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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

die Existenz erzeugen im Mann und im Weib eine erbitterte Stimmung, die sich
in Zank und gegenseitigen Mißhandlungen Luft macht. Und alle diese Leute -- was
sind gegen ihre wirklichen Leiden die eingebildeten einer Nora? -- müssen aus¬
halten in ihrer unbequemen Lage, wenn sie nicht in den Sumpf des Lumpen¬
proletariats versinken wollen. Die Forscher aber, deren Ergebnisse erst in Technik
umgesetzt werden mußten, ehe die oben aufgezählten Handarbeiter ihr Werk be¬
ginnen konnten, würden ihre staunenswerten Leistungen nicht vollbracht haben, wenn
sie ihre Zeit und Kraft mit Liebeständelei und Grillen vertrödelt hätten. Keinem
dieser vielen Menschen, die sich für dich abgemüht haben, kannst du deine Schuld
bezahlen, denn du kennst sie alle gar nicht. Statt ihrer hast du die Menschen
deines Pflichtenkreises, dem du treu zu bleiben hast, auch wenn er dich drückt.
Wollte jeder fortlaufen, den seine Pflichten drücken -- du lieber Himmel, wie
würde es da aussehen in der Welt! Ausgenommen die Ledernen und die Hölzernen,
die stumpfsinnigen und die ganz Rohen gibt es keinen Menschen, den nicht Ärger¬
nisse in der Familie, im Amt, im Geschäft manchmal zur Verzweiflung brachten,
sodaß er ausruft- Ich Halts nicht länger aus, ich laufe fort! Der Vernünftige
läuft aber nicht fort, sondern fügt sich -- je nachdem betend oder fluchend -- ins
Joch und schleppt den Pflichtkarren weiter. Wenn die Körper, sagt Leibniz, nicht
die Eigenschaften der Trägheit und der Widerstandskraft hätten, wenn jeder kleinste
Körper seine Bewegung durch einen Stoß jedem größten mitteilte, so käme statt
des Kosmos ein Chaos heraus. Dasselbe gilt von der sozialen Welt. Alle soziale
Ordnung beruht darauf, daß jeder durch das Schwergewicht seines Pflichtgefühls
und seiner die Interessen abschätzenden vernünftigen Überlegung an seine Stelle ge¬
fesselt und in seiner Funktion erhalten wird. Wenn jeder widerstandslos jeden:
Antrieb eines Gelüstes, einer Laune, einer Phantasie, eiues eingebildeten Bedürf-
nisses folgte, dann käme kein Eisenbahnzug und kein Brief an, bekäme kein Be¬
amter seinen Gehalt, kein Arbeiter seinen Lohn, würde keine Stadt mit Lebens-
mitteln versorgt, käme es zu keinem Hausbau und überhaupt zu keinem geordneten
Zusammenwirken für irgend einen friedlichen oder kriegerischen Zweck.

Ausnahmen müssen zugelassen werden, denn jede Verpflichtung hat, wie alles
in der Welt, ihre Grenze. Wenn eine Frau furchtbare körperliche Mißhandlungen
zu erdulden hat, so darf sie fliehen -- nur nicht mit einem Liebhaber. Sprengt
ein Genie die Fesseln einengender Familien- oder Amtspflichten, um an eine Stelle
zu gelangen, wo es sich entfalten kann, so wird ihm das Urteil der Nachwelt nicht allein
Pflichtverletzungen, sondern vielleicht sogar Verbrechen verzeihen, wenn seine Leistungen
-- große Kunstwerke oder große Taten -- bewiesen haben, daß er nicht eitler Ein¬
bildung, sondern wirklich einem göttlichen Ruf gefolgt ist. Aber Schäferstündchen mit
U. I. einem lieben hübschen Kerl sind weder Kunstwerke noch Großtaten.


Kantoreigesellschaftcn.

Es trifft sich gut, daß gerade jetzt eine Schrift")
erschienen ist über einen Gegenstand auf dem Gebiete der Musik, der in Ur. 34
der Grenzboten von 1902 S. 409 (Musikalische Zeitfragen) kurz erwähnt worden
und manchem Leser vielleicht unverständlich geblieben ist. Das sind die Kantoreien des
alten Kursachsens, Laienchöre, die zur Hebung des Gottesdienstes in der Reformations-
zeit gegründet worden sind und in ihren Resten zum Teil noch heute fortbestehn.

Die Geschichte dieser Gesellschaften ist im vorliegenden Buche zum erstenmal
im Zusammenhange ans Grund urkundlicher Forschungen behandelt worden und
verdient schon mit Rücksicht ans die in den erwähnten "musikalischen Zeitfragen"
aufgedeckten Mängel der Musikpflege die Beachtung weiterer Kreise.

Das Heimatland der Kantoreien, sagt der Verfasser, ist Sachsen und Thüringen,
das schöne Stück deutschen Landes, das ein sangessrohes Völkchen und eine große
Zahl hochbegabter Komponisten hervorgebracht und beherbergt hat, das in der Ge-



Geschichte der Kantoreigesellschaften im ehemaligen Kurfürstentum Sachsen von Arno
Werner (Bitterfeld), (Neuntes Beiheft der Publikationen' der internationalen Musikgescllschnst.)
Leipzig, Breitkopf K Hcirtel. 84 Seiten. ?> Mark.
Maßgebliches und Unmaßgebliches

die Existenz erzeugen im Mann und im Weib eine erbitterte Stimmung, die sich
in Zank und gegenseitigen Mißhandlungen Luft macht. Und alle diese Leute — was
sind gegen ihre wirklichen Leiden die eingebildeten einer Nora? — müssen aus¬
halten in ihrer unbequemen Lage, wenn sie nicht in den Sumpf des Lumpen¬
proletariats versinken wollen. Die Forscher aber, deren Ergebnisse erst in Technik
umgesetzt werden mußten, ehe die oben aufgezählten Handarbeiter ihr Werk be¬
ginnen konnten, würden ihre staunenswerten Leistungen nicht vollbracht haben, wenn
sie ihre Zeit und Kraft mit Liebeständelei und Grillen vertrödelt hätten. Keinem
dieser vielen Menschen, die sich für dich abgemüht haben, kannst du deine Schuld
bezahlen, denn du kennst sie alle gar nicht. Statt ihrer hast du die Menschen
deines Pflichtenkreises, dem du treu zu bleiben hast, auch wenn er dich drückt.
Wollte jeder fortlaufen, den seine Pflichten drücken — du lieber Himmel, wie
würde es da aussehen in der Welt! Ausgenommen die Ledernen und die Hölzernen,
die stumpfsinnigen und die ganz Rohen gibt es keinen Menschen, den nicht Ärger¬
nisse in der Familie, im Amt, im Geschäft manchmal zur Verzweiflung brachten,
sodaß er ausruft- Ich Halts nicht länger aus, ich laufe fort! Der Vernünftige
läuft aber nicht fort, sondern fügt sich — je nachdem betend oder fluchend — ins
Joch und schleppt den Pflichtkarren weiter. Wenn die Körper, sagt Leibniz, nicht
die Eigenschaften der Trägheit und der Widerstandskraft hätten, wenn jeder kleinste
Körper seine Bewegung durch einen Stoß jedem größten mitteilte, so käme statt
des Kosmos ein Chaos heraus. Dasselbe gilt von der sozialen Welt. Alle soziale
Ordnung beruht darauf, daß jeder durch das Schwergewicht seines Pflichtgefühls
und seiner die Interessen abschätzenden vernünftigen Überlegung an seine Stelle ge¬
fesselt und in seiner Funktion erhalten wird. Wenn jeder widerstandslos jeden:
Antrieb eines Gelüstes, einer Laune, einer Phantasie, eiues eingebildeten Bedürf-
nisses folgte, dann käme kein Eisenbahnzug und kein Brief an, bekäme kein Be¬
amter seinen Gehalt, kein Arbeiter seinen Lohn, würde keine Stadt mit Lebens-
mitteln versorgt, käme es zu keinem Hausbau und überhaupt zu keinem geordneten
Zusammenwirken für irgend einen friedlichen oder kriegerischen Zweck.

Ausnahmen müssen zugelassen werden, denn jede Verpflichtung hat, wie alles
in der Welt, ihre Grenze. Wenn eine Frau furchtbare körperliche Mißhandlungen
zu erdulden hat, so darf sie fliehen — nur nicht mit einem Liebhaber. Sprengt
ein Genie die Fesseln einengender Familien- oder Amtspflichten, um an eine Stelle
zu gelangen, wo es sich entfalten kann, so wird ihm das Urteil der Nachwelt nicht allein
Pflichtverletzungen, sondern vielleicht sogar Verbrechen verzeihen, wenn seine Leistungen
— große Kunstwerke oder große Taten — bewiesen haben, daß er nicht eitler Ein¬
bildung, sondern wirklich einem göttlichen Ruf gefolgt ist. Aber Schäferstündchen mit
U. I. einem lieben hübschen Kerl sind weder Kunstwerke noch Großtaten.


Kantoreigesellschaftcn.

Es trifft sich gut, daß gerade jetzt eine Schrift")
erschienen ist über einen Gegenstand auf dem Gebiete der Musik, der in Ur. 34
der Grenzboten von 1902 S. 409 (Musikalische Zeitfragen) kurz erwähnt worden
und manchem Leser vielleicht unverständlich geblieben ist. Das sind die Kantoreien des
alten Kursachsens, Laienchöre, die zur Hebung des Gottesdienstes in der Reformations-
zeit gegründet worden sind und in ihren Resten zum Teil noch heute fortbestehn.

Die Geschichte dieser Gesellschaften ist im vorliegenden Buche zum erstenmal
im Zusammenhange ans Grund urkundlicher Forschungen behandelt worden und
verdient schon mit Rücksicht ans die in den erwähnten „musikalischen Zeitfragen"
aufgedeckten Mängel der Musikpflege die Beachtung weiterer Kreise.

Das Heimatland der Kantoreien, sagt der Verfasser, ist Sachsen und Thüringen,
das schöne Stück deutschen Landes, das ein sangessrohes Völkchen und eine große
Zahl hochbegabter Komponisten hervorgebracht und beherbergt hat, das in der Ge-



Geschichte der Kantoreigesellschaften im ehemaligen Kurfürstentum Sachsen von Arno
Werner (Bitterfeld), (Neuntes Beiheft der Publikationen' der internationalen Musikgescllschnst.)
Leipzig, Breitkopf K Hcirtel. 84 Seiten. ?> Mark.
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[0442] Maßgebliches und Unmaßgebliches die Existenz erzeugen im Mann und im Weib eine erbitterte Stimmung, die sich in Zank und gegenseitigen Mißhandlungen Luft macht. Und alle diese Leute — was sind gegen ihre wirklichen Leiden die eingebildeten einer Nora? — müssen aus¬ halten in ihrer unbequemen Lage, wenn sie nicht in den Sumpf des Lumpen¬ proletariats versinken wollen. Die Forscher aber, deren Ergebnisse erst in Technik umgesetzt werden mußten, ehe die oben aufgezählten Handarbeiter ihr Werk be¬ ginnen konnten, würden ihre staunenswerten Leistungen nicht vollbracht haben, wenn sie ihre Zeit und Kraft mit Liebeständelei und Grillen vertrödelt hätten. Keinem dieser vielen Menschen, die sich für dich abgemüht haben, kannst du deine Schuld bezahlen, denn du kennst sie alle gar nicht. Statt ihrer hast du die Menschen deines Pflichtenkreises, dem du treu zu bleiben hast, auch wenn er dich drückt. Wollte jeder fortlaufen, den seine Pflichten drücken — du lieber Himmel, wie würde es da aussehen in der Welt! Ausgenommen die Ledernen und die Hölzernen, die stumpfsinnigen und die ganz Rohen gibt es keinen Menschen, den nicht Ärger¬ nisse in der Familie, im Amt, im Geschäft manchmal zur Verzweiflung brachten, sodaß er ausruft- Ich Halts nicht länger aus, ich laufe fort! Der Vernünftige läuft aber nicht fort, sondern fügt sich — je nachdem betend oder fluchend — ins Joch und schleppt den Pflichtkarren weiter. Wenn die Körper, sagt Leibniz, nicht die Eigenschaften der Trägheit und der Widerstandskraft hätten, wenn jeder kleinste Körper seine Bewegung durch einen Stoß jedem größten mitteilte, so käme statt des Kosmos ein Chaos heraus. Dasselbe gilt von der sozialen Welt. Alle soziale Ordnung beruht darauf, daß jeder durch das Schwergewicht seines Pflichtgefühls und seiner die Interessen abschätzenden vernünftigen Überlegung an seine Stelle ge¬ fesselt und in seiner Funktion erhalten wird. Wenn jeder widerstandslos jeden: Antrieb eines Gelüstes, einer Laune, einer Phantasie, eiues eingebildeten Bedürf- nisses folgte, dann käme kein Eisenbahnzug und kein Brief an, bekäme kein Be¬ amter seinen Gehalt, kein Arbeiter seinen Lohn, würde keine Stadt mit Lebens- mitteln versorgt, käme es zu keinem Hausbau und überhaupt zu keinem geordneten Zusammenwirken für irgend einen friedlichen oder kriegerischen Zweck. Ausnahmen müssen zugelassen werden, denn jede Verpflichtung hat, wie alles in der Welt, ihre Grenze. Wenn eine Frau furchtbare körperliche Mißhandlungen zu erdulden hat, so darf sie fliehen — nur nicht mit einem Liebhaber. Sprengt ein Genie die Fesseln einengender Familien- oder Amtspflichten, um an eine Stelle zu gelangen, wo es sich entfalten kann, so wird ihm das Urteil der Nachwelt nicht allein Pflichtverletzungen, sondern vielleicht sogar Verbrechen verzeihen, wenn seine Leistungen — große Kunstwerke oder große Taten — bewiesen haben, daß er nicht eitler Ein¬ bildung, sondern wirklich einem göttlichen Ruf gefolgt ist. Aber Schäferstündchen mit U. I. einem lieben hübschen Kerl sind weder Kunstwerke noch Großtaten. Kantoreigesellschaftcn. Es trifft sich gut, daß gerade jetzt eine Schrift") erschienen ist über einen Gegenstand auf dem Gebiete der Musik, der in Ur. 34 der Grenzboten von 1902 S. 409 (Musikalische Zeitfragen) kurz erwähnt worden und manchem Leser vielleicht unverständlich geblieben ist. Das sind die Kantoreien des alten Kursachsens, Laienchöre, die zur Hebung des Gottesdienstes in der Reformations- zeit gegründet worden sind und in ihren Resten zum Teil noch heute fortbestehn. Die Geschichte dieser Gesellschaften ist im vorliegenden Buche zum erstenmal im Zusammenhange ans Grund urkundlicher Forschungen behandelt worden und verdient schon mit Rücksicht ans die in den erwähnten „musikalischen Zeitfragen" aufgedeckten Mängel der Musikpflege die Beachtung weiterer Kreise. Das Heimatland der Kantoreien, sagt der Verfasser, ist Sachsen und Thüringen, das schöne Stück deutschen Landes, das ein sangessrohes Völkchen und eine große Zahl hochbegabter Komponisten hervorgebracht und beherbergt hat, das in der Ge- Geschichte der Kantoreigesellschaften im ehemaligen Kurfürstentum Sachsen von Arno Werner (Bitterfeld), (Neuntes Beiheft der Publikationen' der internationalen Musikgescllschnst.) Leipzig, Breitkopf K Hcirtel. 84 Seiten. ?> Mark.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/442>, abgerufen am 27.11.2024.