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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

man nicht veröffentlichen, ohne durch einen kühl verständigen Epilog etwaigen
schlimmen Wirkungen vorzubeugen.) Anders steht es bei Ibsen, der in seinen
Problemdramen Stimmungen, die er selbst nicht haben konnte, künstlich konstruiert
hat, und der als erfahrner, gereifter Mann über die Wirkungen, die sie ausüben
mußten, uicht im Zweifel sein konnte.

Zoten und Cynismen, wie sie die ältern großen Dichter nicht verschmäht
haben, verwirft unsre feine Zeit als roh und unsittlich, aber die Moral schädigen
sie nicht, weil sie das sittliche Urteil weder fälschen noch verwirren, noch die sitt¬
liche Empfindung abstumpfen, wie es der Jesuitismus mancher modernen Romane
und Dramen tut. Wenn Shakespeare Dirnen einführt, so sucht er uns nicht zu
überreden, es seien unverstcmdne edle Seelen, und wo er das Liebesproblem ernst¬
haft behandelt, weicht er nicht einen Schritt breit vom Boden der natürlichen
Moral. Zwischen Romeo und Julia steht nichts als die unvernünftige und un¬
sittliche Feindschaft ihrer Familien; indem sich die Liebenden vereinigen, verletzen
sie keine Pflicht und niemands Recht, und sie genießen einander nicht eher, als bis
sie vor dem guten Pater Lorenzo Gatte und Gattin geworden sind. Der Goethe,
der die Römischen Elegien geschrieben und gelebt hat, war nicht verheiratet, und
er schädigte keinen Menschen. Denn wo er verzichtet hätte, würde ein andrer ge¬
nossen und noch dazu karger gezahlt haben als "der freie rüstige Fremde." In
den Wahlverwciudtschafteu läßt er schon den in Gedanken begangnen doppelten Ehe¬
bruch die Schuldigen tragisch büßen.

Die Verbreitung von Literatnrgift kann in unsrer Zeit nicht verhindert werden,
darum müssen die Seelen gegen seine Wirkungen gestählt werden. Eine verständige
Mutter von fünf Kindern hat ja, wenn sie nicht zu ihren: Unglück sehr reich oder sehr
vornehm ist, keine Zeit, ins Theater zu laufen und verrückte Romane zu lesen; befähigt
sie ihr Bildungsgrad dazu, so wird sie Pestalozzi und Herbart, die modernen Physio¬
logen, Psychologen, Hygieniker studieren. Wenn aber ein Mädchen unsre Lazarettstücke
liest -- Goethe gebraucht den Ausdruck --, deren Helden Seelenkrüppel sind, so
sollen ihm Vater und Mutter den Epilog dazu halten, etwa in folgender Weise:

Laß dich nicht irre machen durch Redensarten wie "Lebe dich ans! Wage, du
selbst zu sein! nette deine Persönlichkeit!" und wie die neuen Gebote sonst heißen.
Den Rechte" gehn allemal die Pflichten voran, und deine Rechte geltend zu macheu
mit Verletzung deiner Pflichten, ohne Rücksicht uns die begründeten Ansprüche
andrer, dazu hast du schon darum nicht das Recht, weil du ohne die andern nichts
bist und nichts vermagst, nicht eine Woche lang dein physisches Leben zu fristen,
geschweige denn als Kulturmensch zu leben vermagst. Du kannst dich des Morgens
nicht ankleiden und dein Frühstück nicht verzehren, ohne daß sich eine Menge Menschen
für dich abgemüht haben. Die Arbeiter und die Arbeiterinnen der Spinnereien,
der Webereien, der Seidenmannfaktnren, die armen Nähterinnen, die braunen und
die schwarzen Sklaven und Kukis der Kaffee- und der Baumwollenplantagen, die
Heizer und die Kohlenzieher der Transportdampfer, die die Kolonialwaren nach
Europa bringen, die Zugführer, Heizer, Weichensteller, Rangierer, Telegraphisten
der Eisenbahnen, die sie von Hamburg und Bremen oder von Trieft ins Innere
befördern, die Bäcker, die des°Nachts dein Weißbrot backen, die Töpfer, die dir
deinen Kochofen und die Heizöfen gesetzt, die Handwerker, die dein Haus gebant
und deine Wohnung behaglich ausgestattet haben, die Bergleute, die im Dunkel
und in der Bruthitze des'tiefen Schachtes mit Lebensgefahr für dich Kohlen ge¬
hauen haben, sie alle führen kein sehr vergnügliches Leben. Manche erleiden die
halbe, manche die ganze Hölle. Alle müssen sich plagen, und die meisten waren
froh, wenn sie es zu dem Grade von animalischen Behagen brächten, unterhalb
dessen seelische Bedürfnisse gar nicht zu entstehn pflegen. Regen sich dennoch solche,
so fragt kein Mensch danach, ob sie befriedigt werden können; ob der Arbeiter
geistige Anregungen und eine angenehme Unterhaltung hat, und ob die Temperatur
seines Familienkreises zu warm oder zu kalt ist. Gur oft ist sie ungemütlich heiß,
denn Überarbeit, Entbehrungen, Verdruß und immerwährende nagende Sorge um


Maßgebliches und Unmaßgebliches

man nicht veröffentlichen, ohne durch einen kühl verständigen Epilog etwaigen
schlimmen Wirkungen vorzubeugen.) Anders steht es bei Ibsen, der in seinen
Problemdramen Stimmungen, die er selbst nicht haben konnte, künstlich konstruiert
hat, und der als erfahrner, gereifter Mann über die Wirkungen, die sie ausüben
mußten, uicht im Zweifel sein konnte.

Zoten und Cynismen, wie sie die ältern großen Dichter nicht verschmäht
haben, verwirft unsre feine Zeit als roh und unsittlich, aber die Moral schädigen
sie nicht, weil sie das sittliche Urteil weder fälschen noch verwirren, noch die sitt¬
liche Empfindung abstumpfen, wie es der Jesuitismus mancher modernen Romane
und Dramen tut. Wenn Shakespeare Dirnen einführt, so sucht er uns nicht zu
überreden, es seien unverstcmdne edle Seelen, und wo er das Liebesproblem ernst¬
haft behandelt, weicht er nicht einen Schritt breit vom Boden der natürlichen
Moral. Zwischen Romeo und Julia steht nichts als die unvernünftige und un¬
sittliche Feindschaft ihrer Familien; indem sich die Liebenden vereinigen, verletzen
sie keine Pflicht und niemands Recht, und sie genießen einander nicht eher, als bis
sie vor dem guten Pater Lorenzo Gatte und Gattin geworden sind. Der Goethe,
der die Römischen Elegien geschrieben und gelebt hat, war nicht verheiratet, und
er schädigte keinen Menschen. Denn wo er verzichtet hätte, würde ein andrer ge¬
nossen und noch dazu karger gezahlt haben als „der freie rüstige Fremde." In
den Wahlverwciudtschafteu läßt er schon den in Gedanken begangnen doppelten Ehe¬
bruch die Schuldigen tragisch büßen.

Die Verbreitung von Literatnrgift kann in unsrer Zeit nicht verhindert werden,
darum müssen die Seelen gegen seine Wirkungen gestählt werden. Eine verständige
Mutter von fünf Kindern hat ja, wenn sie nicht zu ihren: Unglück sehr reich oder sehr
vornehm ist, keine Zeit, ins Theater zu laufen und verrückte Romane zu lesen; befähigt
sie ihr Bildungsgrad dazu, so wird sie Pestalozzi und Herbart, die modernen Physio¬
logen, Psychologen, Hygieniker studieren. Wenn aber ein Mädchen unsre Lazarettstücke
liest — Goethe gebraucht den Ausdruck —, deren Helden Seelenkrüppel sind, so
sollen ihm Vater und Mutter den Epilog dazu halten, etwa in folgender Weise:

Laß dich nicht irre machen durch Redensarten wie „Lebe dich ans! Wage, du
selbst zu sein! nette deine Persönlichkeit!" und wie die neuen Gebote sonst heißen.
Den Rechte« gehn allemal die Pflichten voran, und deine Rechte geltend zu macheu
mit Verletzung deiner Pflichten, ohne Rücksicht uns die begründeten Ansprüche
andrer, dazu hast du schon darum nicht das Recht, weil du ohne die andern nichts
bist und nichts vermagst, nicht eine Woche lang dein physisches Leben zu fristen,
geschweige denn als Kulturmensch zu leben vermagst. Du kannst dich des Morgens
nicht ankleiden und dein Frühstück nicht verzehren, ohne daß sich eine Menge Menschen
für dich abgemüht haben. Die Arbeiter und die Arbeiterinnen der Spinnereien,
der Webereien, der Seidenmannfaktnren, die armen Nähterinnen, die braunen und
die schwarzen Sklaven und Kukis der Kaffee- und der Baumwollenplantagen, die
Heizer und die Kohlenzieher der Transportdampfer, die die Kolonialwaren nach
Europa bringen, die Zugführer, Heizer, Weichensteller, Rangierer, Telegraphisten
der Eisenbahnen, die sie von Hamburg und Bremen oder von Trieft ins Innere
befördern, die Bäcker, die des°Nachts dein Weißbrot backen, die Töpfer, die dir
deinen Kochofen und die Heizöfen gesetzt, die Handwerker, die dein Haus gebant
und deine Wohnung behaglich ausgestattet haben, die Bergleute, die im Dunkel
und in der Bruthitze des'tiefen Schachtes mit Lebensgefahr für dich Kohlen ge¬
hauen haben, sie alle führen kein sehr vergnügliches Leben. Manche erleiden die
halbe, manche die ganze Hölle. Alle müssen sich plagen, und die meisten waren
froh, wenn sie es zu dem Grade von animalischen Behagen brächten, unterhalb
dessen seelische Bedürfnisse gar nicht zu entstehn pflegen. Regen sich dennoch solche,
so fragt kein Mensch danach, ob sie befriedigt werden können; ob der Arbeiter
geistige Anregungen und eine angenehme Unterhaltung hat, und ob die Temperatur
seines Familienkreises zu warm oder zu kalt ist. Gur oft ist sie ungemütlich heiß,
denn Überarbeit, Entbehrungen, Verdruß und immerwährende nagende Sorge um


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[0441] Maßgebliches und Unmaßgebliches man nicht veröffentlichen, ohne durch einen kühl verständigen Epilog etwaigen schlimmen Wirkungen vorzubeugen.) Anders steht es bei Ibsen, der in seinen Problemdramen Stimmungen, die er selbst nicht haben konnte, künstlich konstruiert hat, und der als erfahrner, gereifter Mann über die Wirkungen, die sie ausüben mußten, uicht im Zweifel sein konnte. Zoten und Cynismen, wie sie die ältern großen Dichter nicht verschmäht haben, verwirft unsre feine Zeit als roh und unsittlich, aber die Moral schädigen sie nicht, weil sie das sittliche Urteil weder fälschen noch verwirren, noch die sitt¬ liche Empfindung abstumpfen, wie es der Jesuitismus mancher modernen Romane und Dramen tut. Wenn Shakespeare Dirnen einführt, so sucht er uns nicht zu überreden, es seien unverstcmdne edle Seelen, und wo er das Liebesproblem ernst¬ haft behandelt, weicht er nicht einen Schritt breit vom Boden der natürlichen Moral. Zwischen Romeo und Julia steht nichts als die unvernünftige und un¬ sittliche Feindschaft ihrer Familien; indem sich die Liebenden vereinigen, verletzen sie keine Pflicht und niemands Recht, und sie genießen einander nicht eher, als bis sie vor dem guten Pater Lorenzo Gatte und Gattin geworden sind. Der Goethe, der die Römischen Elegien geschrieben und gelebt hat, war nicht verheiratet, und er schädigte keinen Menschen. Denn wo er verzichtet hätte, würde ein andrer ge¬ nossen und noch dazu karger gezahlt haben als „der freie rüstige Fremde." In den Wahlverwciudtschafteu läßt er schon den in Gedanken begangnen doppelten Ehe¬ bruch die Schuldigen tragisch büßen. Die Verbreitung von Literatnrgift kann in unsrer Zeit nicht verhindert werden, darum müssen die Seelen gegen seine Wirkungen gestählt werden. Eine verständige Mutter von fünf Kindern hat ja, wenn sie nicht zu ihren: Unglück sehr reich oder sehr vornehm ist, keine Zeit, ins Theater zu laufen und verrückte Romane zu lesen; befähigt sie ihr Bildungsgrad dazu, so wird sie Pestalozzi und Herbart, die modernen Physio¬ logen, Psychologen, Hygieniker studieren. Wenn aber ein Mädchen unsre Lazarettstücke liest — Goethe gebraucht den Ausdruck —, deren Helden Seelenkrüppel sind, so sollen ihm Vater und Mutter den Epilog dazu halten, etwa in folgender Weise: Laß dich nicht irre machen durch Redensarten wie „Lebe dich ans! Wage, du selbst zu sein! nette deine Persönlichkeit!" und wie die neuen Gebote sonst heißen. Den Rechte« gehn allemal die Pflichten voran, und deine Rechte geltend zu macheu mit Verletzung deiner Pflichten, ohne Rücksicht uns die begründeten Ansprüche andrer, dazu hast du schon darum nicht das Recht, weil du ohne die andern nichts bist und nichts vermagst, nicht eine Woche lang dein physisches Leben zu fristen, geschweige denn als Kulturmensch zu leben vermagst. Du kannst dich des Morgens nicht ankleiden und dein Frühstück nicht verzehren, ohne daß sich eine Menge Menschen für dich abgemüht haben. Die Arbeiter und die Arbeiterinnen der Spinnereien, der Webereien, der Seidenmannfaktnren, die armen Nähterinnen, die braunen und die schwarzen Sklaven und Kukis der Kaffee- und der Baumwollenplantagen, die Heizer und die Kohlenzieher der Transportdampfer, die die Kolonialwaren nach Europa bringen, die Zugführer, Heizer, Weichensteller, Rangierer, Telegraphisten der Eisenbahnen, die sie von Hamburg und Bremen oder von Trieft ins Innere befördern, die Bäcker, die des°Nachts dein Weißbrot backen, die Töpfer, die dir deinen Kochofen und die Heizöfen gesetzt, die Handwerker, die dein Haus gebant und deine Wohnung behaglich ausgestattet haben, die Bergleute, die im Dunkel und in der Bruthitze des'tiefen Schachtes mit Lebensgefahr für dich Kohlen ge¬ hauen haben, sie alle führen kein sehr vergnügliches Leben. Manche erleiden die halbe, manche die ganze Hölle. Alle müssen sich plagen, und die meisten waren froh, wenn sie es zu dem Grade von animalischen Behagen brächten, unterhalb dessen seelische Bedürfnisse gar nicht zu entstehn pflegen. Regen sich dennoch solche, so fragt kein Mensch danach, ob sie befriedigt werden können; ob der Arbeiter geistige Anregungen und eine angenehme Unterhaltung hat, und ob die Temperatur seines Familienkreises zu warm oder zu kalt ist. Gur oft ist sie ungemütlich heiß, denn Überarbeit, Entbehrungen, Verdruß und immerwährende nagende Sorge um

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/441>, abgerufen am 27.07.2024.