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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Leibniz

unter seinen Auspizien zu stände gekommen war, und in diesem Sinne über¬
nahm er es, das Angebot zu übermitteln, zu dem sich Österreich, gleichfalls
um die verhaßte Allianz zu sprengen, entschlossen hatte, und das, wenn es
vier Wochen früher erfolgt wäre, in der Tat den Abschluß des Bündnisses
verhindert hätte.

(Schluß folgt)




Leibniz
^ Seine Physik

er Kaiser hat in seiner von deu Zeitungen vielleicht nicht ganz
genau wiedergegebn":" Görlitzer Rede u. a. gesagt: "Das neue
Jahrhundert wird beherrscht durch die Wissenschaft, die Technik
einbegriffen, nicht wie das vorige durch die Philosophie."
(Das philosophische Zeitalter ist um das Jahr 1850 vom natur¬
wissenschaftlichen abgelöst worden.) Da gewisse Realisten diese Äußerung duzn
mißbrauchen werden, die Philosophie muss neue als ein Hirngespinst ver¬
gangner Jahrhunderte zu verschreie", so kommt uns ein Buch gelegen, das an
den unlösbaren Zusammenhang der Naturwissenschaften mit der Philosophie er¬
innert: Leibniz Shstem in seinen wissenschaftlichen Grundlagen von Dr. Ernst
Cassirer. (Marburg, N. G. Elwert, 1902.) Die Physik ist sowohl bei den
Griechen, wo sie in ihren Anfängen stecken blieb, als auch bei uns, wo sie
sich zu eiuer endlosen Fortschritt verbürgender Kraft und Fülle entfaltet hat,
aus der Philosophie hervorgegangen und würde zur Überlieferung toter Formeln
und Fertigkeiten erstarren, wenn das methodische schöpferische Denken -- das
und nichts andres ist die Philosophie -- einmal abstürbe. Kopernikus, Kepler,
Galilei, Newton, die größten Mathematiker, Physiker und Astronomen, sind
Philosophen, die große" Philosophen Cartesius und Leibniz sind Mathematiker
gewesen. Nicht Zufall oder Laune war es, was den Philosophen Leibniz zum
Miterfinder der Jnsinitesimnlrechnnng machte, sondern diese ist die Wurzel,
aus der seiue Physik und seine Metaphysik in unauflösbarer Wechselwirkung
hervorgegangen sind. Wenn dieser Zusammenhang in den meisten Darstel-
lungen nicht einmal erwähnt, viel weniger ausführlich beschrieben wird, so
kommt das wohl daher, daß die Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts
-- jetzt ändert sich das -- in der Regel keine Mathematiker gewesen sind und
die mathematischen Schriften des größten aller Polyhistoren nicht gelesen haben.
Die Infinitesimalrechnung zu erlernen, habe zwar auch ich bis jetzt noch nicht
Zeit gefunden, aber ihren Grundgedanken verstehe ich wenigstens (deu Schlüssel
habe ich bei Liebmann gefunden), und das genügt, auch Cassirers Buch zu
verstehn, das uus erzählt, wie Leibnizens Philosophie samt der ganzen modernen
Naturwissenschaft uns dieser Wurzel hervorgegangen ist.

Die Hälfte der Eins ist zweimal, das Viertel viermal in der Eins ent-


Leibniz

unter seinen Auspizien zu stände gekommen war, und in diesem Sinne über¬
nahm er es, das Angebot zu übermitteln, zu dem sich Österreich, gleichfalls
um die verhaßte Allianz zu sprengen, entschlossen hatte, und das, wenn es
vier Wochen früher erfolgt wäre, in der Tat den Abschluß des Bündnisses
verhindert hätte.

(Schluß folgt)




Leibniz
^ Seine Physik

er Kaiser hat in seiner von deu Zeitungen vielleicht nicht ganz
genau wiedergegebn«:» Görlitzer Rede u. a. gesagt: „Das neue
Jahrhundert wird beherrscht durch die Wissenschaft, die Technik
einbegriffen, nicht wie das vorige durch die Philosophie."
(Das philosophische Zeitalter ist um das Jahr 1850 vom natur¬
wissenschaftlichen abgelöst worden.) Da gewisse Realisten diese Äußerung duzn
mißbrauchen werden, die Philosophie muss neue als ein Hirngespinst ver¬
gangner Jahrhunderte zu verschreie», so kommt uns ein Buch gelegen, das an
den unlösbaren Zusammenhang der Naturwissenschaften mit der Philosophie er¬
innert: Leibniz Shstem in seinen wissenschaftlichen Grundlagen von Dr. Ernst
Cassirer. (Marburg, N. G. Elwert, 1902.) Die Physik ist sowohl bei den
Griechen, wo sie in ihren Anfängen stecken blieb, als auch bei uns, wo sie
sich zu eiuer endlosen Fortschritt verbürgender Kraft und Fülle entfaltet hat,
aus der Philosophie hervorgegangen und würde zur Überlieferung toter Formeln
und Fertigkeiten erstarren, wenn das methodische schöpferische Denken — das
und nichts andres ist die Philosophie — einmal abstürbe. Kopernikus, Kepler,
Galilei, Newton, die größten Mathematiker, Physiker und Astronomen, sind
Philosophen, die große» Philosophen Cartesius und Leibniz sind Mathematiker
gewesen. Nicht Zufall oder Laune war es, was den Philosophen Leibniz zum
Miterfinder der Jnsinitesimnlrechnnng machte, sondern diese ist die Wurzel,
aus der seiue Physik und seine Metaphysik in unauflösbarer Wechselwirkung
hervorgegangen sind. Wenn dieser Zusammenhang in den meisten Darstel-
lungen nicht einmal erwähnt, viel weniger ausführlich beschrieben wird, so
kommt das wohl daher, daß die Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts
— jetzt ändert sich das — in der Regel keine Mathematiker gewesen sind und
die mathematischen Schriften des größten aller Polyhistoren nicht gelesen haben.
Die Infinitesimalrechnung zu erlernen, habe zwar auch ich bis jetzt noch nicht
Zeit gefunden, aber ihren Grundgedanken verstehe ich wenigstens (deu Schlüssel
habe ich bei Liebmann gefunden), und das genügt, auch Cassirers Buch zu
verstehn, das uus erzählt, wie Leibnizens Philosophie samt der ganzen modernen
Naturwissenschaft uns dieser Wurzel hervorgegangen ist.

Die Hälfte der Eins ist zweimal, das Viertel viermal in der Eins ent-


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[0087] Leibniz unter seinen Auspizien zu stände gekommen war, und in diesem Sinne über¬ nahm er es, das Angebot zu übermitteln, zu dem sich Österreich, gleichfalls um die verhaßte Allianz zu sprengen, entschlossen hatte, und das, wenn es vier Wochen früher erfolgt wäre, in der Tat den Abschluß des Bündnisses verhindert hätte. (Schluß folgt) Leibniz ^ Seine Physik er Kaiser hat in seiner von deu Zeitungen vielleicht nicht ganz genau wiedergegebn«:» Görlitzer Rede u. a. gesagt: „Das neue Jahrhundert wird beherrscht durch die Wissenschaft, die Technik einbegriffen, nicht wie das vorige durch die Philosophie." (Das philosophische Zeitalter ist um das Jahr 1850 vom natur¬ wissenschaftlichen abgelöst worden.) Da gewisse Realisten diese Äußerung duzn mißbrauchen werden, die Philosophie muss neue als ein Hirngespinst ver¬ gangner Jahrhunderte zu verschreie», so kommt uns ein Buch gelegen, das an den unlösbaren Zusammenhang der Naturwissenschaften mit der Philosophie er¬ innert: Leibniz Shstem in seinen wissenschaftlichen Grundlagen von Dr. Ernst Cassirer. (Marburg, N. G. Elwert, 1902.) Die Physik ist sowohl bei den Griechen, wo sie in ihren Anfängen stecken blieb, als auch bei uns, wo sie sich zu eiuer endlosen Fortschritt verbürgender Kraft und Fülle entfaltet hat, aus der Philosophie hervorgegangen und würde zur Überlieferung toter Formeln und Fertigkeiten erstarren, wenn das methodische schöpferische Denken — das und nichts andres ist die Philosophie — einmal abstürbe. Kopernikus, Kepler, Galilei, Newton, die größten Mathematiker, Physiker und Astronomen, sind Philosophen, die große» Philosophen Cartesius und Leibniz sind Mathematiker gewesen. Nicht Zufall oder Laune war es, was den Philosophen Leibniz zum Miterfinder der Jnsinitesimnlrechnnng machte, sondern diese ist die Wurzel, aus der seiue Physik und seine Metaphysik in unauflösbarer Wechselwirkung hervorgegangen sind. Wenn dieser Zusammenhang in den meisten Darstel- lungen nicht einmal erwähnt, viel weniger ausführlich beschrieben wird, so kommt das wohl daher, daß die Philosophen des neunzehnten Jahrhunderts — jetzt ändert sich das — in der Regel keine Mathematiker gewesen sind und die mathematischen Schriften des größten aller Polyhistoren nicht gelesen haben. Die Infinitesimalrechnung zu erlernen, habe zwar auch ich bis jetzt noch nicht Zeit gefunden, aber ihren Grundgedanken verstehe ich wenigstens (deu Schlüssel habe ich bei Liebmann gefunden), und das genügt, auch Cassirers Buch zu verstehn, das uus erzählt, wie Leibnizens Philosophie samt der ganzen modernen Naturwissenschaft uns dieser Wurzel hervorgegangen ist. Die Hälfte der Eins ist zweimal, das Viertel viermal in der Eins ent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/87>, abgerufen am 23.11.2024.