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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über die Germania des Tacitus

> achten der vierte Band von Müllenhoffs großem Lebenswerke.
der deutschen Altertumskunde, der den Kommentar zu des Tacitus
Germania enthält -- nach des Verfassers Tode und mit dem
Abschluß des Jahrhunderts , erschienen ist, scheint auf dem
l Gebiet der Gcrmaniaforschuug, Einzelheiten natürlich abgerechnet,
ein gewisser Stillstand eingetreten zu sein. Somit dürfte deun der Zeitpunkt
gekommen sein, wo es angezeigt ist, mich einem weitern Leserkreise etwas von
dem Ergebnis dieser umfangreichen und tief gehenden Forschungen mitzuteilen.
Nicht als ob es beabsichtigt wäre, einen Auszug aus dem Ganzen zu geben
oder den Text der Germania kapitelweise durchzugehn -- dazu fehlt schon
der Raum, abgesehen davon, daß es den Leser ermüden würde --, mir was
in der groß angelegten Einleitung des Werks ausgeführt ist, soll hier zur
Sprache kommen, insbesondre die Fragen erörtert werden, was Tacitus mit
seiner Germania gewollt und beabsichtigt hat, welche Quellen er benützt hat,
welche Glaubwürdigkeit ihm zukommt, endlich welche Schicksale die Schrift im
Laufe der Zeit erlebt hat.")

Es hat lange Zeit als eine ausgemachte Wahrheit gegolten, Tacitus
habe seiue Schrift über Deutschland in der Absicht abgefaßt, seinen Lands¬
leuten, den Römern, in der Schilderung des germanischen Lebens einen Spiegel
vorzuhalten, worin sie die Entartung ihrer eignen Zustände hätten erkennen
sollen. Dmiu liegt unzweifelhaft ein Stück Wahrheit. Denn es fehlt nicht
an bittern Ausfällen, Seitcnhieben und Anspielungen auf die in Rom Herr
sehende Verderbnis der Sitten, auf die Habgier, die Zerrüttung des Familien¬
lebens, den Luxus lind was dergleichen mehr ist, und die Einfachheit und die
vermeintliche Reinheit der germanischen Sitten wird an mehreren Stellen
nachdrücklich betont. Aber solche Anschauungen lagen nnn einmal in der
Stimmung der Zeit. Die Neigung, die Völker des Nordens in einer idealen
Beleuchtung zu betrachten, war im Grunde ein altes Erbe, das die Römer
von den Grieche" übernommen hatten. Die ersten Ansätze dazu finden sich
schon in der Homerischen Dichtung; es find zunächst die fabelhaften Hyper¬
boreer, von denen man erzählte, daß sie in seliger Unschuld dahinlebten, dann die
Skythen, und zuletzt, als sie mehr und mehr in den Gesichtskreis der römischen
Kulturwelt traten, die frischen und unverdorbnen Naturvölker Germaniens.



*) Die Bezeichnung (ivnnama findet sich erst in jttngem Handschriften. In den besten
Handschriften lautet der Titel der Schrift: 6" ori^im, se me" ohl'miuxn'um, eine andre Hand¬
schrift erweitert ihn noch durch den Zuscch! inoridM po>>nil".


Über die Germania des Tacitus

> achten der vierte Band von Müllenhoffs großem Lebenswerke.
der deutschen Altertumskunde, der den Kommentar zu des Tacitus
Germania enthält — nach des Verfassers Tode und mit dem
Abschluß des Jahrhunderts , erschienen ist, scheint auf dem
l Gebiet der Gcrmaniaforschuug, Einzelheiten natürlich abgerechnet,
ein gewisser Stillstand eingetreten zu sein. Somit dürfte deun der Zeitpunkt
gekommen sein, wo es angezeigt ist, mich einem weitern Leserkreise etwas von
dem Ergebnis dieser umfangreichen und tief gehenden Forschungen mitzuteilen.
Nicht als ob es beabsichtigt wäre, einen Auszug aus dem Ganzen zu geben
oder den Text der Germania kapitelweise durchzugehn — dazu fehlt schon
der Raum, abgesehen davon, daß es den Leser ermüden würde —, mir was
in der groß angelegten Einleitung des Werks ausgeführt ist, soll hier zur
Sprache kommen, insbesondre die Fragen erörtert werden, was Tacitus mit
seiner Germania gewollt und beabsichtigt hat, welche Quellen er benützt hat,
welche Glaubwürdigkeit ihm zukommt, endlich welche Schicksale die Schrift im
Laufe der Zeit erlebt hat.")

Es hat lange Zeit als eine ausgemachte Wahrheit gegolten, Tacitus
habe seiue Schrift über Deutschland in der Absicht abgefaßt, seinen Lands¬
leuten, den Römern, in der Schilderung des germanischen Lebens einen Spiegel
vorzuhalten, worin sie die Entartung ihrer eignen Zustände hätten erkennen
sollen. Dmiu liegt unzweifelhaft ein Stück Wahrheit. Denn es fehlt nicht
an bittern Ausfällen, Seitcnhieben und Anspielungen auf die in Rom Herr
sehende Verderbnis der Sitten, auf die Habgier, die Zerrüttung des Familien¬
lebens, den Luxus lind was dergleichen mehr ist, und die Einfachheit und die
vermeintliche Reinheit der germanischen Sitten wird an mehreren Stellen
nachdrücklich betont. Aber solche Anschauungen lagen nnn einmal in der
Stimmung der Zeit. Die Neigung, die Völker des Nordens in einer idealen
Beleuchtung zu betrachten, war im Grunde ein altes Erbe, das die Römer
von den Grieche» übernommen hatten. Die ersten Ansätze dazu finden sich
schon in der Homerischen Dichtung; es find zunächst die fabelhaften Hyper¬
boreer, von denen man erzählte, daß sie in seliger Unschuld dahinlebten, dann die
Skythen, und zuletzt, als sie mehr und mehr in den Gesichtskreis der römischen
Kulturwelt traten, die frischen und unverdorbnen Naturvölker Germaniens.



*) Die Bezeichnung (ivnnama findet sich erst in jttngem Handschriften. In den besten
Handschriften lautet der Titel der Schrift: 6« ori^im, se me» ohl'miuxn'um, eine andre Hand¬
schrift erweitert ihn noch durch den Zuscch! inoridM po>>nil».
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/644>, abgerufen am 13.11.2024.