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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Das Nackt.- in der Uunst

Auf diesem Wege werden der Plastik keine neuen Bahnen gefunden
werden,


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Als Ergebnis unsers vergleichenden Rückblicks dürfen wir folgende Er¬
fahrungstatsachen verzeichnen.

Die bildenden Künste haben auf die Darstellung des Nackten zu keiner
Zeit verzichtet.

Im Vordergründe des Knnstschafseus hat das Nackte während der Blüte
der Plastik gestanden, deren Schwerpunkt immer in der Darstellung des einzelnen
Menschenkörpers lag und dauernd nicht von dort verrückt werden kann.

Von den führenden Meistern der Malerei haben uur wenige -- Tizian,
Correggio -- dem Nackten eine bemerkbare Vorliebe entgegengebracht. Die
Mehrzahl räumt ihm die ihm gebührende Stelle ein und bringt es an, wo
der behandelte Gegenstand nackte Gestalten verlangt.

Mit dem Vordringen der Kultur und der Künste von den warmen Ge¬
staden des Mittelmeers in die nördlichern und kühlern Küstenländer des
Atlantischen Ozeans, der Nordsee und der Ostsee hat sich die im Altertum deu
Künstlern wie dein Publikum eigne Gewöhnung an den Anblick des Nackten im
Leben allmählich verloren.

Zugleich mit dieser Verschiebung der geschichtlichen Schauplatze vollzog
sich uuter dem zusammenwirkenden Einfluß des Christentums und des ger¬
manischen Geistes eine Vertiefung des Denkens und Empfindens, die zur
Folge hatte, daß der Menschenleib nicht mehr vorzugsweise als höchstent¬
wickeltes Erzeugnis der sichtbaren Schöpfung betrachtet wurde, sondern als ge¬
ringerer Teil des menschlichen Doppelwesens: als vergänglicher Behälter
eines unvergänglichen Seelenlebens. Das erstarkende Bewußtsein und das
geschürfte Gewissen sahen den Menschen nicht mehr vereinzelt sondern in der
Mitte seines Volkes; nicht bloß stehend oder liegend, wachend oder schlummernd,
sondern liebend und hassend, helfend und hindernd, kämpfend und leidend.

Seit Lessing wissen wir, welche engen Grenzen der plastischen Vorführung
seelischer Erregungen dnrch das Wesen plastischer Schönheit gezogen sind, wie
es durch die Natur des Materials bestimmt wird. Noch handgreiflicher wider¬
setzt sich dieses Material einer Schilderung vielgestaltiger Gruppen. Zur Be¬
wältigung umfassenderer Vorwürfe sieht sich der Bildhauer auf das Relief an¬
gewiesen und muß auf jeden tiefern Hintergrund verzichten.

Die Einbeziehung komplizierter und ausgedehnter Vorgänge in das Stoff¬
gebiet der räumlichen Künste nahm dem menschlichen Körper als isolierter
Erscheinung seine bisherige Vorherrschaft und entwand damit der Plastik ihren
überlieferten "Schläger." Ein veränderter Schvnheitsbegriff und ein erweiterter
Gesichtskreis führten im Verein miteinander diese Wendung herbei.

War nun der menschliche Leib nicht mehr das erhabenste Objekt der
Kunst, so verloren auch seine Zuständlichkeiten ihre frühere Bedeutung. Weder
in den geräumigen Ausschnitten der Natur, die wir Landschaften nennen, noch
in bewegten Szenen sozialen oder geschichtlichen Inhalts vermag die Nacktheit
einzelner Menschengestalten den Eindruck des Bildes wesentlich zu steigern.

Wer diesem Wandel der Anschauungen und seiner Tragweite nachsinnt,


Das Nackt.- in der Uunst

Auf diesem Wege werden der Plastik keine neuen Bahnen gefunden
werden,


7

Als Ergebnis unsers vergleichenden Rückblicks dürfen wir folgende Er¬
fahrungstatsachen verzeichnen.

Die bildenden Künste haben auf die Darstellung des Nackten zu keiner
Zeit verzichtet.

Im Vordergründe des Knnstschafseus hat das Nackte während der Blüte
der Plastik gestanden, deren Schwerpunkt immer in der Darstellung des einzelnen
Menschenkörpers lag und dauernd nicht von dort verrückt werden kann.

Von den führenden Meistern der Malerei haben uur wenige — Tizian,
Correggio — dem Nackten eine bemerkbare Vorliebe entgegengebracht. Die
Mehrzahl räumt ihm die ihm gebührende Stelle ein und bringt es an, wo
der behandelte Gegenstand nackte Gestalten verlangt.

Mit dem Vordringen der Kultur und der Künste von den warmen Ge¬
staden des Mittelmeers in die nördlichern und kühlern Küstenländer des
Atlantischen Ozeans, der Nordsee und der Ostsee hat sich die im Altertum deu
Künstlern wie dein Publikum eigne Gewöhnung an den Anblick des Nackten im
Leben allmählich verloren.

Zugleich mit dieser Verschiebung der geschichtlichen Schauplatze vollzog
sich uuter dem zusammenwirkenden Einfluß des Christentums und des ger¬
manischen Geistes eine Vertiefung des Denkens und Empfindens, die zur
Folge hatte, daß der Menschenleib nicht mehr vorzugsweise als höchstent¬
wickeltes Erzeugnis der sichtbaren Schöpfung betrachtet wurde, sondern als ge¬
ringerer Teil des menschlichen Doppelwesens: als vergänglicher Behälter
eines unvergänglichen Seelenlebens. Das erstarkende Bewußtsein und das
geschürfte Gewissen sahen den Menschen nicht mehr vereinzelt sondern in der
Mitte seines Volkes; nicht bloß stehend oder liegend, wachend oder schlummernd,
sondern liebend und hassend, helfend und hindernd, kämpfend und leidend.

Seit Lessing wissen wir, welche engen Grenzen der plastischen Vorführung
seelischer Erregungen dnrch das Wesen plastischer Schönheit gezogen sind, wie
es durch die Natur des Materials bestimmt wird. Noch handgreiflicher wider¬
setzt sich dieses Material einer Schilderung vielgestaltiger Gruppen. Zur Be¬
wältigung umfassenderer Vorwürfe sieht sich der Bildhauer auf das Relief an¬
gewiesen und muß auf jeden tiefern Hintergrund verzichten.

Die Einbeziehung komplizierter und ausgedehnter Vorgänge in das Stoff¬
gebiet der räumlichen Künste nahm dem menschlichen Körper als isolierter
Erscheinung seine bisherige Vorherrschaft und entwand damit der Plastik ihren
überlieferten „Schläger." Ein veränderter Schvnheitsbegriff und ein erweiterter
Gesichtskreis führten im Verein miteinander diese Wendung herbei.

War nun der menschliche Leib nicht mehr das erhabenste Objekt der
Kunst, so verloren auch seine Zuständlichkeiten ihre frühere Bedeutung. Weder
in den geräumigen Ausschnitten der Natur, die wir Landschaften nennen, noch
in bewegten Szenen sozialen oder geschichtlichen Inhalts vermag die Nacktheit
einzelner Menschengestalten den Eindruck des Bildes wesentlich zu steigern.

Wer diesem Wandel der Anschauungen und seiner Tragweite nachsinnt,


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[0381] Das Nackt.- in der Uunst Auf diesem Wege werden der Plastik keine neuen Bahnen gefunden werden, 7 Als Ergebnis unsers vergleichenden Rückblicks dürfen wir folgende Er¬ fahrungstatsachen verzeichnen. Die bildenden Künste haben auf die Darstellung des Nackten zu keiner Zeit verzichtet. Im Vordergründe des Knnstschafseus hat das Nackte während der Blüte der Plastik gestanden, deren Schwerpunkt immer in der Darstellung des einzelnen Menschenkörpers lag und dauernd nicht von dort verrückt werden kann. Von den führenden Meistern der Malerei haben uur wenige — Tizian, Correggio — dem Nackten eine bemerkbare Vorliebe entgegengebracht. Die Mehrzahl räumt ihm die ihm gebührende Stelle ein und bringt es an, wo der behandelte Gegenstand nackte Gestalten verlangt. Mit dem Vordringen der Kultur und der Künste von den warmen Ge¬ staden des Mittelmeers in die nördlichern und kühlern Küstenländer des Atlantischen Ozeans, der Nordsee und der Ostsee hat sich die im Altertum deu Künstlern wie dein Publikum eigne Gewöhnung an den Anblick des Nackten im Leben allmählich verloren. Zugleich mit dieser Verschiebung der geschichtlichen Schauplatze vollzog sich uuter dem zusammenwirkenden Einfluß des Christentums und des ger¬ manischen Geistes eine Vertiefung des Denkens und Empfindens, die zur Folge hatte, daß der Menschenleib nicht mehr vorzugsweise als höchstent¬ wickeltes Erzeugnis der sichtbaren Schöpfung betrachtet wurde, sondern als ge¬ ringerer Teil des menschlichen Doppelwesens: als vergänglicher Behälter eines unvergänglichen Seelenlebens. Das erstarkende Bewußtsein und das geschürfte Gewissen sahen den Menschen nicht mehr vereinzelt sondern in der Mitte seines Volkes; nicht bloß stehend oder liegend, wachend oder schlummernd, sondern liebend und hassend, helfend und hindernd, kämpfend und leidend. Seit Lessing wissen wir, welche engen Grenzen der plastischen Vorführung seelischer Erregungen dnrch das Wesen plastischer Schönheit gezogen sind, wie es durch die Natur des Materials bestimmt wird. Noch handgreiflicher wider¬ setzt sich dieses Material einer Schilderung vielgestaltiger Gruppen. Zur Be¬ wältigung umfassenderer Vorwürfe sieht sich der Bildhauer auf das Relief an¬ gewiesen und muß auf jeden tiefern Hintergrund verzichten. Die Einbeziehung komplizierter und ausgedehnter Vorgänge in das Stoff¬ gebiet der räumlichen Künste nahm dem menschlichen Körper als isolierter Erscheinung seine bisherige Vorherrschaft und entwand damit der Plastik ihren überlieferten „Schläger." Ein veränderter Schvnheitsbegriff und ein erweiterter Gesichtskreis führten im Verein miteinander diese Wendung herbei. War nun der menschliche Leib nicht mehr das erhabenste Objekt der Kunst, so verloren auch seine Zuständlichkeiten ihre frühere Bedeutung. Weder in den geräumigen Ausschnitten der Natur, die wir Landschaften nennen, noch in bewegten Szenen sozialen oder geschichtlichen Inhalts vermag die Nacktheit einzelner Menschengestalten den Eindruck des Bildes wesentlich zu steigern. Wer diesem Wandel der Anschauungen und seiner Tragweite nachsinnt,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/381>, abgerufen am 29.06.2024.