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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Das Nackte in der Runst

Heißt also nackt soviel wie unbekleidet?

Es wäre dann nicht verstündlich, welches Sprachbedürfnis neben der
negativen Wortbildung unbekleidet noch das positive nackt hervorgebracht hat;
nicht erst und nicht allein in Deutschland, sondern in den europäischen Kultur-
sprachen überhaupt, auch schon in denen des Altertums,

Folgen wir dem Sprachgebrauch; er führt uns schrittweise vorwärts.

Wir sprechen von nackten Armen und nackten Füßen, von nackten Schultern
und nackten Leibern, aber niemals von nackten Händen oder nackten Wangen.
Offenbar deshalb, weil wir im täglichen Leben Hände und Wangen unbekleidet
sehen, Füße und Schultern dagegen bekleidet.

Nackt verhält sich hiernach zu unbekleidet wie der engere Begriff zum
weitern. Alles Nackte ist unbekleidet, aber nicht alles Unbekleidete ist nackt.
Das negative Äquivalent von nackt heißt nicht unbekleidet, sondern entkleidet
oder entblößt.

Nackt nennen wir die Erscheinung entkleideter menschlicher Körperteile,
die wir im Verkehrsleben gewohnt sind, bekleidet zu sehen.


2

Eine bekannte Eigentümlichkeit des Nackten ist mit dieser Begriffs¬
bestimmung ohne weiteres erklärt: der Reiz des Nackten.

Aller Reiz ist nicht eine dauernde, sondern eine vorübergehende Wirkung.
Reizen kann uns im angenehmen wie im unangenehmen Sinne nur ein un¬
gewohnter, mehr oder weniger plötzlicher Eindruck. Reizende Berührungen
finden also niemals zwischen ruhenden Kräften statt; wo immer sie auftreten,
sind sie die Folge von Bewegungen und Veränderungen. Es ist nicht not¬
wendig, daß diese Bewegungen und Veränderungen an dem reizenden Gegen¬
stande vorgehn; sie können auch an dem gereizten Subjekt stattfinden. Wer
eine hohe Düne betritt und zu seinen Füßen das bis dahin verdeckte Meer
erblickt, wer um eine Straßenecke biegend den Straßburger Münster vor sich
sieht, der empfängt einen plötzlichen und gewaltigen Eindruck, uicht weil das
Meer oder der Dom nu ihn, sondern weil er an sie herangetreten ist.

Den Reiz des Nackten empfinden wir bei dem Anblick menschlicher Glied¬
maßen, an deren hüllenlose Erscheinung wir nicht gewöhnt sind, weil wir im
täglichen Leben nicht sie selbst mit ihren wirklichen Farben und Linien sehen,
sondern an ihrer Stelle Stoffe wahrnehmen, die von den Farben des Menschen-
leibes nichts und von seiner Gestalt nur andeutende Umrisse wiedergeben.

Es ist der allgemeine Reiz des Ungewohnten, aus dem wir uns den
Reiz des Nackten erklären müssen. Jede Nacktheit berührt uns zuerst über¬
raschend; ähnlich wie etwa der Anblick von Blut, das ja ebenfalls unsrer un¬
mittelbaren Wahrnehmung gewöhnlich entzogen ist.

Gefärbt wird dann die reine Überraschung durch den bekannten -- wenn
auch darum noch lange nicht erklärten -- Vorgang der Jdeenafsoziation. Das
aufnehmende Sinneswerkzeug war noch unbefangen, aber in unsrer Seele ruft
das aufgenommene Bild Erinnerungen und Vorstellungen wach, die nun ihrer¬
seits auf den Leib zurückwirken und unsre Nerven in Tätigkeit setzen. Beide


Das Nackte in der Runst

Heißt also nackt soviel wie unbekleidet?

Es wäre dann nicht verstündlich, welches Sprachbedürfnis neben der
negativen Wortbildung unbekleidet noch das positive nackt hervorgebracht hat;
nicht erst und nicht allein in Deutschland, sondern in den europäischen Kultur-
sprachen überhaupt, auch schon in denen des Altertums,

Folgen wir dem Sprachgebrauch; er führt uns schrittweise vorwärts.

Wir sprechen von nackten Armen und nackten Füßen, von nackten Schultern
und nackten Leibern, aber niemals von nackten Händen oder nackten Wangen.
Offenbar deshalb, weil wir im täglichen Leben Hände und Wangen unbekleidet
sehen, Füße und Schultern dagegen bekleidet.

Nackt verhält sich hiernach zu unbekleidet wie der engere Begriff zum
weitern. Alles Nackte ist unbekleidet, aber nicht alles Unbekleidete ist nackt.
Das negative Äquivalent von nackt heißt nicht unbekleidet, sondern entkleidet
oder entblößt.

Nackt nennen wir die Erscheinung entkleideter menschlicher Körperteile,
die wir im Verkehrsleben gewohnt sind, bekleidet zu sehen.


2

Eine bekannte Eigentümlichkeit des Nackten ist mit dieser Begriffs¬
bestimmung ohne weiteres erklärt: der Reiz des Nackten.

Aller Reiz ist nicht eine dauernde, sondern eine vorübergehende Wirkung.
Reizen kann uns im angenehmen wie im unangenehmen Sinne nur ein un¬
gewohnter, mehr oder weniger plötzlicher Eindruck. Reizende Berührungen
finden also niemals zwischen ruhenden Kräften statt; wo immer sie auftreten,
sind sie die Folge von Bewegungen und Veränderungen. Es ist nicht not¬
wendig, daß diese Bewegungen und Veränderungen an dem reizenden Gegen¬
stande vorgehn; sie können auch an dem gereizten Subjekt stattfinden. Wer
eine hohe Düne betritt und zu seinen Füßen das bis dahin verdeckte Meer
erblickt, wer um eine Straßenecke biegend den Straßburger Münster vor sich
sieht, der empfängt einen plötzlichen und gewaltigen Eindruck, uicht weil das
Meer oder der Dom nu ihn, sondern weil er an sie herangetreten ist.

Den Reiz des Nackten empfinden wir bei dem Anblick menschlicher Glied¬
maßen, an deren hüllenlose Erscheinung wir nicht gewöhnt sind, weil wir im
täglichen Leben nicht sie selbst mit ihren wirklichen Farben und Linien sehen,
sondern an ihrer Stelle Stoffe wahrnehmen, die von den Farben des Menschen-
leibes nichts und von seiner Gestalt nur andeutende Umrisse wiedergeben.

Es ist der allgemeine Reiz des Ungewohnten, aus dem wir uns den
Reiz des Nackten erklären müssen. Jede Nacktheit berührt uns zuerst über¬
raschend; ähnlich wie etwa der Anblick von Blut, das ja ebenfalls unsrer un¬
mittelbaren Wahrnehmung gewöhnlich entzogen ist.

Gefärbt wird dann die reine Überraschung durch den bekannten — wenn
auch darum noch lange nicht erklärten — Vorgang der Jdeenafsoziation. Das
aufnehmende Sinneswerkzeug war noch unbefangen, aber in unsrer Seele ruft
das aufgenommene Bild Erinnerungen und Vorstellungen wach, die nun ihrer¬
seits auf den Leib zurückwirken und unsre Nerven in Tätigkeit setzen. Beide


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[0316] Das Nackte in der Runst Heißt also nackt soviel wie unbekleidet? Es wäre dann nicht verstündlich, welches Sprachbedürfnis neben der negativen Wortbildung unbekleidet noch das positive nackt hervorgebracht hat; nicht erst und nicht allein in Deutschland, sondern in den europäischen Kultur- sprachen überhaupt, auch schon in denen des Altertums, Folgen wir dem Sprachgebrauch; er führt uns schrittweise vorwärts. Wir sprechen von nackten Armen und nackten Füßen, von nackten Schultern und nackten Leibern, aber niemals von nackten Händen oder nackten Wangen. Offenbar deshalb, weil wir im täglichen Leben Hände und Wangen unbekleidet sehen, Füße und Schultern dagegen bekleidet. Nackt verhält sich hiernach zu unbekleidet wie der engere Begriff zum weitern. Alles Nackte ist unbekleidet, aber nicht alles Unbekleidete ist nackt. Das negative Äquivalent von nackt heißt nicht unbekleidet, sondern entkleidet oder entblößt. Nackt nennen wir die Erscheinung entkleideter menschlicher Körperteile, die wir im Verkehrsleben gewohnt sind, bekleidet zu sehen. 2 Eine bekannte Eigentümlichkeit des Nackten ist mit dieser Begriffs¬ bestimmung ohne weiteres erklärt: der Reiz des Nackten. Aller Reiz ist nicht eine dauernde, sondern eine vorübergehende Wirkung. Reizen kann uns im angenehmen wie im unangenehmen Sinne nur ein un¬ gewohnter, mehr oder weniger plötzlicher Eindruck. Reizende Berührungen finden also niemals zwischen ruhenden Kräften statt; wo immer sie auftreten, sind sie die Folge von Bewegungen und Veränderungen. Es ist nicht not¬ wendig, daß diese Bewegungen und Veränderungen an dem reizenden Gegen¬ stande vorgehn; sie können auch an dem gereizten Subjekt stattfinden. Wer eine hohe Düne betritt und zu seinen Füßen das bis dahin verdeckte Meer erblickt, wer um eine Straßenecke biegend den Straßburger Münster vor sich sieht, der empfängt einen plötzlichen und gewaltigen Eindruck, uicht weil das Meer oder der Dom nu ihn, sondern weil er an sie herangetreten ist. Den Reiz des Nackten empfinden wir bei dem Anblick menschlicher Glied¬ maßen, an deren hüllenlose Erscheinung wir nicht gewöhnt sind, weil wir im täglichen Leben nicht sie selbst mit ihren wirklichen Farben und Linien sehen, sondern an ihrer Stelle Stoffe wahrnehmen, die von den Farben des Menschen- leibes nichts und von seiner Gestalt nur andeutende Umrisse wiedergeben. Es ist der allgemeine Reiz des Ungewohnten, aus dem wir uns den Reiz des Nackten erklären müssen. Jede Nacktheit berührt uns zuerst über¬ raschend; ähnlich wie etwa der Anblick von Blut, das ja ebenfalls unsrer un¬ mittelbaren Wahrnehmung gewöhnlich entzogen ist. Gefärbt wird dann die reine Überraschung durch den bekannten — wenn auch darum noch lange nicht erklärten — Vorgang der Jdeenafsoziation. Das aufnehmende Sinneswerkzeug war noch unbefangen, aber in unsrer Seele ruft das aufgenommene Bild Erinnerungen und Vorstellungen wach, die nun ihrer¬ seits auf den Leib zurückwirken und unsre Nerven in Tätigkeit setzen. Beide

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/316>, abgerufen am 29.06.2024.