiert sie symbolisch die alles über¬
windende geduldige Arbeit, in den ^i1s8 <te (üour^Zö schildert sie einen der
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dichtet sie ein liebliches Märchen, das den Fleiß der Spinnerin zum Motiv hat.
In den Duft eines Nvsenwölkchcns hüllt sie den entschwundnen Mädchentraum
einer Greisin, die ihrer gelehrigen Großnichte am Spinnrade das schlichte Ge¬
heimnis unverdrossenen Eifers verrät und mit den bedeutungsvollen Worten
schließt: „Träume entfliehen, die Arbeit bleibt."

Wer heute in der Fülle der zum Teil vergessenen Werke George Sands
nach einem passenden Lebensmotto für die Licht- und die Schattenseiten dieser
großen Natur sucht, der möge sinnend Halt machen vor einer Stelle der 8sxt
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auf der Liebe, und das tugendhafteste Herz ist das, das am meisten liebt!"




Aus deutschem Volksmunde

>u der Erklärung volkstümlicher Ausdrücke und Wendungen ist
viel gesündigt worden, teils dnrch allzu flotte Zurechtdeutung,
teils durch übertriebne Spitzfindigkeit. Der zuverlässigste Weg
bleibt aber doch die rückschreitende Forschung, die zunächst die
I Spuren hinauf verfolgt, soweit das möglich ist, und dann die all¬
mähliche Entwicklung und Ausbreitung von der gefundnen Wurzel aus aufzeigt.
Voraussetzung dazu ist die sorgfältige Sammlung und Sichtung der einschlügigen
Belege. Das ist bisher nicht immer ausreichend geschehen. Denn mag auch
das in Betracht kommende Sprachgut in oft jahrhundertelangem Umlauf bis¬
weilen nicht nur das ursprüngliche Gepräge stark abgeschliffen, sondern wohl
gar die äußere Form arg verunstaltet haben, so ist es dennoch weit nützlicher,
diesen Fundstücken durch aufmerksame Prüfung ihre Geschichte mühsam abzu¬
fragen, als sich in wohlfeilen Phantasievorstellungen zu gefallen. Darum
soll hier an einer Reihe anspruchsloser Lesefrüchte zur Ergänzung der Hcmpt-
fundstütte, des Grimmschen Wörterbuchs, das Aufkommen und Fortleben einer


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/540>, abgerufen am 29.06.2024.