Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.die Wähler sind, die die Instruktionen erteilen. Herr Singer vergaß aber in Mit Verachtung hat die Demokratie jederzeit auf die alten ständischen (Schluß folgt) Der Reichshaushalt und die Finanzen der Vundesstaaten in 19. Januar schloß der Neichsschatzsetretür Freiherr v. Thiel¬ Wie ich Ihnen im vorhergehenden sagte, ist dieser Etat mit die Wähler sind, die die Instruktionen erteilen. Herr Singer vergaß aber in Mit Verachtung hat die Demokratie jederzeit auf die alten ständischen (Schluß folgt) Der Reichshaushalt und die Finanzen der Vundesstaaten in 19. Januar schloß der Neichsschatzsetretür Freiherr v. Thiel¬ Wie ich Ihnen im vorhergehenden sagte, ist dieser Etat mit <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0390" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/239946"/> <fw type="header" place="top"/><lb/> <p xml:id="ID_1965" prev="#ID_1964"> die Wähler sind, die die Instruktionen erteilen. Herr Singer vergaß aber in<lb/> seinem Schmerze ganz, daß er selbst zu den ausgeprägtesten Jnteressenvertretern<lb/> im Reichstage gehört.</p><lb/> <p xml:id="ID_1966"> Mit Verachtung hat die Demokratie jederzeit auf die alten ständischen<lb/> Verfassungen hinabgesehen. Sie verkannte in ihrem sinnlosen Gleichheitsdnsel<lb/> vollständig ihren berechtigten Kern, konnte aber nicht verhindern, daß diese<lb/> ständischen Interessen trotz aller „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit," eben<lb/> weil sie natürlich und berechtigt sind, in die neue Zeit und in die demokratischen<lb/> Verfassungen hineinwuchsen. Allerlei ständische Wahlprivilegien, das Klnssen-<lb/> wahlrecht und andre Bestimmungen legen Zeugnis davon ab, und wenn die<lb/> Demokratie dabei von nichtswürdigen Rückständigkeiten spricht, dann vergißt<lb/> sie, daß wirtschaftliche und finanzielle Syndikate gerade in den großen demo¬<lb/> kratisch organisierten Staaten wie Frankreich und den Vereinigten Staaten<lb/> von Nordamerika die gesetzgebenden Körperschaften leiten und lenken; sie ver¬<lb/> gißt aber auch, daß die Sozialdemokratie selbst den Kampf um die Gesetzgebung<lb/> genau von demselben Standpunkt aus führt wie die Börse, die Agrarier, die<lb/> Handwerker usw. Wie könnte es auch anders sein! Der einheitliche Volkswille<lb/> löst sich in der Praxis sofort in Millionen Einzelwillen auf, die sich wiederum<lb/> unter dem Drucke der Verhältnisse und nach gleichen materiellen Interessen<lb/> gruppieren, um — einander zu bekämpfen. Daß diese Verquickung der demo¬<lb/> kratischen Lehrsätze mit der Interessenvertretung vom Übel ist, stimmt allerdings,<lb/> ja man wird darin das hauptsächlichste Zersetzuugsferment der modernen<lb/> repräsentativen Verfassungen erkennen müssen; aber ebenso töricht wäre es,<lb/> den berechtigten Grundsatz der Interessenvertretung aus unserm öffentlichen<lb/> Leben auszuschalten und die auf einer Fiktion beruhenden demokratischen Grund¬<lb/> sätze aufrecht zu erhalten.</p><lb/> <p xml:id="ID_1967"> (Schluß folgt)</p><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> </div> <div n="1"> <head> Der Reichshaushalt und die Finanzen<lb/> der Vundesstaaten</head><lb/> <p xml:id="ID_1968"> in 19. Januar schloß der Neichsschatzsetretür Freiherr v. Thiel¬<lb/> mann die Rede, mit der er den Reichshaushaltsetat für 1903<lb/> dem Reichstage vorlegte, mit den Worten:</p><lb/> <p xml:id="ID_1969" next="#ID_1970"> Wie ich Ihnen im vorhergehenden sagte, ist dieser Etat mit<lb/> 24 Millionen ungedeckter Matrikularbeiträge, 125 Millionen ordent¬<lb/> licher Anleihe und 95 Millionen Zuschußanleihe der ungünstigste, der je im Reichs¬<lb/> tage vorgelegt worden ist. Keinem einzigen Ressort kann irgendwelche Mitschuld<lb/> an den ungünstigen Verhältnissen aufgebürdet werden; dem? die Ungunst der wirt¬<lb/> schaftlichen Verhältnisse ist im voraus nicht zu berechnen, und der Rückgang bei<lb/> den Einnahmen aus den indirekten Steuern ist ein Faktor, gegen den kein Finanz-<lb/> minister eine Waffe besitzt. Es kommt hinzu, daß das Reich aus gesetzlichen Ur¬<lb/> sachen, ganz abgesehen von der gewöhnlichen Steigerung der Ausgaben bei Ge¬<lb/> hältern und dergleichen, eine Menge Ausgaben zu leisten hat, die ein Einzelstant<lb/> sich nicht zur Last zu schreiben braucht. Ich rechne dazu beispielsweise den Zuschuß</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0390]
die Wähler sind, die die Instruktionen erteilen. Herr Singer vergaß aber in
seinem Schmerze ganz, daß er selbst zu den ausgeprägtesten Jnteressenvertretern
im Reichstage gehört.
Mit Verachtung hat die Demokratie jederzeit auf die alten ständischen
Verfassungen hinabgesehen. Sie verkannte in ihrem sinnlosen Gleichheitsdnsel
vollständig ihren berechtigten Kern, konnte aber nicht verhindern, daß diese
ständischen Interessen trotz aller „Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit," eben
weil sie natürlich und berechtigt sind, in die neue Zeit und in die demokratischen
Verfassungen hineinwuchsen. Allerlei ständische Wahlprivilegien, das Klnssen-
wahlrecht und andre Bestimmungen legen Zeugnis davon ab, und wenn die
Demokratie dabei von nichtswürdigen Rückständigkeiten spricht, dann vergißt
sie, daß wirtschaftliche und finanzielle Syndikate gerade in den großen demo¬
kratisch organisierten Staaten wie Frankreich und den Vereinigten Staaten
von Nordamerika die gesetzgebenden Körperschaften leiten und lenken; sie ver¬
gißt aber auch, daß die Sozialdemokratie selbst den Kampf um die Gesetzgebung
genau von demselben Standpunkt aus führt wie die Börse, die Agrarier, die
Handwerker usw. Wie könnte es auch anders sein! Der einheitliche Volkswille
löst sich in der Praxis sofort in Millionen Einzelwillen auf, die sich wiederum
unter dem Drucke der Verhältnisse und nach gleichen materiellen Interessen
gruppieren, um — einander zu bekämpfen. Daß diese Verquickung der demo¬
kratischen Lehrsätze mit der Interessenvertretung vom Übel ist, stimmt allerdings,
ja man wird darin das hauptsächlichste Zersetzuugsferment der modernen
repräsentativen Verfassungen erkennen müssen; aber ebenso töricht wäre es,
den berechtigten Grundsatz der Interessenvertretung aus unserm öffentlichen
Leben auszuschalten und die auf einer Fiktion beruhenden demokratischen Grund¬
sätze aufrecht zu erhalten.
(Schluß folgt)
Der Reichshaushalt und die Finanzen
der Vundesstaaten
in 19. Januar schloß der Neichsschatzsetretür Freiherr v. Thiel¬
mann die Rede, mit der er den Reichshaushaltsetat für 1903
dem Reichstage vorlegte, mit den Worten:
Wie ich Ihnen im vorhergehenden sagte, ist dieser Etat mit
24 Millionen ungedeckter Matrikularbeiträge, 125 Millionen ordent¬
licher Anleihe und 95 Millionen Zuschußanleihe der ungünstigste, der je im Reichs¬
tage vorgelegt worden ist. Keinem einzigen Ressort kann irgendwelche Mitschuld
an den ungünstigen Verhältnissen aufgebürdet werden; dem? die Ungunst der wirt¬
schaftlichen Verhältnisse ist im voraus nicht zu berechnen, und der Rückgang bei
den Einnahmen aus den indirekten Steuern ist ein Faktor, gegen den kein Finanz-
minister eine Waffe besitzt. Es kommt hinzu, daß das Reich aus gesetzlichen Ur¬
sachen, ganz abgesehen von der gewöhnlichen Steigerung der Ausgaben bei Ge¬
hältern und dergleichen, eine Menge Ausgaben zu leisten hat, die ein Einzelstant
sich nicht zur Last zu schreiben braucht. Ich rechne dazu beispielsweise den Zuschuß
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