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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über das Urankenvorsichcrungsges>.'dz

Will man die Wohlthaten unsrer Vcrsicherungsgesetze anschaulich machen,
so zählt man gewöhnlich die Summen auf, die vou den Anstalten jährlich
oder täglich ausgegeben werden. Aber auf das Geldausgeben allein kommt
es nicht an, es fragt sich, ob es anch richtig ausgegeben wird, hier nicht zu
viel und dort nicht zu wenig, wieviel wirkliche Wohlthaten für dieses Geld
geleistet werde" können. Nur der Arzt bekommt zu sehen, wo nun das so
reichlich ausgeschüttete Geld bleibt, welche Wirkungen es ausübt, wo es be¬
fruchtend wirkt und vermehrt werde" könnte, und wo es im Übermaß gegeben
verschwindet und darum vermindert werden sollte. Es wäre nur natürlich,
wenn die Ärzte nachträglich auf die Ausübung des Krankenversicherungs¬
gesetzes den Einfluß gewänne", den man ihnen vou vornherein wunderbarer¬
weise versagt hat. Andrerseits werden die Ärzte häufig genug auf berechtigte
Wünsche verzichten müssen, wenn es die geringe Leistungsfähigkeit der zu ver¬
sichernde" Bevölkerung verlangt. Sie werden das "in so eher thun, je mehr
Einfluß sie haben auf die Abwägung der Ansprüche und der Leistungen im
Knssenetat.

6. Prinzipienfragen

In der Äußerung, die wir schon einmal angeführt haben, heißt es: Die
Berufsgenossenschaften und die Jnvalidenversicherungsanstalten sorge" für voll¬
ständige Wiederherstellung und geben deshalb auch verhältnismäßig bedeutende
Summe" für Ärzte und Arzneien ans. Die Krankenkasse", soweit sie von der
Sozialdemokratie geleitet werde", verfahre" umgekehrt. Sie suchen möglichst
viel bei den Kohle" für Ärzte und Arzneien zu sparen und versprechen dafür
den Arbeitern möglichst hohes Kraukeugeld. Sie lege" demgemäß auf die
baldigste und umfassendste Wiederherstellung der Kranken weniger Wert -- was
ja auch schon daraus hervorgeht, daß die Berufsgenossenschaften vielfach die
Unfallverletzten, die uoch i" der Behandlung der Kassen sind, in eigne Be¬
handlung nehmen --, wollen aber, wenigstens vorgeblich, die Unterstützungen
möglichst hoch bemessen. Es komme" also innerhalb der Arbeiterversicherung
zwei Bestrebungen zur Erscheinung, die diametral entgegengesetzt sind. Es ist
keine Frage, daß das Prinzip der Berufsgenossenschaften und der Versicherungs¬
anstalten den Vorzug verdient, und es wird wohl an der Zeit sein, zu er¬
wägen, ob diesem Prinzip nicht auch in der Krankenversicherung etwa durch
Änderung des Krankenvcrsichernngsgesetzes Geltung verschafft werden sollte.

Dieses Prinzip macht die Versicherungsanstalt nicht zum wirtschaftlichen
Helfer, der dein Notleidenden giebt, was er im Augenblicke braucht, nämlich
Geld, sondern zum Arzt, der es sich vornimmt, alle Krankheiten zu heilen, und
nach seiner bessern Einsicht zum Besten des Kranken und des ganzen Volkes zu
heile", der Kranke mag wolle" oder nicht. Es ist nicht mehr die Krankheit
wegen ihrer wirtschaftlichen Folgen Objekt der Zwangsversicherung, sondern
der hygienische Begriff .Krankheit. Der Kranke soll nicht n"r "nterstntzt, er
soll mit alle" Mittel" der moderne" Wissenschaft geheilt werde". Ein gran¬
dioser Plan, die Heilung bald aller kranken Menschen zu einer Aufgabe des


Über das Urankenvorsichcrungsges>.'dz

Will man die Wohlthaten unsrer Vcrsicherungsgesetze anschaulich machen,
so zählt man gewöhnlich die Summen auf, die vou den Anstalten jährlich
oder täglich ausgegeben werden. Aber auf das Geldausgeben allein kommt
es nicht an, es fragt sich, ob es anch richtig ausgegeben wird, hier nicht zu
viel und dort nicht zu wenig, wieviel wirkliche Wohlthaten für dieses Geld
geleistet werde» können. Nur der Arzt bekommt zu sehen, wo nun das so
reichlich ausgeschüttete Geld bleibt, welche Wirkungen es ausübt, wo es be¬
fruchtend wirkt und vermehrt werde» könnte, und wo es im Übermaß gegeben
verschwindet und darum vermindert werden sollte. Es wäre nur natürlich,
wenn die Ärzte nachträglich auf die Ausübung des Krankenversicherungs¬
gesetzes den Einfluß gewänne», den man ihnen vou vornherein wunderbarer¬
weise versagt hat. Andrerseits werden die Ärzte häufig genug auf berechtigte
Wünsche verzichten müssen, wenn es die geringe Leistungsfähigkeit der zu ver¬
sichernde» Bevölkerung verlangt. Sie werden das »in so eher thun, je mehr
Einfluß sie haben auf die Abwägung der Ansprüche und der Leistungen im
Knssenetat.

6. Prinzipienfragen

In der Äußerung, die wir schon einmal angeführt haben, heißt es: Die
Berufsgenossenschaften und die Jnvalidenversicherungsanstalten sorge» für voll¬
ständige Wiederherstellung und geben deshalb auch verhältnismäßig bedeutende
Summe» für Ärzte und Arzneien ans. Die Krankenkasse», soweit sie von der
Sozialdemokratie geleitet werde», verfahre» umgekehrt. Sie suchen möglichst
viel bei den Kohle» für Ärzte und Arzneien zu sparen und versprechen dafür
den Arbeitern möglichst hohes Kraukeugeld. Sie lege» demgemäß auf die
baldigste und umfassendste Wiederherstellung der Kranken weniger Wert — was
ja auch schon daraus hervorgeht, daß die Berufsgenossenschaften vielfach die
Unfallverletzten, die uoch i» der Behandlung der Kassen sind, in eigne Be¬
handlung nehmen —, wollen aber, wenigstens vorgeblich, die Unterstützungen
möglichst hoch bemessen. Es komme» also innerhalb der Arbeiterversicherung
zwei Bestrebungen zur Erscheinung, die diametral entgegengesetzt sind. Es ist
keine Frage, daß das Prinzip der Berufsgenossenschaften und der Versicherungs¬
anstalten den Vorzug verdient, und es wird wohl an der Zeit sein, zu er¬
wägen, ob diesem Prinzip nicht auch in der Krankenversicherung etwa durch
Änderung des Krankenvcrsichernngsgesetzes Geltung verschafft werden sollte.

Dieses Prinzip macht die Versicherungsanstalt nicht zum wirtschaftlichen
Helfer, der dein Notleidenden giebt, was er im Augenblicke braucht, nämlich
Geld, sondern zum Arzt, der es sich vornimmt, alle Krankheiten zu heilen, und
nach seiner bessern Einsicht zum Besten des Kranken und des ganzen Volkes zu
heile», der Kranke mag wolle» oder nicht. Es ist nicht mehr die Krankheit
wegen ihrer wirtschaftlichen Folgen Objekt der Zwangsversicherung, sondern
der hygienische Begriff .Krankheit. Der Kranke soll nicht n»r »nterstntzt, er
soll mit alle» Mittel» der moderne» Wissenschaft geheilt werde». Ein gran¬
dioser Plan, die Heilung bald aller kranken Menschen zu einer Aufgabe des


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/388>, abgerufen am 13.11.2024.