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Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr.

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Für die Krankenstubenatmosphäre, der die beiden Gedichte entstammen,
sind diese dichterischen Äußerungen ein Zeugnis, daß echte, selbständige Urteils¬
kraft den Triumph des Geistes über körperliche Leiden erringt. Diese divi-
natorische Begeisterung für die edlern Regungen George Sands stimmt zu der
spätern Schilderung des persönlichen Eindrucks. Die Züge dieses Antlitzes
widersprechen sich, aber Stirn und Augen verraten adliche Gesinnung.

Die Flecken, die an dieser genialen Frauenhand haften, haben Elizabcth
Browning nicht zurückgescheucht. Ihre vornehme Ignorierung unvermeidlicher
Schattenseiten und zeitgenössischen Klatsches sichern ihrer eignen Gedankenwelt
positiven Gewinn. Ihre physische Schwäche macht sie in hohem Grade ab-
hängig von den Einflüssen selbstgewählter Lektüre. In Aurora I^oiAll, der
Dichtung, an der sie während ihres Pariser Aufenthalts arbeitet, hat sie die
Eindrücke, die aus den Werken von Zeitgenossen, insbesondre auch von George
Sand, auf sie übergingen, verarbeitet und mit Kraft von ihrem Geiste neu be¬
seelt. Die Tendenzen der französischen Umstürzlern! erscheinen freilich durchaus
geläutert. Elizabeth Brownings Heldin Aurora kämpft für Befreiung ihres
Geschlechts von mittelalterlichen Traditionen, aber dank einer frühzeitigen Er¬
kenntnis ihrer persönlichen Menschenwürde kann sie dem reinen Zuge ihres
Herzens folgen, ohne mit den Forderungen der Sitte und der bürgerlichen Ge¬
sellschaft in Konflikt zu geraten. Aurora Leigh steigt auf die Schultern der
unglücklichen Jndiana, der bedauernswerte" Valentine, sie schmiedet sich, dank
ihrer eignen Kraftentwicklung, ein menschenwürdigeres Glück. Dieses wunder¬
same Evangelium von der freien Selbstbestimmung der Frau ersteht über den
Trümmern, die George Sand beherzt aus den morschen Pfeilern wankender
Gesellschaftsordnung zusammengefegt hat: ein reiner Phönix steigt ans der Asche
des revolutionären Feuers!




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Luise Glaß von(Schluß)

> n der Muhme Haus sunt er verschlossene Thüren, auch der Garten
war leer. Jean sass schon von weitem, rüttelte aber doch an dem
Gatter. Drüben im Gemüsefeld, die kleine, in sich zusammengekrochue
Gestalt, das würde die Muhme sein -- die war auch nicht jünger
geworden seither. Den linken Arm trug sie in der Binde, mit dein
"rechten pflückte sie Schoten in die heranfgebundne Schürze. Grete
war nicht zu sehen.

Sonntag Nachmittag? Sie würde doch nicht da drüben gewesen sein unter
der Linde bei den juchzenden Sängern? -- Verdrießlich schlenderte Jean die Lehne
hinab nach dem Ententeich, dem Begründer ihrer Kinderfreundschnft.

Aber da saß sie ja! Natürlich! auf dem alten Bänkchen zwischen den Weiden-
biischen saß sie. Der Hut lag im Gras, die schlanken, gebräunten Hände hantierten mit
Stricknadeln, die Augen gingen über die grüne Wasserfläche hin, wo Enten ihre
Grütze schlabberten und zwischendurch wohlgefällig mit den aufwärts gerichteten
Schwänzchen wackelten.


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Für die Krankenstubenatmosphäre, der die beiden Gedichte entstammen,
sind diese dichterischen Äußerungen ein Zeugnis, daß echte, selbständige Urteils¬
kraft den Triumph des Geistes über körperliche Leiden erringt. Diese divi-
natorische Begeisterung für die edlern Regungen George Sands stimmt zu der
spätern Schilderung des persönlichen Eindrucks. Die Züge dieses Antlitzes
widersprechen sich, aber Stirn und Augen verraten adliche Gesinnung.

Die Flecken, die an dieser genialen Frauenhand haften, haben Elizabcth
Browning nicht zurückgescheucht. Ihre vornehme Ignorierung unvermeidlicher
Schattenseiten und zeitgenössischen Klatsches sichern ihrer eignen Gedankenwelt
positiven Gewinn. Ihre physische Schwäche macht sie in hohem Grade ab-
hängig von den Einflüssen selbstgewählter Lektüre. In Aurora I^oiAll, der
Dichtung, an der sie während ihres Pariser Aufenthalts arbeitet, hat sie die
Eindrücke, die aus den Werken von Zeitgenossen, insbesondre auch von George
Sand, auf sie übergingen, verarbeitet und mit Kraft von ihrem Geiste neu be¬
seelt. Die Tendenzen der französischen Umstürzlern! erscheinen freilich durchaus
geläutert. Elizabeth Brownings Heldin Aurora kämpft für Befreiung ihres
Geschlechts von mittelalterlichen Traditionen, aber dank einer frühzeitigen Er¬
kenntnis ihrer persönlichen Menschenwürde kann sie dem reinen Zuge ihres
Herzens folgen, ohne mit den Forderungen der Sitte und der bürgerlichen Ge¬
sellschaft in Konflikt zu geraten. Aurora Leigh steigt auf die Schultern der
unglücklichen Jndiana, der bedauernswerte« Valentine, sie schmiedet sich, dank
ihrer eignen Kraftentwicklung, ein menschenwürdigeres Glück. Dieses wunder¬
same Evangelium von der freien Selbstbestimmung der Frau ersteht über den
Trümmern, die George Sand beherzt aus den morschen Pfeilern wankender
Gesellschaftsordnung zusammengefegt hat: ein reiner Phönix steigt ans der Asche
des revolutionären Feuers!




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Luise Glaß von(Schluß)

> n der Muhme Haus sunt er verschlossene Thüren, auch der Garten
war leer. Jean sass schon von weitem, rüttelte aber doch an dem
Gatter. Drüben im Gemüsefeld, die kleine, in sich zusammengekrochue
Gestalt, das würde die Muhme sein — die war auch nicht jünger
geworden seither. Den linken Arm trug sie in der Binde, mit dein
«rechten pflückte sie Schoten in die heranfgebundne Schürze. Grete
war nicht zu sehen.

Sonntag Nachmittag? Sie würde doch nicht da drüben gewesen sein unter
der Linde bei den juchzenden Sängern? — Verdrießlich schlenderte Jean die Lehne
hinab nach dem Ententeich, dem Begründer ihrer Kinderfreundschnft.

Aber da saß sie ja! Natürlich! auf dem alten Bänkchen zwischen den Weiden-
biischen saß sie. Der Hut lag im Gras, die schlanken, gebräunten Hände hantierten mit
Stricknadeln, die Augen gingen über die grüne Wasserfläche hin, wo Enten ihre
Grütze schlabberten und zwischendurch wohlgefällig mit den aufwärts gerichteten
Schwänzchen wackelten.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 61, 1902, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341875_238787/382>, abgerufen am 01.09.2024.