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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr.

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Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
von Fritz Anders
Dritte Reihe
^. Limplicissimus orienwlis

es fuhr im Orientexpreßzuge über Breslau und Oderberg nach Pest,
hatte im Speisewagen Platz genommen und die Bekanntschaft eines
Herrn gemacht, der mich interessierte. Er hatte sich auf vielen Ge¬
bieten als Wohl unterrichtet gezeigt und wußte im Orient gründ¬
lich Bescheid. Der Herr stand an der Grenze des Alters, wo es
wenigsteus nicht mehr aufwärts geht. Er hatte eine ansehnliche
Platte, trug eine goldne Brille, einen schwarzen Schnanzbart und hatte Kinn
und Wangen voll borstiger Stoppeln, wie einer, der die Absicht hat, sich den Voll¬
bart stehn zu lassen. Es war ein Deutscher, wenn er auch das Deutsche in etwas
fremdländischer Betonung sprach. Hörte man genau hin, so klang ganz leise der
schwäbische Vvkalton durch. Wir hatten zusammen zu Mittag gegessen; dabei war
mir aufgefallen, daß der Fremde, der den nicht ungewöhnlichen Namen Müller
trug, eine nervöse Unruhe zeigte, häufig aus dem Fenster sah und dem Kellner
einschärfte, ihm doch ja mitzuteilen, wann man die Grenze überschritten habe. Mir
kam der Gedanke, ob nicht dieser Herr Müller vielleicht ein Kassenbeamter sei, der
es nötig habe, eine Reise ins Ausland zu macheu. Aber ich verwarf diesen Ge¬
danken sogleich wieder. Bewußter Herr Müller sah viel zu ehrlich ans; auch würde
ein Durchgänger nicht so offen nach der Grenze gefragt haben.

Wir waren, beim Butterbrot, als der Kellner kam und meldete, daß man so¬
gleich die Oderberger Brücke passieren werde. Herr Müller trat ans Fenster und
sah eifrig zu, wie der letzte schwarz-weiße Pfahl verschwand. Darauf griff er mit
Entschiedenheit in die Tasche, zog einen roten Fes heraus und setzte ihn sich auf
den entblößten Schädel mit der Entschlossenheit eines Menschen, dem es endlich
möglich ist, sein gutes Recht auszuüben.
Zieht es? fragte ich.

Nein, mein Herr, erwiderte er, aber ich konnte nicht wissen, ob es erlaubt
ist, in Preußen einen Fes zu tragen, und ich wollte lieber erst warten, bis wir
die Grenze hinter uns hätten, ehe ich wagte, etwas zu tun, was vielleicht ver¬
boten ist.

Aber wer sollte Ihnen denn verbieten, einen Fes, oder was Sie sonst wollen,
aufzusetzen?

Die Polizei, sagte er mit bedeutsamer Betonung.

Ach, Sie scherzen.

Die Polizei, mein Herr. Kein Mensch kann wissen, was in Deutschland die
Polizei verbietet, und was sie erlaubt.

Ich bitte Sie, wie kommen Sie darauf? Wir leben doch in Deutschland in
einem Rechtsstaate. wir haben doch dort hinter den schwarz-weißen Pfählen keine
türkischen Zustände.

Das glaubte ich auch, sagte Herr Müller. Als ich vor einem Jahre an dieser
selben Stelle die deutsche Grenze ° überschritt, da habe ich mir eine Flasche Sekt
aufstellen lassen, um den Augenblick zu feiern, wo ich aus orientalischer Barbarei




Skizzen aus unserm heutigen Volksleben
von Fritz Anders
Dritte Reihe
^. Limplicissimus orienwlis

es fuhr im Orientexpreßzuge über Breslau und Oderberg nach Pest,
hatte im Speisewagen Platz genommen und die Bekanntschaft eines
Herrn gemacht, der mich interessierte. Er hatte sich auf vielen Ge¬
bieten als Wohl unterrichtet gezeigt und wußte im Orient gründ¬
lich Bescheid. Der Herr stand an der Grenze des Alters, wo es
wenigsteus nicht mehr aufwärts geht. Er hatte eine ansehnliche
Platte, trug eine goldne Brille, einen schwarzen Schnanzbart und hatte Kinn
und Wangen voll borstiger Stoppeln, wie einer, der die Absicht hat, sich den Voll¬
bart stehn zu lassen. Es war ein Deutscher, wenn er auch das Deutsche in etwas
fremdländischer Betonung sprach. Hörte man genau hin, so klang ganz leise der
schwäbische Vvkalton durch. Wir hatten zusammen zu Mittag gegessen; dabei war
mir aufgefallen, daß der Fremde, der den nicht ungewöhnlichen Namen Müller
trug, eine nervöse Unruhe zeigte, häufig aus dem Fenster sah und dem Kellner
einschärfte, ihm doch ja mitzuteilen, wann man die Grenze überschritten habe. Mir
kam der Gedanke, ob nicht dieser Herr Müller vielleicht ein Kassenbeamter sei, der
es nötig habe, eine Reise ins Ausland zu macheu. Aber ich verwarf diesen Ge¬
danken sogleich wieder. Bewußter Herr Müller sah viel zu ehrlich ans; auch würde
ein Durchgänger nicht so offen nach der Grenze gefragt haben.

Wir waren, beim Butterbrot, als der Kellner kam und meldete, daß man so¬
gleich die Oderberger Brücke passieren werde. Herr Müller trat ans Fenster und
sah eifrig zu, wie der letzte schwarz-weiße Pfahl verschwand. Darauf griff er mit
Entschiedenheit in die Tasche, zog einen roten Fes heraus und setzte ihn sich auf
den entblößten Schädel mit der Entschlossenheit eines Menschen, dem es endlich
möglich ist, sein gutes Recht auszuüben.
Zieht es? fragte ich.

Nein, mein Herr, erwiderte er, aber ich konnte nicht wissen, ob es erlaubt
ist, in Preußen einen Fes zu tragen, und ich wollte lieber erst warten, bis wir
die Grenze hinter uns hätten, ehe ich wagte, etwas zu tun, was vielleicht ver¬
boten ist.

Aber wer sollte Ihnen denn verbieten, einen Fes, oder was Sie sonst wollen,
aufzusetzen?

Die Polizei, sagte er mit bedeutsamer Betonung.

Ach, Sie scherzen.

Die Polizei, mein Herr. Kein Mensch kann wissen, was in Deutschland die
Polizei verbietet, und was sie erlaubt.

Ich bitte Sie, wie kommen Sie darauf? Wir leben doch in Deutschland in
einem Rechtsstaate. wir haben doch dort hinter den schwarz-weißen Pfählen keine
türkischen Zustände.

Das glaubte ich auch, sagte Herr Müller. Als ich vor einem Jahre an dieser
selben Stelle die deutsche Grenze ° überschritt, da habe ich mir eine Flasche Sekt
aufstellen lassen, um den Augenblick zu feiern, wo ich aus orientalischer Barbarei


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[0187] [Abbildung] Skizzen aus unserm heutigen Volksleben von Fritz Anders Dritte Reihe ^. Limplicissimus orienwlis es fuhr im Orientexpreßzuge über Breslau und Oderberg nach Pest, hatte im Speisewagen Platz genommen und die Bekanntschaft eines Herrn gemacht, der mich interessierte. Er hatte sich auf vielen Ge¬ bieten als Wohl unterrichtet gezeigt und wußte im Orient gründ¬ lich Bescheid. Der Herr stand an der Grenze des Alters, wo es wenigsteus nicht mehr aufwärts geht. Er hatte eine ansehnliche Platte, trug eine goldne Brille, einen schwarzen Schnanzbart und hatte Kinn und Wangen voll borstiger Stoppeln, wie einer, der die Absicht hat, sich den Voll¬ bart stehn zu lassen. Es war ein Deutscher, wenn er auch das Deutsche in etwas fremdländischer Betonung sprach. Hörte man genau hin, so klang ganz leise der schwäbische Vvkalton durch. Wir hatten zusammen zu Mittag gegessen; dabei war mir aufgefallen, daß der Fremde, der den nicht ungewöhnlichen Namen Müller trug, eine nervöse Unruhe zeigte, häufig aus dem Fenster sah und dem Kellner einschärfte, ihm doch ja mitzuteilen, wann man die Grenze überschritten habe. Mir kam der Gedanke, ob nicht dieser Herr Müller vielleicht ein Kassenbeamter sei, der es nötig habe, eine Reise ins Ausland zu macheu. Aber ich verwarf diesen Ge¬ danken sogleich wieder. Bewußter Herr Müller sah viel zu ehrlich ans; auch würde ein Durchgänger nicht so offen nach der Grenze gefragt haben. Wir waren, beim Butterbrot, als der Kellner kam und meldete, daß man so¬ gleich die Oderberger Brücke passieren werde. Herr Müller trat ans Fenster und sah eifrig zu, wie der letzte schwarz-weiße Pfahl verschwand. Darauf griff er mit Entschiedenheit in die Tasche, zog einen roten Fes heraus und setzte ihn sich auf den entblößten Schädel mit der Entschlossenheit eines Menschen, dem es endlich möglich ist, sein gutes Recht auszuüben. Zieht es? fragte ich. Nein, mein Herr, erwiderte er, aber ich konnte nicht wissen, ob es erlaubt ist, in Preußen einen Fes zu tragen, und ich wollte lieber erst warten, bis wir die Grenze hinter uns hätten, ehe ich wagte, etwas zu tun, was vielleicht ver¬ boten ist. Aber wer sollte Ihnen denn verbieten, einen Fes, oder was Sie sonst wollen, aufzusetzen? Die Polizei, sagte er mit bedeutsamer Betonung. Ach, Sie scherzen. Die Polizei, mein Herr. Kein Mensch kann wissen, was in Deutschland die Polizei verbietet, und was sie erlaubt. Ich bitte Sie, wie kommen Sie darauf? Wir leben doch in Deutschland in einem Rechtsstaate. wir haben doch dort hinter den schwarz-weißen Pfählen keine türkischen Zustände. Das glaubte ich auch, sagte Herr Müller. Als ich vor einem Jahre an dieser selben Stelle die deutsche Grenze ° überschritt, da habe ich mir eine Flasche Sekt aufstellen lassen, um den Augenblick zu feiern, wo ich aus orientalischer Barbarei

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_242067/187>, abgerufen am 29.06.2024.