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Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr.

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Gin französischer Amel-Harnack

Hoffnung auf das ewige Leben die ganze irdische Kulturherrlichkeit keinen
Wert hat.

Harnacks Christentum ist nach Loisy nicht allein dürftig bis zur Kläglich¬
keit, es ist nicht allein schriftwidrig, es hebt sich sogar selbst auf, indem es
seinen Gründer verächtlich macht. "Wenn das Wesen des Evangeliums und
Jesu Bewußtsein der Gottessohnschaft weiter nichts bedeutet, als daß Jesus
Gott als den Vater der Menschen erkannt hat, so erscheinen die Idee des
Reichs und das Messiasbewußtsein Jesu nicht allein wie geringwertige Neben¬
sächlichkeiten, sondern sogar wie reine Illusionen, wie ein vom Heiland an die
Vorurteile seines Volks gezahlter Tribut. Das Werk Christi stellt sich dann
als ein unüberlegter Begeisterungstaumel dar, der nur durch die innige Re¬
ligiosität des Mannes vor der Ausartung in Fanatismus bewahrt wurde,
ohne dadurch seinen chimärischen Charakter einzubüßen. Vergebens bemüht sich
Harnack, diesen Jesus über Sokrates zu stellen. War die messianische Hoff¬
nung eine Illusion, dann ist der für die Sache der Vernunft sterbende Philosoph,
der keine irrigen ZuluuftShoffnungen erweckte, weiser gewesen, als der für
einen falschen Glauben sterbende Christus. So wird das Evangelium vom
theologischen Rationalismus mißhandelt, statt erklärt zu werden; dieser er¬
niedrigt Jesus unter dein Vorwande, seine Größe zu wahren, nicht allein unter
Sokrates, sondern unter alle geistig gesunden Menschen. Das Evangelium
und Christus werden in zwei Bestandteile zerlegt: in ein moralisches Gefühl,
das man bewundernswert zu finden geruht, und in einen Traum, den mau
noch nicht lächerlich zu finden wagt."

Die Entwicklung des Samenkorns zum Baum in der Lehre und in dem.
Leben der Kirche stellt Loisy ähnlich dar, wie ich es wiederholt, zum Beispiel
in Hellenentum und Christentum, versucht habe. Gewiß sind die Dogmen
iMsch-hcllemsche Spekulationen, aber wenn man sie, wie Harnack, dem echten,
auf eine einzige Idee reduzierten Christentum als etwas Fremdes gegenüber¬
stellt, so löst man, wie Loisy richtig bemerkt, das Christentum aus Natur und
^schuhte heraus und verstößt, wie ich das eingangs ausgedrückt habe, gegen
^ besetz der Entwicklung. Die jüdischen und die platonischen Spekulationen
musim darum, weil sie jüdisch und heidnisch sind, noch nicht als etwas Ar-
ten s ' ? Unchristliches verworfen werden: gerade dadurch hat das Christm-
as in s"s ^'keit und zugleich seinen universellen Charakter bewährt, daß
Gott ? ^nahm, was die menschliche Vernunft schon im Nachsinnen über
der N'? Beachtenswertes gefunden hatte. Nur gegen den Anspruch
kalt ^ Protestieren, daß sie mit ihren Formulierungen den Jn-
^ s,. göttlichen Geheimnisse erschöpft und den unbedingt giltigen Ausdruck
>ur gefunden habe, den sich jeder bei Strafe der ewigen Verdammnis an¬
zueignen verpflichtet sei. Nach Loisy erhebt die katholische Kirche diesen An-
Much gar nicht. Das Evangelium enthält "keine absolute und abstrakte
Doktrin," sondern verkündigt einen lebendigen Glauben. Diesen Glanben der
Welt zu erhaltenj dazu "war ein Anpassungsprozeß erforderlich und wird
Miner einer erforderlich sein." Der Historiker sieht in den Dogmen "eine


Gin französischer Amel-Harnack

Hoffnung auf das ewige Leben die ganze irdische Kulturherrlichkeit keinen
Wert hat.

Harnacks Christentum ist nach Loisy nicht allein dürftig bis zur Kläglich¬
keit, es ist nicht allein schriftwidrig, es hebt sich sogar selbst auf, indem es
seinen Gründer verächtlich macht. „Wenn das Wesen des Evangeliums und
Jesu Bewußtsein der Gottessohnschaft weiter nichts bedeutet, als daß Jesus
Gott als den Vater der Menschen erkannt hat, so erscheinen die Idee des
Reichs und das Messiasbewußtsein Jesu nicht allein wie geringwertige Neben¬
sächlichkeiten, sondern sogar wie reine Illusionen, wie ein vom Heiland an die
Vorurteile seines Volks gezahlter Tribut. Das Werk Christi stellt sich dann
als ein unüberlegter Begeisterungstaumel dar, der nur durch die innige Re¬
ligiosität des Mannes vor der Ausartung in Fanatismus bewahrt wurde,
ohne dadurch seinen chimärischen Charakter einzubüßen. Vergebens bemüht sich
Harnack, diesen Jesus über Sokrates zu stellen. War die messianische Hoff¬
nung eine Illusion, dann ist der für die Sache der Vernunft sterbende Philosoph,
der keine irrigen ZuluuftShoffnungen erweckte, weiser gewesen, als der für
einen falschen Glauben sterbende Christus. So wird das Evangelium vom
theologischen Rationalismus mißhandelt, statt erklärt zu werden; dieser er¬
niedrigt Jesus unter dein Vorwande, seine Größe zu wahren, nicht allein unter
Sokrates, sondern unter alle geistig gesunden Menschen. Das Evangelium
und Christus werden in zwei Bestandteile zerlegt: in ein moralisches Gefühl,
das man bewundernswert zu finden geruht, und in einen Traum, den mau
noch nicht lächerlich zu finden wagt."

Die Entwicklung des Samenkorns zum Baum in der Lehre und in dem.
Leben der Kirche stellt Loisy ähnlich dar, wie ich es wiederholt, zum Beispiel
in Hellenentum und Christentum, versucht habe. Gewiß sind die Dogmen
iMsch-hcllemsche Spekulationen, aber wenn man sie, wie Harnack, dem echten,
auf eine einzige Idee reduzierten Christentum als etwas Fremdes gegenüber¬
stellt, so löst man, wie Loisy richtig bemerkt, das Christentum aus Natur und
^schuhte heraus und verstößt, wie ich das eingangs ausgedrückt habe, gegen
^ besetz der Entwicklung. Die jüdischen und die platonischen Spekulationen
musim darum, weil sie jüdisch und heidnisch sind, noch nicht als etwas Ar-
ten s ' ? Unchristliches verworfen werden: gerade dadurch hat das Christm-
as in s"s ^'keit und zugleich seinen universellen Charakter bewährt, daß
Gott ? ^nahm, was die menschliche Vernunft schon im Nachsinnen über
der N'? Beachtenswertes gefunden hatte. Nur gegen den Anspruch
kalt ^ Protestieren, daß sie mit ihren Formulierungen den Jn-
^ s,. göttlichen Geheimnisse erschöpft und den unbedingt giltigen Ausdruck
>ur gefunden habe, den sich jeder bei Strafe der ewigen Verdammnis an¬
zueignen verpflichtet sei. Nach Loisy erhebt die katholische Kirche diesen An-
Much gar nicht. Das Evangelium enthält „keine absolute und abstrakte
Doktrin," sondern verkündigt einen lebendigen Glauben. Diesen Glanben der
Welt zu erhaltenj dazu „war ein Anpassungsprozeß erforderlich und wird
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[0419] Gin französischer Amel-Harnack Hoffnung auf das ewige Leben die ganze irdische Kulturherrlichkeit keinen Wert hat. Harnacks Christentum ist nach Loisy nicht allein dürftig bis zur Kläglich¬ keit, es ist nicht allein schriftwidrig, es hebt sich sogar selbst auf, indem es seinen Gründer verächtlich macht. „Wenn das Wesen des Evangeliums und Jesu Bewußtsein der Gottessohnschaft weiter nichts bedeutet, als daß Jesus Gott als den Vater der Menschen erkannt hat, so erscheinen die Idee des Reichs und das Messiasbewußtsein Jesu nicht allein wie geringwertige Neben¬ sächlichkeiten, sondern sogar wie reine Illusionen, wie ein vom Heiland an die Vorurteile seines Volks gezahlter Tribut. Das Werk Christi stellt sich dann als ein unüberlegter Begeisterungstaumel dar, der nur durch die innige Re¬ ligiosität des Mannes vor der Ausartung in Fanatismus bewahrt wurde, ohne dadurch seinen chimärischen Charakter einzubüßen. Vergebens bemüht sich Harnack, diesen Jesus über Sokrates zu stellen. War die messianische Hoff¬ nung eine Illusion, dann ist der für die Sache der Vernunft sterbende Philosoph, der keine irrigen ZuluuftShoffnungen erweckte, weiser gewesen, als der für einen falschen Glauben sterbende Christus. So wird das Evangelium vom theologischen Rationalismus mißhandelt, statt erklärt zu werden; dieser er¬ niedrigt Jesus unter dein Vorwande, seine Größe zu wahren, nicht allein unter Sokrates, sondern unter alle geistig gesunden Menschen. Das Evangelium und Christus werden in zwei Bestandteile zerlegt: in ein moralisches Gefühl, das man bewundernswert zu finden geruht, und in einen Traum, den mau noch nicht lächerlich zu finden wagt." Die Entwicklung des Samenkorns zum Baum in der Lehre und in dem. Leben der Kirche stellt Loisy ähnlich dar, wie ich es wiederholt, zum Beispiel in Hellenentum und Christentum, versucht habe. Gewiß sind die Dogmen iMsch-hcllemsche Spekulationen, aber wenn man sie, wie Harnack, dem echten, auf eine einzige Idee reduzierten Christentum als etwas Fremdes gegenüber¬ stellt, so löst man, wie Loisy richtig bemerkt, das Christentum aus Natur und ^schuhte heraus und verstößt, wie ich das eingangs ausgedrückt habe, gegen ^ besetz der Entwicklung. Die jüdischen und die platonischen Spekulationen musim darum, weil sie jüdisch und heidnisch sind, noch nicht als etwas Ar- ten s ' ? Unchristliches verworfen werden: gerade dadurch hat das Christm- as in s"s ^'keit und zugleich seinen universellen Charakter bewährt, daß Gott ? ^nahm, was die menschliche Vernunft schon im Nachsinnen über der N'? Beachtenswertes gefunden hatte. Nur gegen den Anspruch kalt ^ Protestieren, daß sie mit ihren Formulierungen den Jn- ^ s,. göttlichen Geheimnisse erschöpft und den unbedingt giltigen Ausdruck >ur gefunden habe, den sich jeder bei Strafe der ewigen Verdammnis an¬ zueignen verpflichtet sei. Nach Loisy erhebt die katholische Kirche diesen An- Much gar nicht. Das Evangelium enthält „keine absolute und abstrakte Doktrin," sondern verkündigt einen lebendigen Glauben. Diesen Glanben der Welt zu erhaltenj dazu „war ein Anpassungsprozeß erforderlich und wird Miner einer erforderlich sein." Der Historiker sieht in den Dogmen „eine

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 63, 1904, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341879_292796/419>, abgerufen am 29.06.2024.