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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Partikularismus in Deutschland

er Deutsche kann ohne Streit mit seinem Nächsten nicht leben.
Kamm haben uns die Jahre 1866 und 1870/71 die so heiß
erstrebte Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs gebracht, kaum
sind die Vollender dieser Riesenarbeit, Wilhelm der Erste, Bismarck,
Moltke, Roon, Bennigsen u. a.. in das Grab gesunken, so erhebt
sich die Zwietracht von neuem. Die ganze Entwicklungsgeschichte des Deutschen
Reichs wird vergessen, und Preußen muß dieselben Erfahrungen abermals machen,
die es z. B. bei der Einrichtung des Zollvereins zu macheu hatte. Wenn auch
der Zollverein im großen und ganzen 1834 nach sechzehnjähriger Anstrengung
als fertig angesehen werden konnte, so waren doch immer noch einzelne Staaten,
z- V. Anhalt, außerhalb des Vereins, sodaß man auf der Elbe, die das Ländchen
durchströmt, innerhalb weniger Meilen beim Eintritt in das Land Anhalt und
beim Austritt Zoll bezahlen mußte. Ähnlich verhält es sich jetzt mit der Eisen¬
bahngemeinschaft, die von Preußen erstrebt wird. Bis jetzt hat sich nur Hessen
dazu Herbeigclassen, dasselbe Land, das auch zu den ersten Ländern gehörte,
die dem von Preußen 1818 angeregten Zollverein beitraten. Im Jahre 1823
hatten Bayern und Württemberg auch einen besondern Zollverein für sich ge¬
gründet, aber 1834 traten sie doch dem preußischen bei. Geradeso ist es jetzt
und der Eisenbahn und der Post. Es muß doch jedem Kinde, möchte man
sagen, klar sein, daß gleiche Personen- und Gepncktarise den Verkehr ganz
besonders erleichtern würden, ebenso, wie gleiche Postwertzeichen Zeit und Geld
sparen würden. Das Gefühl staatlicher Selbständigkeit, das ein eignes Post¬
wertzeichen dem Bürger einflößt, kann doch nur auf Einbildung beruhen, denn
von einem Eingreifen eines deutschen Bundesstaats in die Weltereignisse ist
doch sogar bei eigner Eisenbahn- und PostVerwaltung keine Rede mehr. Die
^erkürzung der Fahrt durch die Erhöhung der Schnelligkeit, mit der die Wege
durch Dampf und Elektrizität zurückgelegt werden, bringt die Völker immer näher
aneinander, verknüpft ihre Interessen und reißt mit Gewalt alle Hemmnisse
meter. Wenn man z. B. mit dem Schnellzug von Frankfurt a. M. über Darm-
siadt nach Heidelberg fährt, so durchschneidet man innerhalb einer Stunde
drei Landesgrenzen. Niemand wäre dabei imstande, seinen Koffer dreimal für
dre Zollrevision zu öffnen. Der Zollverein hat das ja auch schon lauge inner¬
halb Deutschlands beseitigt.

Auch andre Verkehrshindernisse, z. B. verschiedne Eisenbahngeleisbreitm,
sind der Gewalt des Verkehrs gewichen. So hatte Baden noch 1849 eine
andre Geleisbreite als Hessen, und infolge davon mußte z. B. die hessische
'lrtlllerie bei ihrer Rückkehr aus Baden 1849 in Heidelberg ausgeladen wer?"
und den Weitermarsch nach Darmstadt zu Fuß antreten. Hätte Hessen °





Partikularismus in Deutschland

er Deutsche kann ohne Streit mit seinem Nächsten nicht leben.
Kamm haben uns die Jahre 1866 und 1870/71 die so heiß
erstrebte Wiederaufrichtung des Deutschen Reichs gebracht, kaum
sind die Vollender dieser Riesenarbeit, Wilhelm der Erste, Bismarck,
Moltke, Roon, Bennigsen u. a.. in das Grab gesunken, so erhebt
sich die Zwietracht von neuem. Die ganze Entwicklungsgeschichte des Deutschen
Reichs wird vergessen, und Preußen muß dieselben Erfahrungen abermals machen,
die es z. B. bei der Einrichtung des Zollvereins zu macheu hatte. Wenn auch
der Zollverein im großen und ganzen 1834 nach sechzehnjähriger Anstrengung
als fertig angesehen werden konnte, so waren doch immer noch einzelne Staaten,
z- V. Anhalt, außerhalb des Vereins, sodaß man auf der Elbe, die das Ländchen
durchströmt, innerhalb weniger Meilen beim Eintritt in das Land Anhalt und
beim Austritt Zoll bezahlen mußte. Ähnlich verhält es sich jetzt mit der Eisen¬
bahngemeinschaft, die von Preußen erstrebt wird. Bis jetzt hat sich nur Hessen
dazu Herbeigclassen, dasselbe Land, das auch zu den ersten Ländern gehörte,
die dem von Preußen 1818 angeregten Zollverein beitraten. Im Jahre 1823
hatten Bayern und Württemberg auch einen besondern Zollverein für sich ge¬
gründet, aber 1834 traten sie doch dem preußischen bei. Geradeso ist es jetzt
und der Eisenbahn und der Post. Es muß doch jedem Kinde, möchte man
sagen, klar sein, daß gleiche Personen- und Gepncktarise den Verkehr ganz
besonders erleichtern würden, ebenso, wie gleiche Postwertzeichen Zeit und Geld
sparen würden. Das Gefühl staatlicher Selbständigkeit, das ein eignes Post¬
wertzeichen dem Bürger einflößt, kann doch nur auf Einbildung beruhen, denn
von einem Eingreifen eines deutschen Bundesstaats in die Weltereignisse ist
doch sogar bei eigner Eisenbahn- und PostVerwaltung keine Rede mehr. Die
^erkürzung der Fahrt durch die Erhöhung der Schnelligkeit, mit der die Wege
durch Dampf und Elektrizität zurückgelegt werden, bringt die Völker immer näher
aneinander, verknüpft ihre Interessen und reißt mit Gewalt alle Hemmnisse
meter. Wenn man z. B. mit dem Schnellzug von Frankfurt a. M. über Darm-
siadt nach Heidelberg fährt, so durchschneidet man innerhalb einer Stunde
drei Landesgrenzen. Niemand wäre dabei imstande, seinen Koffer dreimal für
dre Zollrevision zu öffnen. Der Zollverein hat das ja auch schon lauge inner¬
halb Deutschlands beseitigt.

Auch andre Verkehrshindernisse, z. B. verschiedne Eisenbahngeleisbreitm,
sind der Gewalt des Verkehrs gewichen. So hatte Baden noch 1849 eine
andre Geleisbreite als Hessen, und infolge davon mußte z. B. die hessische
'lrtlllerie bei ihrer Rückkehr aus Baden 1849 in Heidelberg ausgeladen wer?"
und den Weitermarsch nach Darmstadt zu Fuß antreten. Hätte Hessen °



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/363>, abgerufen am 28.06.2024.