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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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schränkten und gespreizten Zerrbilder des Schönen, mit denen sich dieses Volk
seit zweihundert Jahren an dem guten Geschmack versündigt but, läßt er es
fast alle künstlerischen Fähigkeiten, die ihm noch geblieben sind, an die Ver¬
herrlichung der Dirne verschwenden. In der nie versagenden Erfindung von
Vorwünden für dieses Motiv sind unsre Nachbarn unerreicht. Die Genüg¬
samkeit, mit der sie ihre Einbildungskraft aus diesem einen trüben Brunnen
speisen, ist ein lehrreiches kunstgeschichtliches Gegenstück zu der unerschöpflichen
Ausbeutung und hingebenden Ausgestaltung des Madonnenbildes bei den
Italienern der Renaissance. Dort das sichere künstlerische Gefühl dafür, daß
im Umkreise der uns bekannten Erscheinungen die Palme der Schönheit dem
erblühten und dennoch reinen Weibe gebührt, das Anmut und Hoheit am
vollkommensten vereinigt; der jungen Mutter mit dem Kinde, als deren er¬
habenste Verkörperung "Marie die reine Magd" erschien. Hier das ohnmäch¬
tige Haften einer erschöpften Phantasie an dem Gegenstande täglicher sinnlicher
Erregung, der Aphrodite Pandemos. Wer die Zeichen der Geschichte versteht,
wer Blüte von Verfall unterscheiden kann, der richtet durch den Lärm der
Kritik und der Reklame hindurch den Blick auf solche Tatsachen und erkennt
an ihnen den Hochstand oder den Tiefstand eines Knnstzeitalters so deutlich,
wie der Schiffer seine Stelle im Ozean an den Gestirnen.

Mit ihren ganz oder halb entkleideten Dämchen erneuert die moderne
Pariser Schule den fragwürdigen Triumph des griechischen Malers, dessen
Fruchtstücke von Vögeln angepickt wurden; auch die Urbilder französischer
Nacktheiten glaubt man zu kennen und leibhaftig vor sich zu sehe". Wer
freilich die Aufgabe der Kunst nicht darin sieht, die Natur abzuschreiben und
dieselben Gefühle wie sie noch einmal, nur abgeschwächt hervorzubringen, der
entnimmt aus der öden Beharrlichkeit der Franzosen in dem Ausspinnen dieses
einen Fadens nicht ohne eine Regung des Mitleids den pathologischen Befund,
daß die offenbare und fortschreitende Unfruchtbarkeit dieses Volks auch vor
seiner künstlerischen Schaffensfähigkeit nicht Halt gemacht hat.


5

An Mcckarts Gemälde fiel uns die gewaltsame Anbringung nackter Ge¬
stalten auf; aus der unverhohlnen Absichtlichkeit ihrer Einschaltung erklärten
wir uns die Aufdringlichkeit ihrer malerischen Wirkung, die jeden unbefangnen
Betrachter des Bildes stört. Diese Wahrnehmung enthält schon die Antwort
auf unsre letzte Frage: ob und wann sich das Nackte trotz seiner stofflichen
Wirkungen zur künstlerischen Behandlung eignet. Denn Makarts Fehlgriff ist
nur die Bestätigung einer allgemeinen Wahrheit im gegebnen Fall; dem
Künstler ist jeder Zug. jede Zutat, jede Besonderheit erlaubt, die durch seinen
Vorwurf ausreichend motiviert ist.

Vollkommen motiviert ist die vorherrschende Nacktheit der antiken Skulp¬
turen. Die heitern Göttergestalten, zu denen sich in der Einbildungskraft der
Hellenen die Naturkräfte ihrer sonnigen Heimat verdichteten, konnten sich ihrem
geistigen Auge kaum anders darstellen, als in natürlicher Gestalt. Die Alten
selbst entledigten sich des Gewands bei zahlreichen Gelegenheiten ohne jede


schränkten und gespreizten Zerrbilder des Schönen, mit denen sich dieses Volk
seit zweihundert Jahren an dem guten Geschmack versündigt but, läßt er es
fast alle künstlerischen Fähigkeiten, die ihm noch geblieben sind, an die Ver¬
herrlichung der Dirne verschwenden. In der nie versagenden Erfindung von
Vorwünden für dieses Motiv sind unsre Nachbarn unerreicht. Die Genüg¬
samkeit, mit der sie ihre Einbildungskraft aus diesem einen trüben Brunnen
speisen, ist ein lehrreiches kunstgeschichtliches Gegenstück zu der unerschöpflichen
Ausbeutung und hingebenden Ausgestaltung des Madonnenbildes bei den
Italienern der Renaissance. Dort das sichere künstlerische Gefühl dafür, daß
im Umkreise der uns bekannten Erscheinungen die Palme der Schönheit dem
erblühten und dennoch reinen Weibe gebührt, das Anmut und Hoheit am
vollkommensten vereinigt; der jungen Mutter mit dem Kinde, als deren er¬
habenste Verkörperung „Marie die reine Magd" erschien. Hier das ohnmäch¬
tige Haften einer erschöpften Phantasie an dem Gegenstande täglicher sinnlicher
Erregung, der Aphrodite Pandemos. Wer die Zeichen der Geschichte versteht,
wer Blüte von Verfall unterscheiden kann, der richtet durch den Lärm der
Kritik und der Reklame hindurch den Blick auf solche Tatsachen und erkennt
an ihnen den Hochstand oder den Tiefstand eines Knnstzeitalters so deutlich,
wie der Schiffer seine Stelle im Ozean an den Gestirnen.

Mit ihren ganz oder halb entkleideten Dämchen erneuert die moderne
Pariser Schule den fragwürdigen Triumph des griechischen Malers, dessen
Fruchtstücke von Vögeln angepickt wurden; auch die Urbilder französischer
Nacktheiten glaubt man zu kennen und leibhaftig vor sich zu sehe». Wer
freilich die Aufgabe der Kunst nicht darin sieht, die Natur abzuschreiben und
dieselben Gefühle wie sie noch einmal, nur abgeschwächt hervorzubringen, der
entnimmt aus der öden Beharrlichkeit der Franzosen in dem Ausspinnen dieses
einen Fadens nicht ohne eine Regung des Mitleids den pathologischen Befund,
daß die offenbare und fortschreitende Unfruchtbarkeit dieses Volks auch vor
seiner künstlerischen Schaffensfähigkeit nicht Halt gemacht hat.


5

An Mcckarts Gemälde fiel uns die gewaltsame Anbringung nackter Ge¬
stalten auf; aus der unverhohlnen Absichtlichkeit ihrer Einschaltung erklärten
wir uns die Aufdringlichkeit ihrer malerischen Wirkung, die jeden unbefangnen
Betrachter des Bildes stört. Diese Wahrnehmung enthält schon die Antwort
auf unsre letzte Frage: ob und wann sich das Nackte trotz seiner stofflichen
Wirkungen zur künstlerischen Behandlung eignet. Denn Makarts Fehlgriff ist
nur die Bestätigung einer allgemeinen Wahrheit im gegebnen Fall; dem
Künstler ist jeder Zug. jede Zutat, jede Besonderheit erlaubt, die durch seinen
Vorwurf ausreichend motiviert ist.

Vollkommen motiviert ist die vorherrschende Nacktheit der antiken Skulp¬
turen. Die heitern Göttergestalten, zu denen sich in der Einbildungskraft der
Hellenen die Naturkräfte ihrer sonnigen Heimat verdichteten, konnten sich ihrem
geistigen Auge kaum anders darstellen, als in natürlicher Gestalt. Die Alten
selbst entledigten sich des Gewands bei zahlreichen Gelegenheiten ohne jede


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[0322] schränkten und gespreizten Zerrbilder des Schönen, mit denen sich dieses Volk seit zweihundert Jahren an dem guten Geschmack versündigt but, läßt er es fast alle künstlerischen Fähigkeiten, die ihm noch geblieben sind, an die Ver¬ herrlichung der Dirne verschwenden. In der nie versagenden Erfindung von Vorwünden für dieses Motiv sind unsre Nachbarn unerreicht. Die Genüg¬ samkeit, mit der sie ihre Einbildungskraft aus diesem einen trüben Brunnen speisen, ist ein lehrreiches kunstgeschichtliches Gegenstück zu der unerschöpflichen Ausbeutung und hingebenden Ausgestaltung des Madonnenbildes bei den Italienern der Renaissance. Dort das sichere künstlerische Gefühl dafür, daß im Umkreise der uns bekannten Erscheinungen die Palme der Schönheit dem erblühten und dennoch reinen Weibe gebührt, das Anmut und Hoheit am vollkommensten vereinigt; der jungen Mutter mit dem Kinde, als deren er¬ habenste Verkörperung „Marie die reine Magd" erschien. Hier das ohnmäch¬ tige Haften einer erschöpften Phantasie an dem Gegenstande täglicher sinnlicher Erregung, der Aphrodite Pandemos. Wer die Zeichen der Geschichte versteht, wer Blüte von Verfall unterscheiden kann, der richtet durch den Lärm der Kritik und der Reklame hindurch den Blick auf solche Tatsachen und erkennt an ihnen den Hochstand oder den Tiefstand eines Knnstzeitalters so deutlich, wie der Schiffer seine Stelle im Ozean an den Gestirnen. Mit ihren ganz oder halb entkleideten Dämchen erneuert die moderne Pariser Schule den fragwürdigen Triumph des griechischen Malers, dessen Fruchtstücke von Vögeln angepickt wurden; auch die Urbilder französischer Nacktheiten glaubt man zu kennen und leibhaftig vor sich zu sehe». Wer freilich die Aufgabe der Kunst nicht darin sieht, die Natur abzuschreiben und dieselben Gefühle wie sie noch einmal, nur abgeschwächt hervorzubringen, der entnimmt aus der öden Beharrlichkeit der Franzosen in dem Ausspinnen dieses einen Fadens nicht ohne eine Regung des Mitleids den pathologischen Befund, daß die offenbare und fortschreitende Unfruchtbarkeit dieses Volks auch vor seiner künstlerischen Schaffensfähigkeit nicht Halt gemacht hat. 5 An Mcckarts Gemälde fiel uns die gewaltsame Anbringung nackter Ge¬ stalten auf; aus der unverhohlnen Absichtlichkeit ihrer Einschaltung erklärten wir uns die Aufdringlichkeit ihrer malerischen Wirkung, die jeden unbefangnen Betrachter des Bildes stört. Diese Wahrnehmung enthält schon die Antwort auf unsre letzte Frage: ob und wann sich das Nackte trotz seiner stofflichen Wirkungen zur künstlerischen Behandlung eignet. Denn Makarts Fehlgriff ist nur die Bestätigung einer allgemeinen Wahrheit im gegebnen Fall; dem Künstler ist jeder Zug. jede Zutat, jede Besonderheit erlaubt, die durch seinen Vorwurf ausreichend motiviert ist. Vollkommen motiviert ist die vorherrschende Nacktheit der antiken Skulp¬ turen. Die heitern Göttergestalten, zu denen sich in der Einbildungskraft der Hellenen die Naturkräfte ihrer sonnigen Heimat verdichteten, konnten sich ihrem geistigen Auge kaum anders darstellen, als in natürlicher Gestalt. Die Alten selbst entledigten sich des Gewands bei zahlreichen Gelegenheiten ohne jede

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/322>, abgerufen am 29.06.2024.