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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr.

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Aus der Jugendzeit

als einmal ein Jahr ohne Krieg vergangen sei, habe er seinen Untertanen sofort
die Steuern für ein ganzes Jahr erlassen. Das wollte uns Jungen nicht ein¬
leuchten, und leidenschaftlich wiesen wir darauf hin, daß er seine Kassen ans dem
Erlöse der massenhaft verkauften Güter gefüllt habe, die nicht ihm gehört hätten.
Die ältern Quedlinburger und ihre Väter hatten aber dabei gute Geschäfte gemacht,
und wenn sie das westfälische Treiben auch nicht billigten, hatten sie doch für den
König Jerome immer eine milde Entschuldigung bei der Hand. Uns Jungen er¬
schien das als eine schier unbegreifliche Wunderlichkeit.


6. Die Volksschule

Schon zu Michaelis Z836 -- ich war also nur wenig Monate über vier
Jahre alt -- schickte mich mein Vater in die unterste Klasse der städtischen Knaben¬
volksschule. Sie war in einem dreistöckigen großen Gebäude in der nur wenig
Minuten von meinem Elternhause entfernten Beckstraße. Ich our ein kerngesundes
Kind mit lebhaftem Temperament und sollte zunächst, wie mein Vater sagte, still¬
sitzen lernen. Geschadet hat mir der frühe Schulbesuch nicht. Ich ging von An¬
fang an gern zur Schule. Der üblichen, mit allerhand Konfekt gefüllten, bunten
Tute, die ich bei meinem ersten Eintritt in die Klasse von dem Lehrer bekam, hätte
es kaum bedurft, mich für die Schule zu interessieren. Mehr als das Zuckerwerk
imponierte mir der neue naturfarbne Tuchrock, den ich aus Anlaß meines ersten
Schulbesuchs erhielt. Bis dahin hatte ich entweder ein "Habit," d. h. eine mit
der hinten zugeknöpften Hose vereinigte Jacke oder einen "Kittel" getragen. Den
Rock empfand ich als einen gewaltigen Fortschritt. Ich muß in dem neuen Rocke
besonders würdig ausgesehen haben. Denn die Meinigen stellten mich darin vor
sich hin und behaupteten, der Junge sähe in dem Bratenrocke wie ein behäbiger
Pachter aus. Eine ganze Weile, wohl solange der Rock hielt, wurde ich zuhause
der "Pachter" genannt und gerufen.

Die Schule, in die ich täglich mit dem Ranzen auf dem Rücken trabte, war
vorzüglich. Sie leistete alles, was man von einer guten Volksschule verlangen
kann. Sie hatte vier Klassen. Jede war mit einem in seiner Art ausgezeichneten
Lehrer besetzt. Lehrer der untersten (vierten) Klasse war Herr Thieme, der dritten
Herr Kleinere, der zweiten Herr Scharfe, der ersten Herr Mahleke. Jeder von
ihnen war streng, ließ keine Unart durchgehn und lebte mir für die Schule. Sie
wußten die ihnen anvertrauten Kinder ungeachtet der in jeder Klasse über hundert
betragenden Schülerzahl den Altersstufen gemäß und bis zu einem gewissen Grade
sogar individuell zu behandeln. Ausnahmsweise wurde in der Schule auch mit
"ungebrannter Asche" gestraft. Das geschah selten, aber wenn es geschah, schmerzte
es empfindlich. Nicht bloß äußerlich, sondern um der Ehre willen auch inwendig.
In der vierten Klasse habe ich nie einen Schlag bekommen; in der dritten hat
mir Herr Kleinere einmal einen mäßigen Schlag mit dem Haselnußstöckchen über
den Rücken gegeben. Der Schlag tat weh, war aber durch unzeitiges Sprechen
während des Unterrichts Wohl verdient. Dieser Nackenschlag war überdies typisch
für meine Zukunft. Denn durch unzeitiges und vorschnelles Reden habe ich mir
später nur zu oft empfindliche Nackenschläge zugezogen. In der zweiten Klasse habe
ich mit drei oder vier Knaben ans wohlhabenden Familien einmal sogar "überge¬
legte" Schläge bekommen, und zwar zu unsrer tiefen Beschämung vor der ganzen
Klasse. Herr Scharfe setzte bei dieser Prozedur den einen Fuß auf die Bank, auf
der wir saßen. Dann legte er uns mit einem scharfen Ruck einen nach dem andern
über sein gekrümmtes Knie, zog mit der linken Hand die Hose prall und versetzte
mit der rechten mit einem Haselnußstock von der Dicke des kleinen Fingers drei
wohlgezielte Hiebe auf das Hinterteil. Sie taten unglaublich weh. Wir strampelten
mit den Füßen und heulten mörderlich. Das half nichts. Dazu ärgerten wir vier
oder fünf Bestraften, da wir die ersten der ganzen Klasse waren, uns über die
wohlgefälligen Gesichter der andern Jungen. Sie lachten zwar nicht, denn das


Grenzboten III 1903 M
Aus der Jugendzeit

als einmal ein Jahr ohne Krieg vergangen sei, habe er seinen Untertanen sofort
die Steuern für ein ganzes Jahr erlassen. Das wollte uns Jungen nicht ein¬
leuchten, und leidenschaftlich wiesen wir darauf hin, daß er seine Kassen ans dem
Erlöse der massenhaft verkauften Güter gefüllt habe, die nicht ihm gehört hätten.
Die ältern Quedlinburger und ihre Väter hatten aber dabei gute Geschäfte gemacht,
und wenn sie das westfälische Treiben auch nicht billigten, hatten sie doch für den
König Jerome immer eine milde Entschuldigung bei der Hand. Uns Jungen er¬
schien das als eine schier unbegreifliche Wunderlichkeit.


6. Die Volksschule

Schon zu Michaelis Z836 — ich war also nur wenig Monate über vier
Jahre alt — schickte mich mein Vater in die unterste Klasse der städtischen Knaben¬
volksschule. Sie war in einem dreistöckigen großen Gebäude in der nur wenig
Minuten von meinem Elternhause entfernten Beckstraße. Ich our ein kerngesundes
Kind mit lebhaftem Temperament und sollte zunächst, wie mein Vater sagte, still¬
sitzen lernen. Geschadet hat mir der frühe Schulbesuch nicht. Ich ging von An¬
fang an gern zur Schule. Der üblichen, mit allerhand Konfekt gefüllten, bunten
Tute, die ich bei meinem ersten Eintritt in die Klasse von dem Lehrer bekam, hätte
es kaum bedurft, mich für die Schule zu interessieren. Mehr als das Zuckerwerk
imponierte mir der neue naturfarbne Tuchrock, den ich aus Anlaß meines ersten
Schulbesuchs erhielt. Bis dahin hatte ich entweder ein „Habit," d. h. eine mit
der hinten zugeknöpften Hose vereinigte Jacke oder einen „Kittel" getragen. Den
Rock empfand ich als einen gewaltigen Fortschritt. Ich muß in dem neuen Rocke
besonders würdig ausgesehen haben. Denn die Meinigen stellten mich darin vor
sich hin und behaupteten, der Junge sähe in dem Bratenrocke wie ein behäbiger
Pachter aus. Eine ganze Weile, wohl solange der Rock hielt, wurde ich zuhause
der „Pachter" genannt und gerufen.

Die Schule, in die ich täglich mit dem Ranzen auf dem Rücken trabte, war
vorzüglich. Sie leistete alles, was man von einer guten Volksschule verlangen
kann. Sie hatte vier Klassen. Jede war mit einem in seiner Art ausgezeichneten
Lehrer besetzt. Lehrer der untersten (vierten) Klasse war Herr Thieme, der dritten
Herr Kleinere, der zweiten Herr Scharfe, der ersten Herr Mahleke. Jeder von
ihnen war streng, ließ keine Unart durchgehn und lebte mir für die Schule. Sie
wußten die ihnen anvertrauten Kinder ungeachtet der in jeder Klasse über hundert
betragenden Schülerzahl den Altersstufen gemäß und bis zu einem gewissen Grade
sogar individuell zu behandeln. Ausnahmsweise wurde in der Schule auch mit
„ungebrannter Asche" gestraft. Das geschah selten, aber wenn es geschah, schmerzte
es empfindlich. Nicht bloß äußerlich, sondern um der Ehre willen auch inwendig.
In der vierten Klasse habe ich nie einen Schlag bekommen; in der dritten hat
mir Herr Kleinere einmal einen mäßigen Schlag mit dem Haselnußstöckchen über
den Rücken gegeben. Der Schlag tat weh, war aber durch unzeitiges Sprechen
während des Unterrichts Wohl verdient. Dieser Nackenschlag war überdies typisch
für meine Zukunft. Denn durch unzeitiges und vorschnelles Reden habe ich mir
später nur zu oft empfindliche Nackenschläge zugezogen. In der zweiten Klasse habe
ich mit drei oder vier Knaben ans wohlhabenden Familien einmal sogar „überge¬
legte" Schläge bekommen, und zwar zu unsrer tiefen Beschämung vor der ganzen
Klasse. Herr Scharfe setzte bei dieser Prozedur den einen Fuß auf die Bank, auf
der wir saßen. Dann legte er uns mit einem scharfen Ruck einen nach dem andern
über sein gekrümmtes Knie, zog mit der linken Hand die Hose prall und versetzte
mit der rechten mit einem Haselnußstock von der Dicke des kleinen Fingers drei
wohlgezielte Hiebe auf das Hinterteil. Sie taten unglaublich weh. Wir strampelten
mit den Füßen und heulten mörderlich. Das half nichts. Dazu ärgerten wir vier
oder fünf Bestraften, da wir die ersten der ganzen Klasse waren, uns über die
wohlgefälligen Gesichter der andern Jungen. Sie lachten zwar nicht, denn das


Grenzboten III 1903 M
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[0305] Aus der Jugendzeit als einmal ein Jahr ohne Krieg vergangen sei, habe er seinen Untertanen sofort die Steuern für ein ganzes Jahr erlassen. Das wollte uns Jungen nicht ein¬ leuchten, und leidenschaftlich wiesen wir darauf hin, daß er seine Kassen ans dem Erlöse der massenhaft verkauften Güter gefüllt habe, die nicht ihm gehört hätten. Die ältern Quedlinburger und ihre Väter hatten aber dabei gute Geschäfte gemacht, und wenn sie das westfälische Treiben auch nicht billigten, hatten sie doch für den König Jerome immer eine milde Entschuldigung bei der Hand. Uns Jungen er¬ schien das als eine schier unbegreifliche Wunderlichkeit. 6. Die Volksschule Schon zu Michaelis Z836 — ich war also nur wenig Monate über vier Jahre alt — schickte mich mein Vater in die unterste Klasse der städtischen Knaben¬ volksschule. Sie war in einem dreistöckigen großen Gebäude in der nur wenig Minuten von meinem Elternhause entfernten Beckstraße. Ich our ein kerngesundes Kind mit lebhaftem Temperament und sollte zunächst, wie mein Vater sagte, still¬ sitzen lernen. Geschadet hat mir der frühe Schulbesuch nicht. Ich ging von An¬ fang an gern zur Schule. Der üblichen, mit allerhand Konfekt gefüllten, bunten Tute, die ich bei meinem ersten Eintritt in die Klasse von dem Lehrer bekam, hätte es kaum bedurft, mich für die Schule zu interessieren. Mehr als das Zuckerwerk imponierte mir der neue naturfarbne Tuchrock, den ich aus Anlaß meines ersten Schulbesuchs erhielt. Bis dahin hatte ich entweder ein „Habit," d. h. eine mit der hinten zugeknöpften Hose vereinigte Jacke oder einen „Kittel" getragen. Den Rock empfand ich als einen gewaltigen Fortschritt. Ich muß in dem neuen Rocke besonders würdig ausgesehen haben. Denn die Meinigen stellten mich darin vor sich hin und behaupteten, der Junge sähe in dem Bratenrocke wie ein behäbiger Pachter aus. Eine ganze Weile, wohl solange der Rock hielt, wurde ich zuhause der „Pachter" genannt und gerufen. Die Schule, in die ich täglich mit dem Ranzen auf dem Rücken trabte, war vorzüglich. Sie leistete alles, was man von einer guten Volksschule verlangen kann. Sie hatte vier Klassen. Jede war mit einem in seiner Art ausgezeichneten Lehrer besetzt. Lehrer der untersten (vierten) Klasse war Herr Thieme, der dritten Herr Kleinere, der zweiten Herr Scharfe, der ersten Herr Mahleke. Jeder von ihnen war streng, ließ keine Unart durchgehn und lebte mir für die Schule. Sie wußten die ihnen anvertrauten Kinder ungeachtet der in jeder Klasse über hundert betragenden Schülerzahl den Altersstufen gemäß und bis zu einem gewissen Grade sogar individuell zu behandeln. Ausnahmsweise wurde in der Schule auch mit „ungebrannter Asche" gestraft. Das geschah selten, aber wenn es geschah, schmerzte es empfindlich. Nicht bloß äußerlich, sondern um der Ehre willen auch inwendig. In der vierten Klasse habe ich nie einen Schlag bekommen; in der dritten hat mir Herr Kleinere einmal einen mäßigen Schlag mit dem Haselnußstöckchen über den Rücken gegeben. Der Schlag tat weh, war aber durch unzeitiges Sprechen während des Unterrichts Wohl verdient. Dieser Nackenschlag war überdies typisch für meine Zukunft. Denn durch unzeitiges und vorschnelles Reden habe ich mir später nur zu oft empfindliche Nackenschläge zugezogen. In der zweiten Klasse habe ich mit drei oder vier Knaben ans wohlhabenden Familien einmal sogar „überge¬ legte" Schläge bekommen, und zwar zu unsrer tiefen Beschämung vor der ganzen Klasse. Herr Scharfe setzte bei dieser Prozedur den einen Fuß auf die Bank, auf der wir saßen. Dann legte er uns mit einem scharfen Ruck einen nach dem andern über sein gekrümmtes Knie, zog mit der linken Hand die Hose prall und versetzte mit der rechten mit einem Haselnußstock von der Dicke des kleinen Fingers drei wohlgezielte Hiebe auf das Hinterteil. Sie taten unglaublich weh. Wir strampelten mit den Füßen und heulten mörderlich. Das half nichts. Dazu ärgerten wir vier oder fünf Bestraften, da wir die ersten der ganzen Klasse waren, uns über die wohlgefälligen Gesichter der andern Jungen. Sie lachten zwar nicht, denn das Grenzboten III 1903 M

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_241213/305>, abgerufen am 24.11.2024.