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Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Umnaßgobliches

wieder ersehen, daß sie ihn richtig erkannt und keine Umstände mit ihm gemacht
hatte. Das konnte ebenfalls nur zu ihren Gunsten sprechen.

Und der Brandmeister? Er hatte Suskins Schwester und Mahada -- ich
mußte laut lachen. Wie konnte ich von dem rauhen und vielleicht rohen Gesellen
erwarten, daß er so feine Unterschiede begreifen sollte! Ihm war dergleichen nicht
zugänglich. Für ihn war das Weib eben Weib und nichts andres. Zudem hatte
er ja selbst anerkannt, daß Mahada von andrer Art sei. Und ich Narr hatte mich
dadurch in Zorn bringen lassen, war sogar soweit gegangen, dieses Unsinns wegen
gegen Suskins Schwester unfreundlich oder eigentlich unhöflich zu sein -- gegen
eine Person, die vielleicht etwas locker in ihren Ansichten, aber jedenfalls, wie ich
nach dem ersten Essen schließen mußte, eine fleißige und geschickte Wirtin war. Pfui!

Ich schämte mich. Bald aber wurde mir bei dem Tee so behaglich, daß alles,
also auch ich selbst, mir in mildern Lichte erschien. Das zufriedne Aussehen Gerassims,
der sich seinen Krug Tee holte, nachdem er gegessen hatte, erhöhte noch meine gute
Stimmung. Ich faßte deu Beschluß, mich nie mehr durch unbegründete Reden
und zweifelhafte Gerüchte aufregen zu lassen, sah nach der Uhr und streckte mich,
da ich noch eine halbe Stunde vor mir hatte, mit der Papiros auf dem Bette aus,
um einige Minuten liegend zu verbringen und -- zu verdauen.

Euer Wohlgeboren! hörte ich irgendwo draußen weit entfernt sagen.

Euer Wohlgeboren! wurde nach einiger Zeit wiederholt. Merkwürdig. Es schien
diesesmal nicht draußen, sondern im Zimmer, aber trotzdem in großer Entfernung
zu sein.

Euer Wohlgeboren! klang es von neuem, und jetzt kam es mir vor, als ob
es die Stimme Gerassims sei.

Meine Schulter wurde ziemlich unsanft angefaßt.

Euer Wohlgeboren! rief dabei Gerassim, belieben Sie aufzustehn. Es brennt.

Ich fuhr in die Höhe -- und sah nichts. Ich riß die Augen weit auf, konnte
aber trotzdem nichts unterscheiden. War ich plötzlich blind geworden?

Euer Wohlgeboren, sagte Gerassim neben mir, der Wachmeister ist draußen.
Es brennt am Markte.

Ich kann nicht sehen! rief ich schmerzlich aus und drückte die Hände um die
Augen. Sollte mich wirklich das schreckliche Los getroffen haben, plötzlich erblindet
zu sein?

Euer Wohlgeboren, bat er kleinlaut, verzeihen Sie großmütig. Ich war ein¬
geschlafen. Ich erwachte, als der Wachmeister an das Fenster klopfte, und ich
weckte Sie gleich, ohne erst Licht zu machen.

Welche Zeit ist es denn? fragte ich.

Ich kann es nicht wissen, aber es ist schon ganz finster.

Ich lebte ans.

Schaffe schnell Licht und rufe den Wachmeister herein.

Es sei Feuer im benachbarten Stadtteile signalisiert, meldete der Wachmeister,
während ich eilig mein Nachtdienstkvstüm anlegte, und der Mann auf dem Turme
habe gerufen, es sei am Markte. Vom Feuer sei noch nichts zu sehen, aber die
Sache könne leicht ernst werden, da am Markt die Gebäude sehr dicht stünden und
meist aus Holz seien.

(FMselmng folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Reichskanzler.

In den Verhandlungen des Reichstags während der
vorletzten Januarwoche sind durch die Reden der Abgeordneten Schübler, von Vollmar
und Bebel auf der einen, des Reichskanzlers auf der andern Seite die Fundamente


Maßgebliches und Umnaßgobliches

wieder ersehen, daß sie ihn richtig erkannt und keine Umstände mit ihm gemacht
hatte. Das konnte ebenfalls nur zu ihren Gunsten sprechen.

Und der Brandmeister? Er hatte Suskins Schwester und Mahada — ich
mußte laut lachen. Wie konnte ich von dem rauhen und vielleicht rohen Gesellen
erwarten, daß er so feine Unterschiede begreifen sollte! Ihm war dergleichen nicht
zugänglich. Für ihn war das Weib eben Weib und nichts andres. Zudem hatte
er ja selbst anerkannt, daß Mahada von andrer Art sei. Und ich Narr hatte mich
dadurch in Zorn bringen lassen, war sogar soweit gegangen, dieses Unsinns wegen
gegen Suskins Schwester unfreundlich oder eigentlich unhöflich zu sein — gegen
eine Person, die vielleicht etwas locker in ihren Ansichten, aber jedenfalls, wie ich
nach dem ersten Essen schließen mußte, eine fleißige und geschickte Wirtin war. Pfui!

Ich schämte mich. Bald aber wurde mir bei dem Tee so behaglich, daß alles,
also auch ich selbst, mir in mildern Lichte erschien. Das zufriedne Aussehen Gerassims,
der sich seinen Krug Tee holte, nachdem er gegessen hatte, erhöhte noch meine gute
Stimmung. Ich faßte deu Beschluß, mich nie mehr durch unbegründete Reden
und zweifelhafte Gerüchte aufregen zu lassen, sah nach der Uhr und streckte mich,
da ich noch eine halbe Stunde vor mir hatte, mit der Papiros auf dem Bette aus,
um einige Minuten liegend zu verbringen und — zu verdauen.

Euer Wohlgeboren! hörte ich irgendwo draußen weit entfernt sagen.

Euer Wohlgeboren! wurde nach einiger Zeit wiederholt. Merkwürdig. Es schien
diesesmal nicht draußen, sondern im Zimmer, aber trotzdem in großer Entfernung
zu sein.

Euer Wohlgeboren! klang es von neuem, und jetzt kam es mir vor, als ob
es die Stimme Gerassims sei.

Meine Schulter wurde ziemlich unsanft angefaßt.

Euer Wohlgeboren! rief dabei Gerassim, belieben Sie aufzustehn. Es brennt.

Ich fuhr in die Höhe — und sah nichts. Ich riß die Augen weit auf, konnte
aber trotzdem nichts unterscheiden. War ich plötzlich blind geworden?

Euer Wohlgeboren, sagte Gerassim neben mir, der Wachmeister ist draußen.
Es brennt am Markte.

Ich kann nicht sehen! rief ich schmerzlich aus und drückte die Hände um die
Augen. Sollte mich wirklich das schreckliche Los getroffen haben, plötzlich erblindet
zu sein?

Euer Wohlgeboren, bat er kleinlaut, verzeihen Sie großmütig. Ich war ein¬
geschlafen. Ich erwachte, als der Wachmeister an das Fenster klopfte, und ich
weckte Sie gleich, ohne erst Licht zu machen.

Welche Zeit ist es denn? fragte ich.

Ich kann es nicht wissen, aber es ist schon ganz finster.

Ich lebte ans.

Schaffe schnell Licht und rufe den Wachmeister herein.

Es sei Feuer im benachbarten Stadtteile signalisiert, meldete der Wachmeister,
während ich eilig mein Nachtdienstkvstüm anlegte, und der Mann auf dem Turme
habe gerufen, es sei am Markte. Vom Feuer sei noch nichts zu sehen, aber die
Sache könne leicht ernst werden, da am Markt die Gebäude sehr dicht stünden und
meist aus Holz seien.

(FMselmng folgt)




Maßgebliches und Unmaßgebliches
Der Reichskanzler.

In den Verhandlungen des Reichstags während der
vorletzten Januarwoche sind durch die Reden der Abgeordneten Schübler, von Vollmar
und Bebel auf der einen, des Reichskanzlers auf der andern Seite die Fundamente


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[0374] Maßgebliches und Umnaßgobliches wieder ersehen, daß sie ihn richtig erkannt und keine Umstände mit ihm gemacht hatte. Das konnte ebenfalls nur zu ihren Gunsten sprechen. Und der Brandmeister? Er hatte Suskins Schwester und Mahada — ich mußte laut lachen. Wie konnte ich von dem rauhen und vielleicht rohen Gesellen erwarten, daß er so feine Unterschiede begreifen sollte! Ihm war dergleichen nicht zugänglich. Für ihn war das Weib eben Weib und nichts andres. Zudem hatte er ja selbst anerkannt, daß Mahada von andrer Art sei. Und ich Narr hatte mich dadurch in Zorn bringen lassen, war sogar soweit gegangen, dieses Unsinns wegen gegen Suskins Schwester unfreundlich oder eigentlich unhöflich zu sein — gegen eine Person, die vielleicht etwas locker in ihren Ansichten, aber jedenfalls, wie ich nach dem ersten Essen schließen mußte, eine fleißige und geschickte Wirtin war. Pfui! Ich schämte mich. Bald aber wurde mir bei dem Tee so behaglich, daß alles, also auch ich selbst, mir in mildern Lichte erschien. Das zufriedne Aussehen Gerassims, der sich seinen Krug Tee holte, nachdem er gegessen hatte, erhöhte noch meine gute Stimmung. Ich faßte deu Beschluß, mich nie mehr durch unbegründete Reden und zweifelhafte Gerüchte aufregen zu lassen, sah nach der Uhr und streckte mich, da ich noch eine halbe Stunde vor mir hatte, mit der Papiros auf dem Bette aus, um einige Minuten liegend zu verbringen und — zu verdauen. Euer Wohlgeboren! hörte ich irgendwo draußen weit entfernt sagen. Euer Wohlgeboren! wurde nach einiger Zeit wiederholt. Merkwürdig. Es schien diesesmal nicht draußen, sondern im Zimmer, aber trotzdem in großer Entfernung zu sein. Euer Wohlgeboren! klang es von neuem, und jetzt kam es mir vor, als ob es die Stimme Gerassims sei. Meine Schulter wurde ziemlich unsanft angefaßt. Euer Wohlgeboren! rief dabei Gerassim, belieben Sie aufzustehn. Es brennt. Ich fuhr in die Höhe — und sah nichts. Ich riß die Augen weit auf, konnte aber trotzdem nichts unterscheiden. War ich plötzlich blind geworden? Euer Wohlgeboren, sagte Gerassim neben mir, der Wachmeister ist draußen. Es brennt am Markte. Ich kann nicht sehen! rief ich schmerzlich aus und drückte die Hände um die Augen. Sollte mich wirklich das schreckliche Los getroffen haben, plötzlich erblindet zu sein? Euer Wohlgeboren, bat er kleinlaut, verzeihen Sie großmütig. Ich war ein¬ geschlafen. Ich erwachte, als der Wachmeister an das Fenster klopfte, und ich weckte Sie gleich, ohne erst Licht zu machen. Welche Zeit ist es denn? fragte ich. Ich kann es nicht wissen, aber es ist schon ganz finster. Ich lebte ans. Schaffe schnell Licht und rufe den Wachmeister herein. Es sei Feuer im benachbarten Stadtteile signalisiert, meldete der Wachmeister, während ich eilig mein Nachtdienstkvstüm anlegte, und der Mann auf dem Turme habe gerufen, es sei am Markte. Vom Feuer sei noch nichts zu sehen, aber die Sache könne leicht ernst werden, da am Markt die Gebäude sehr dicht stünden und meist aus Holz seien. (FMselmng folgt) Maßgebliches und Unmaßgebliches Der Reichskanzler. In den Verhandlungen des Reichstags während der vorletzten Januarwoche sind durch die Reden der Abgeordneten Schübler, von Vollmar und Bebel auf der einen, des Reichskanzlers auf der andern Seite die Fundamente

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 62, 1903, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341877_239555/374>, abgerufen am 23.11.2024.