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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über das Arankenvcrsicherungsgesetz

über den Arzt mit oder ohne Grund, oder passiert es ihm etwa gar, den
Herrn Rendanten selbst zu kranken, so kann es geschehn, daß er in einem
Vierteljahr brotlos ist. Es ist ihm ohne Angabe von Gründen gekündigt worden,
und er mag sehen, wie er Praxis bekommt. An diesem Platze nicht; denn wo
viel Arbeiter wohnen, da giebt es keine Privatpraxis, weil die Menschen eben
alle Knssenmitglieder sind, und das wenige, was es giebt, füllt dem Nach¬
folger in der Kassenstelle zu. Er muß also wegziehn und sehen, wo er wieder
Arbeit findet.- Das ist aber für einen Arzt nicht so leicht wie für einen Maurer¬
oder Schlossergesellen.

Diese Kassenregenten sind zumeist Leute, denen gegenüber der Arzt früher
ein vornehmer Mann war. Die Welt scheint manchmal geradezu auf den Kopf
gestellt zu sein. Ein Manu, der noch vor zehn Jahren Kutscher bei einem
hiesigen ältern Arzt war, ist, nachdem er sozialdemvkratischer Häuptling ge¬
worden ist, Verwalter einer großen .Krankenkasse geworden und kann bei Strafe
der Entlassung verlange", daß die Ärzte sehr höflich gegen ihn sind.

Derartige Verhältnisse werden zunehmend als erniedrigend empfunden.
Überall mehren sich die Konflikte zwischen Krankenkassen und Ärzten, und die
Verhältnisse sprechen dafür, daß der Übermut nicht auf feiten der Ärzte ist.
Es sind aber durchaus nicht etwa nur die unter sozialdemokratische Herrschaft
gekommnen Krankenkassen, deren Willkür und Macht den Ärzten drückend sind.
Allerdings die Rufer im Streit auf der Partei der Ärzte betonen gerade den
Übermut der zu Arbeitsherren gewordnen Sozinldemokraten, weil sie Nüssen, daß
sie damit am meisten Eindruck auf die regierenden Herren machen. Aber wenn
man ehrlich sein will, so muß man zugeben, daß es durchaus nicht nur oder auch
nur vorzugsweise die sozialdemokratischen Kassen sind, die die Ärzte bedrücken,
sondern alle großen Kassen, die viele Ärzte gegen festen Gehalt anstellen.

Ehe wir aber weiter die Vorteile und die Nachteile der bestehenden Ver¬
hältnisse besprechen, empfiehlt es sich, eine Beschreibung der mannigfaltigen
Organisationen zu liefern, die auf Befehl des KrnnkenversicherungSgesetzes ent¬
standen sind, und die mir der bequem kennen lernt, der täglich mit der Aus¬
übung des Gesetzes zu thun hat.


2. Die bestehenden liassencinrichtungen

Es giebt Kassen, die von den Arbeitern regiert werden, solche, die von
der Gemeinde regiert werden, und solche, die von den Arbeitsherren regiert
werden: nämlich die Ortskrankenkassen, die Gemeindekrankenkassen und die
Betriebskrankenkassen. Jede dieser drei Organisationen hat eine andre Ver¬
fassung, nämlich ein andres Gleichgewicht der Pflichten und der Rechte.

Einige Pflichten der Arbeitgeber sind in allen Kassen gleich, nämlich
folgende:

Erstens die Meldepflicht. Der Arbeiter wird, sobald er an einem be¬
stimmten Ort in Arbeit tritt, für die bestimmte Kasse, der der Betrieb zugehört,
versichernngspflichtig. Der Arbeitgeber hat die Pflicht, ihn innerhalb dreier


Über das Arankenvcrsicherungsgesetz

über den Arzt mit oder ohne Grund, oder passiert es ihm etwa gar, den
Herrn Rendanten selbst zu kranken, so kann es geschehn, daß er in einem
Vierteljahr brotlos ist. Es ist ihm ohne Angabe von Gründen gekündigt worden,
und er mag sehen, wie er Praxis bekommt. An diesem Platze nicht; denn wo
viel Arbeiter wohnen, da giebt es keine Privatpraxis, weil die Menschen eben
alle Knssenmitglieder sind, und das wenige, was es giebt, füllt dem Nach¬
folger in der Kassenstelle zu. Er muß also wegziehn und sehen, wo er wieder
Arbeit findet.- Das ist aber für einen Arzt nicht so leicht wie für einen Maurer¬
oder Schlossergesellen.

Diese Kassenregenten sind zumeist Leute, denen gegenüber der Arzt früher
ein vornehmer Mann war. Die Welt scheint manchmal geradezu auf den Kopf
gestellt zu sein. Ein Manu, der noch vor zehn Jahren Kutscher bei einem
hiesigen ältern Arzt war, ist, nachdem er sozialdemvkratischer Häuptling ge¬
worden ist, Verwalter einer großen .Krankenkasse geworden und kann bei Strafe
der Entlassung verlange», daß die Ärzte sehr höflich gegen ihn sind.

Derartige Verhältnisse werden zunehmend als erniedrigend empfunden.
Überall mehren sich die Konflikte zwischen Krankenkassen und Ärzten, und die
Verhältnisse sprechen dafür, daß der Übermut nicht auf feiten der Ärzte ist.
Es sind aber durchaus nicht etwa nur die unter sozialdemokratische Herrschaft
gekommnen Krankenkassen, deren Willkür und Macht den Ärzten drückend sind.
Allerdings die Rufer im Streit auf der Partei der Ärzte betonen gerade den
Übermut der zu Arbeitsherren gewordnen Sozinldemokraten, weil sie Nüssen, daß
sie damit am meisten Eindruck auf die regierenden Herren machen. Aber wenn
man ehrlich sein will, so muß man zugeben, daß es durchaus nicht nur oder auch
nur vorzugsweise die sozialdemokratischen Kassen sind, die die Ärzte bedrücken,
sondern alle großen Kassen, die viele Ärzte gegen festen Gehalt anstellen.

Ehe wir aber weiter die Vorteile und die Nachteile der bestehenden Ver¬
hältnisse besprechen, empfiehlt es sich, eine Beschreibung der mannigfaltigen
Organisationen zu liefern, die auf Befehl des KrnnkenversicherungSgesetzes ent¬
standen sind, und die mir der bequem kennen lernt, der täglich mit der Aus¬
übung des Gesetzes zu thun hat.


2. Die bestehenden liassencinrichtungen

Es giebt Kassen, die von den Arbeitern regiert werden, solche, die von
der Gemeinde regiert werden, und solche, die von den Arbeitsherren regiert
werden: nämlich die Ortskrankenkassen, die Gemeindekrankenkassen und die
Betriebskrankenkassen. Jede dieser drei Organisationen hat eine andre Ver¬
fassung, nämlich ein andres Gleichgewicht der Pflichten und der Rechte.

Einige Pflichten der Arbeitgeber sind in allen Kassen gleich, nämlich
folgende:

Erstens die Meldepflicht. Der Arbeiter wird, sobald er an einem be¬
stimmten Ort in Arbeit tritt, für die bestimmte Kasse, der der Betrieb zugehört,
versichernngspflichtig. Der Arbeitgeber hat die Pflicht, ihn innerhalb dreier


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[0286] Über das Arankenvcrsicherungsgesetz über den Arzt mit oder ohne Grund, oder passiert es ihm etwa gar, den Herrn Rendanten selbst zu kranken, so kann es geschehn, daß er in einem Vierteljahr brotlos ist. Es ist ihm ohne Angabe von Gründen gekündigt worden, und er mag sehen, wie er Praxis bekommt. An diesem Platze nicht; denn wo viel Arbeiter wohnen, da giebt es keine Privatpraxis, weil die Menschen eben alle Knssenmitglieder sind, und das wenige, was es giebt, füllt dem Nach¬ folger in der Kassenstelle zu. Er muß also wegziehn und sehen, wo er wieder Arbeit findet.- Das ist aber für einen Arzt nicht so leicht wie für einen Maurer¬ oder Schlossergesellen. Diese Kassenregenten sind zumeist Leute, denen gegenüber der Arzt früher ein vornehmer Mann war. Die Welt scheint manchmal geradezu auf den Kopf gestellt zu sein. Ein Manu, der noch vor zehn Jahren Kutscher bei einem hiesigen ältern Arzt war, ist, nachdem er sozialdemvkratischer Häuptling ge¬ worden ist, Verwalter einer großen .Krankenkasse geworden und kann bei Strafe der Entlassung verlange», daß die Ärzte sehr höflich gegen ihn sind. Derartige Verhältnisse werden zunehmend als erniedrigend empfunden. Überall mehren sich die Konflikte zwischen Krankenkassen und Ärzten, und die Verhältnisse sprechen dafür, daß der Übermut nicht auf feiten der Ärzte ist. Es sind aber durchaus nicht etwa nur die unter sozialdemokratische Herrschaft gekommnen Krankenkassen, deren Willkür und Macht den Ärzten drückend sind. Allerdings die Rufer im Streit auf der Partei der Ärzte betonen gerade den Übermut der zu Arbeitsherren gewordnen Sozinldemokraten, weil sie Nüssen, daß sie damit am meisten Eindruck auf die regierenden Herren machen. Aber wenn man ehrlich sein will, so muß man zugeben, daß es durchaus nicht nur oder auch nur vorzugsweise die sozialdemokratischen Kassen sind, die die Ärzte bedrücken, sondern alle großen Kassen, die viele Ärzte gegen festen Gehalt anstellen. Ehe wir aber weiter die Vorteile und die Nachteile der bestehenden Ver¬ hältnisse besprechen, empfiehlt es sich, eine Beschreibung der mannigfaltigen Organisationen zu liefern, die auf Befehl des KrnnkenversicherungSgesetzes ent¬ standen sind, und die mir der bequem kennen lernt, der täglich mit der Aus¬ übung des Gesetzes zu thun hat. 2. Die bestehenden liassencinrichtungen Es giebt Kassen, die von den Arbeitern regiert werden, solche, die von der Gemeinde regiert werden, und solche, die von den Arbeitsherren regiert werden: nämlich die Ortskrankenkassen, die Gemeindekrankenkassen und die Betriebskrankenkassen. Jede dieser drei Organisationen hat eine andre Ver¬ fassung, nämlich ein andres Gleichgewicht der Pflichten und der Rechte. Einige Pflichten der Arbeitgeber sind in allen Kassen gleich, nämlich folgende: Erstens die Meldepflicht. Der Arbeiter wird, sobald er an einem be¬ stimmten Ort in Arbeit tritt, für die bestimmte Kasse, der der Betrieb zugehört, versichernngspflichtig. Der Arbeitgeber hat die Pflicht, ihn innerhalb dreier

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/286>, abgerufen am 27.07.2024.