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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

schichte der Musik eine führende Rolle von den Zeiten der Reformation bis zum
Tode des großen Sebastian Bach gespielt hat. Die Kantoreien im Sinne der
Wernerschem Schrift sind freiwillige Snngergesellschaften von Bürgern und Schülern,
die in Städten entstanden, wo es deutsche Schulen gab, oder wo die lateinischen
Schulen wegen der geringen Zahl von Männerstimmen den religiösen und künstle¬
rischen Bedürfnissen nicht genügten: zum Unterschied von bezahlten Berufssängern
an Fürstenhöfen und von Schülerchöreu der gutbesuchteu Lateinschulen, die ebenfalls
beide Kantoreien genannt wurden. Über die Entstehung der hier gemeinten Kantoreien
gehn die Meinungen auseinander; denn während man einerseits die alten Meister¬
singerzünfte und die Stadtpfeifergilden als Vorbilder bezeichnet, ist man auf der
andern Seite geneigt, die Kalaudsbrüder, diese bekannten religiösen Gilden des
Mittelalters, als den Ursprung der Kantoreien anzunehmen. Zu dieser Ansicht
neigt auch der Verfasser, und er sucht sie an der fast sechshundert Jahre alten
Kantorei in Delitzsch sowie an den ebenfalls alten Gesellschaften in Chemnitz,
Döbeln und Oschatz zu begründen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß es sich
um Nebengründungeu der Kalandsbrüderschaften handle, da die Kalcmdsherren auch
in künstlerischer Beziehung vielfach anregend und fruchtbringend gewirkt hätten und
in Delitzsch im Jahre 14-40 zu einer neuen Bruderschaft zusammengetreten seien,
die mit den Schulknaben den Sttngerchor der Kirche gebildet hätte.

Die erste Blütezeit der Kantoreien fällt in die Jahre von 1530 bis 1018,
und da Luther selbst von der Musik viel verstand und sie liebte, so ist man ge¬
neigt, die kursächsischen Kantoreien mit auf seinen Einfluß zurückzuführen, zumal da
gerade die wittenbergische Kantorei als die eigentliche Stammkantorei und als eine
Art Hochschule der Kirchenmusik für ganz Sachsen angesehen wurde. Ein wirklicher
Beweis für Luthers persönliche Einwirkung kann jedoch weder für die Wittenberger
noch für die Torgauer Kantorei erbracht werden, wenn auch feststeht, daß jene in
seinem Hause gesungen, und daß er diese in der zweiten Visitation unter seinem
Vorsitz 1534 besonders erwähnt hat, nachdem er schon die 1529 eingegaugne kur¬
fürstliche Kantorei in Torgau eines Lobes gewürdigt hatte. Keinesfalls waren die
Reformatoren den Gesellschaften abgeneigt, aber sie hatten noch zu viel mit den
äußern kirchlichen Verhältnissen bei ihren Visitationen zu tun, als daß sie tatkräftig
hatten eingreifen können. Das überließen sie den Städten selbst, und die Stadt¬
kasse bewilligte denn auch vielfach die Mittel zur Anschaffung des Notenmaterials,
soweit die Kirchenkasse dafür nicht aufkam. Allmählich verbreiteten sich die Kan¬
toreien von Wittenberg aus über das ganze alte Kursachsen, sodaß im Königreich
Sachsen 91, in der Provinz Sachsen, hauptsächlich also in den jetzigen Kreisen
Delitzsch, Bitterfeld, Torgau, Wittenberg, Schweinitz und Liebenwerda 26, und in
den angrenzenden niederlaufitzer Städten 8 Kantoreigesellschaften nachweisbar sind.
Selbstverständlich gab es schon damals, wenn Deutsche zu einem Verein zusammen¬
traten, die üblichen Vereinssatzungen, und so hatten auch die Kantoreien sämtlich
ihre eignen Kcmtoreiordnuugeu; es gab Ehrenmitglieder, Nichtsäuger, Vorsitzende
und Protokollführer, und die Satzungen bedurften der Bestätigung des Super¬
intendenten oder Pfarrers, der damit meistens zugleich an der Spitze und dem Kantor
zur Seite stand. Alle Standesunterschiede der Mitglieder fielen weg, die Honora¬
tioren nahmen ebenso an der Gesellschaft teil wie die Handwerker und die Bürger,
schon um sich, wie Werner meint, ein pomphaftes Begräbnis zu sichern. Der
Grundstock der mitwirkenden Sänger waren jedoch überall die Schulmeister mit
dem Kantor, dem Organisten und dem Stadtpfeifer, weil diese musikverstäudig
waren. Sie übten die Chorgesänge zum Hauptgottesdienste ein, sangen allsonn-
tnglich oder eiuen Sonntag um den andern und hatten an größern Festtagen, deren
es zwanzig gab, Fignralmusik vorzuführen. Daneben verherrlichten sie durch ihren
Gesang die Hochzeitsfeiern der vermögenden Bürger und geleiteten deren Tote
und Gesang z" Grabe. Aus allen diesen Verrichtungen, sowie für das Verleihen
von Leichengeräten, Bahren usw. erwuchs der Kantorei eine gute Einnahme, und
^ ist deshalb nicht auffallend, daß sie allmonatlich ein Liebesmahl abhielt, "voran


Maßgebliches und Unmaßgebliches

schichte der Musik eine führende Rolle von den Zeiten der Reformation bis zum
Tode des großen Sebastian Bach gespielt hat. Die Kantoreien im Sinne der
Wernerschem Schrift sind freiwillige Snngergesellschaften von Bürgern und Schülern,
die in Städten entstanden, wo es deutsche Schulen gab, oder wo die lateinischen
Schulen wegen der geringen Zahl von Männerstimmen den religiösen und künstle¬
rischen Bedürfnissen nicht genügten: zum Unterschied von bezahlten Berufssängern
an Fürstenhöfen und von Schülerchöreu der gutbesuchteu Lateinschulen, die ebenfalls
beide Kantoreien genannt wurden. Über die Entstehung der hier gemeinten Kantoreien
gehn die Meinungen auseinander; denn während man einerseits die alten Meister¬
singerzünfte und die Stadtpfeifergilden als Vorbilder bezeichnet, ist man auf der
andern Seite geneigt, die Kalaudsbrüder, diese bekannten religiösen Gilden des
Mittelalters, als den Ursprung der Kantoreien anzunehmen. Zu dieser Ansicht
neigt auch der Verfasser, und er sucht sie an der fast sechshundert Jahre alten
Kantorei in Delitzsch sowie an den ebenfalls alten Gesellschaften in Chemnitz,
Döbeln und Oschatz zu begründen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß es sich
um Nebengründungeu der Kalandsbrüderschaften handle, da die Kalcmdsherren auch
in künstlerischer Beziehung vielfach anregend und fruchtbringend gewirkt hätten und
in Delitzsch im Jahre 14-40 zu einer neuen Bruderschaft zusammengetreten seien,
die mit den Schulknaben den Sttngerchor der Kirche gebildet hätte.

Die erste Blütezeit der Kantoreien fällt in die Jahre von 1530 bis 1018,
und da Luther selbst von der Musik viel verstand und sie liebte, so ist man ge¬
neigt, die kursächsischen Kantoreien mit auf seinen Einfluß zurückzuführen, zumal da
gerade die wittenbergische Kantorei als die eigentliche Stammkantorei und als eine
Art Hochschule der Kirchenmusik für ganz Sachsen angesehen wurde. Ein wirklicher
Beweis für Luthers persönliche Einwirkung kann jedoch weder für die Wittenberger
noch für die Torgauer Kantorei erbracht werden, wenn auch feststeht, daß jene in
seinem Hause gesungen, und daß er diese in der zweiten Visitation unter seinem
Vorsitz 1534 besonders erwähnt hat, nachdem er schon die 1529 eingegaugne kur¬
fürstliche Kantorei in Torgau eines Lobes gewürdigt hatte. Keinesfalls waren die
Reformatoren den Gesellschaften abgeneigt, aber sie hatten noch zu viel mit den
äußern kirchlichen Verhältnissen bei ihren Visitationen zu tun, als daß sie tatkräftig
hatten eingreifen können. Das überließen sie den Städten selbst, und die Stadt¬
kasse bewilligte denn auch vielfach die Mittel zur Anschaffung des Notenmaterials,
soweit die Kirchenkasse dafür nicht aufkam. Allmählich verbreiteten sich die Kan¬
toreien von Wittenberg aus über das ganze alte Kursachsen, sodaß im Königreich
Sachsen 91, in der Provinz Sachsen, hauptsächlich also in den jetzigen Kreisen
Delitzsch, Bitterfeld, Torgau, Wittenberg, Schweinitz und Liebenwerda 26, und in
den angrenzenden niederlaufitzer Städten 8 Kantoreigesellschaften nachweisbar sind.
Selbstverständlich gab es schon damals, wenn Deutsche zu einem Verein zusammen¬
traten, die üblichen Vereinssatzungen, und so hatten auch die Kantoreien sämtlich
ihre eignen Kcmtoreiordnuugeu; es gab Ehrenmitglieder, Nichtsäuger, Vorsitzende
und Protokollführer, und die Satzungen bedurften der Bestätigung des Super¬
intendenten oder Pfarrers, der damit meistens zugleich an der Spitze und dem Kantor
zur Seite stand. Alle Standesunterschiede der Mitglieder fielen weg, die Honora¬
tioren nahmen ebenso an der Gesellschaft teil wie die Handwerker und die Bürger,
schon um sich, wie Werner meint, ein pomphaftes Begräbnis zu sichern. Der
Grundstock der mitwirkenden Sänger waren jedoch überall die Schulmeister mit
dem Kantor, dem Organisten und dem Stadtpfeifer, weil diese musikverstäudig
waren. Sie übten die Chorgesänge zum Hauptgottesdienste ein, sangen allsonn-
tnglich oder eiuen Sonntag um den andern und hatten an größern Festtagen, deren
es zwanzig gab, Fignralmusik vorzuführen. Daneben verherrlichten sie durch ihren
Gesang die Hochzeitsfeiern der vermögenden Bürger und geleiteten deren Tote
und Gesang z» Grabe. Aus allen diesen Verrichtungen, sowie für das Verleihen
von Leichengeräten, Bahren usw. erwuchs der Kantorei eine gute Einnahme, und
^ ist deshalb nicht auffallend, daß sie allmonatlich ein Liebesmahl abhielt, »voran


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[0443] Maßgebliches und Unmaßgebliches schichte der Musik eine führende Rolle von den Zeiten der Reformation bis zum Tode des großen Sebastian Bach gespielt hat. Die Kantoreien im Sinne der Wernerschem Schrift sind freiwillige Snngergesellschaften von Bürgern und Schülern, die in Städten entstanden, wo es deutsche Schulen gab, oder wo die lateinischen Schulen wegen der geringen Zahl von Männerstimmen den religiösen und künstle¬ rischen Bedürfnissen nicht genügten: zum Unterschied von bezahlten Berufssängern an Fürstenhöfen und von Schülerchöreu der gutbesuchteu Lateinschulen, die ebenfalls beide Kantoreien genannt wurden. Über die Entstehung der hier gemeinten Kantoreien gehn die Meinungen auseinander; denn während man einerseits die alten Meister¬ singerzünfte und die Stadtpfeifergilden als Vorbilder bezeichnet, ist man auf der andern Seite geneigt, die Kalaudsbrüder, diese bekannten religiösen Gilden des Mittelalters, als den Ursprung der Kantoreien anzunehmen. Zu dieser Ansicht neigt auch der Verfasser, und er sucht sie an der fast sechshundert Jahre alten Kantorei in Delitzsch sowie an den ebenfalls alten Gesellschaften in Chemnitz, Döbeln und Oschatz zu begründen. Dabei kommt er zu dem Ergebnis, daß es sich um Nebengründungeu der Kalandsbrüderschaften handle, da die Kalcmdsherren auch in künstlerischer Beziehung vielfach anregend und fruchtbringend gewirkt hätten und in Delitzsch im Jahre 14-40 zu einer neuen Bruderschaft zusammengetreten seien, die mit den Schulknaben den Sttngerchor der Kirche gebildet hätte. Die erste Blütezeit der Kantoreien fällt in die Jahre von 1530 bis 1018, und da Luther selbst von der Musik viel verstand und sie liebte, so ist man ge¬ neigt, die kursächsischen Kantoreien mit auf seinen Einfluß zurückzuführen, zumal da gerade die wittenbergische Kantorei als die eigentliche Stammkantorei und als eine Art Hochschule der Kirchenmusik für ganz Sachsen angesehen wurde. Ein wirklicher Beweis für Luthers persönliche Einwirkung kann jedoch weder für die Wittenberger noch für die Torgauer Kantorei erbracht werden, wenn auch feststeht, daß jene in seinem Hause gesungen, und daß er diese in der zweiten Visitation unter seinem Vorsitz 1534 besonders erwähnt hat, nachdem er schon die 1529 eingegaugne kur¬ fürstliche Kantorei in Torgau eines Lobes gewürdigt hatte. Keinesfalls waren die Reformatoren den Gesellschaften abgeneigt, aber sie hatten noch zu viel mit den äußern kirchlichen Verhältnissen bei ihren Visitationen zu tun, als daß sie tatkräftig hatten eingreifen können. Das überließen sie den Städten selbst, und die Stadt¬ kasse bewilligte denn auch vielfach die Mittel zur Anschaffung des Notenmaterials, soweit die Kirchenkasse dafür nicht aufkam. Allmählich verbreiteten sich die Kan¬ toreien von Wittenberg aus über das ganze alte Kursachsen, sodaß im Königreich Sachsen 91, in der Provinz Sachsen, hauptsächlich also in den jetzigen Kreisen Delitzsch, Bitterfeld, Torgau, Wittenberg, Schweinitz und Liebenwerda 26, und in den angrenzenden niederlaufitzer Städten 8 Kantoreigesellschaften nachweisbar sind. Selbstverständlich gab es schon damals, wenn Deutsche zu einem Verein zusammen¬ traten, die üblichen Vereinssatzungen, und so hatten auch die Kantoreien sämtlich ihre eignen Kcmtoreiordnuugeu; es gab Ehrenmitglieder, Nichtsäuger, Vorsitzende und Protokollführer, und die Satzungen bedurften der Bestätigung des Super¬ intendenten oder Pfarrers, der damit meistens zugleich an der Spitze und dem Kantor zur Seite stand. Alle Standesunterschiede der Mitglieder fielen weg, die Honora¬ tioren nahmen ebenso an der Gesellschaft teil wie die Handwerker und die Bürger, schon um sich, wie Werner meint, ein pomphaftes Begräbnis zu sichern. Der Grundstock der mitwirkenden Sänger waren jedoch überall die Schulmeister mit dem Kantor, dem Organisten und dem Stadtpfeifer, weil diese musikverstäudig waren. Sie übten die Chorgesänge zum Hauptgottesdienste ein, sangen allsonn- tnglich oder eiuen Sonntag um den andern und hatten an größern Festtagen, deren es zwanzig gab, Fignralmusik vorzuführen. Daneben verherrlichten sie durch ihren Gesang die Hochzeitsfeiern der vermögenden Bürger und geleiteten deren Tote und Gesang z» Grabe. Aus allen diesen Verrichtungen, sowie für das Verleihen von Leichengeräten, Bahren usw. erwuchs der Kantorei eine gute Einnahme, und ^ ist deshalb nicht auffallend, daß sie allmonatlich ein Liebesmahl abhielt, »voran

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Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/443>, abgerufen am 24.11.2024.