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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Über das Rrankenversicherungsgesetz

ist es an vielen Orten geradezu zu einem Machtmittel der Sozialdemokratie
geworden, die ihre Leute in den besoldeten und nicht besoldeten Stellen der
Kassenverwaltung unterbringt, die es auch schon so weit gebracht hat, daß die
vielfach von ihr regierten Ortskrankenkassen einen gemeinsamen Konvent für
Deutschland eingerichtet haben, auf dein sie die Fortbildung der Arbeiterver-
sichcrung in ihrem Sinne berate:?.

Wie man in der Regierung über die Krankenkassen denkt, geht aus fol¬
gender Zeitungsnotiz hervor, die den Berliner Politischen Nachrichten nach¬
gedruckt wird, und die man wohl sicher als hochwohlgeboren ansehen darf.

"Die Berufsgenossenschaften und Jnvalidenversicheruugsanstalten sorgen
für vollständige Wiederherstellung und geben deshalb auch verhältnismäßig
bedeutende Summen für Ärzte und Arzneien ans. Die Krankenkassen, soweit
sie von der Sozialdemokratin geleitet werden, Verfahren umgekehrt. Sie suchen
möglichst viel bei den Kosten für Ärzte und Arzneien zu sparen und versprechen
dafür den Arbeitern möglichst hohes Krankengeld. Sie legen demgemäß auf
die baldigste und umfassendste Herstellung der Kranken weniger Wert, was ja
auch schon daraus hervorgeht, daß die Berufsgenossenschaften vielfach die Un¬
fallverletzten, die noch in der Behandlung der Kassen sind, in eigne Behand¬
lung nehmen wollen, aber wenigstens vorgeblich die Unterstützungen möglichst
hoch beimessen. Es kommen also innerhalb der Arbeiterversicheruug zwei Be¬
strebungen zur Erscheinung, die diametral entgegengesetzt sind. Es ist keine
Frage, daß das Prinzip der Berufsgenossenschaften und Versicherungsanstalten
den Vorzug sowohl vom. ethischen wie kulturellen Gesichtspunkt aus verdient,
und es wird wohl an der Zeit sein, zu erwägen, ob diesem Prinzip nicht auch
in der Krankenversicherung, etwa durch eine Änderung des Kraukeuvcrsicheruugs-
gesetzes, Geltung zu verschaffen sein würde."

Dieser Antrieb von oben her zur Änderung des Gesetzes hat einen kräf¬
tigen Bundesgenossen gefunden in der zunehmenden Mißstimmung der Ärzte
gegen das Krankenvcrsichernngsgesetz.

Früher war der Arzt wohl der Diener des Publikums, und es gehörte
zur Ehre seines Berufs, daß er auch dem kleinsten Mann zu dienen bereit
war. Aber dem Einzelnen gegenüber war er doch ein freier Mann. Heute
hat ein großer Teil der Ärzte seine Arbeitskraft einer großen Krankenkasse
ungeteilt verkauft. Es muß so sein; denn die Kassengesetzgebnng hat ja den
größten Teil der städtischen Bevölkerung in die Kasse gezwungen und damit
der Mehrzahl der Ärzte das Publikum entzogen, für das sie im freien Wett¬
bewerb arbeiteten.

Wühreud nun früher ein Arzt, nachdem er erst einmal sein Publikum
glücklich um sich versammelt hatte, nur dann, wenn er schon viel Unzufrieden¬
heit und Feindschaft erregt hatte, sein Brot verlor, so ist er heute mit seiner
ganzen wirtschaftliche,! Sicherheit und mit der Zukunft seiner Familie abhängig von
dem Worte weniger oder eines Einzelnen, nämlich des Kassenregenten, der Ärzte
anstellt, wie man Pferdcbahnkntscher anstellt. Beschwert sich ein Kassenmitglied


Über das Rrankenversicherungsgesetz

ist es an vielen Orten geradezu zu einem Machtmittel der Sozialdemokratie
geworden, die ihre Leute in den besoldeten und nicht besoldeten Stellen der
Kassenverwaltung unterbringt, die es auch schon so weit gebracht hat, daß die
vielfach von ihr regierten Ortskrankenkassen einen gemeinsamen Konvent für
Deutschland eingerichtet haben, auf dein sie die Fortbildung der Arbeiterver-
sichcrung in ihrem Sinne berate:?.

Wie man in der Regierung über die Krankenkassen denkt, geht aus fol¬
gender Zeitungsnotiz hervor, die den Berliner Politischen Nachrichten nach¬
gedruckt wird, und die man wohl sicher als hochwohlgeboren ansehen darf.

„Die Berufsgenossenschaften und Jnvalidenversicheruugsanstalten sorgen
für vollständige Wiederherstellung und geben deshalb auch verhältnismäßig
bedeutende Summen für Ärzte und Arzneien ans. Die Krankenkassen, soweit
sie von der Sozialdemokratin geleitet werden, Verfahren umgekehrt. Sie suchen
möglichst viel bei den Kosten für Ärzte und Arzneien zu sparen und versprechen
dafür den Arbeitern möglichst hohes Krankengeld. Sie legen demgemäß auf
die baldigste und umfassendste Herstellung der Kranken weniger Wert, was ja
auch schon daraus hervorgeht, daß die Berufsgenossenschaften vielfach die Un¬
fallverletzten, die noch in der Behandlung der Kassen sind, in eigne Behand¬
lung nehmen wollen, aber wenigstens vorgeblich die Unterstützungen möglichst
hoch beimessen. Es kommen also innerhalb der Arbeiterversicheruug zwei Be¬
strebungen zur Erscheinung, die diametral entgegengesetzt sind. Es ist keine
Frage, daß das Prinzip der Berufsgenossenschaften und Versicherungsanstalten
den Vorzug sowohl vom. ethischen wie kulturellen Gesichtspunkt aus verdient,
und es wird wohl an der Zeit sein, zu erwägen, ob diesem Prinzip nicht auch
in der Krankenversicherung, etwa durch eine Änderung des Kraukeuvcrsicheruugs-
gesetzes, Geltung zu verschaffen sein würde."

Dieser Antrieb von oben her zur Änderung des Gesetzes hat einen kräf¬
tigen Bundesgenossen gefunden in der zunehmenden Mißstimmung der Ärzte
gegen das Krankenvcrsichernngsgesetz.

Früher war der Arzt wohl der Diener des Publikums, und es gehörte
zur Ehre seines Berufs, daß er auch dem kleinsten Mann zu dienen bereit
war. Aber dem Einzelnen gegenüber war er doch ein freier Mann. Heute
hat ein großer Teil der Ärzte seine Arbeitskraft einer großen Krankenkasse
ungeteilt verkauft. Es muß so sein; denn die Kassengesetzgebnng hat ja den
größten Teil der städtischen Bevölkerung in die Kasse gezwungen und damit
der Mehrzahl der Ärzte das Publikum entzogen, für das sie im freien Wett¬
bewerb arbeiteten.

Wühreud nun früher ein Arzt, nachdem er erst einmal sein Publikum
glücklich um sich versammelt hatte, nur dann, wenn er schon viel Unzufrieden¬
heit und Feindschaft erregt hatte, sein Brot verlor, so ist er heute mit seiner
ganzen wirtschaftliche,! Sicherheit und mit der Zukunft seiner Familie abhängig von
dem Worte weniger oder eines Einzelnen, nämlich des Kassenregenten, der Ärzte
anstellt, wie man Pferdcbahnkntscher anstellt. Beschwert sich ein Kassenmitglied


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[0285] Über das Rrankenversicherungsgesetz ist es an vielen Orten geradezu zu einem Machtmittel der Sozialdemokratie geworden, die ihre Leute in den besoldeten und nicht besoldeten Stellen der Kassenverwaltung unterbringt, die es auch schon so weit gebracht hat, daß die vielfach von ihr regierten Ortskrankenkassen einen gemeinsamen Konvent für Deutschland eingerichtet haben, auf dein sie die Fortbildung der Arbeiterver- sichcrung in ihrem Sinne berate:?. Wie man in der Regierung über die Krankenkassen denkt, geht aus fol¬ gender Zeitungsnotiz hervor, die den Berliner Politischen Nachrichten nach¬ gedruckt wird, und die man wohl sicher als hochwohlgeboren ansehen darf. „Die Berufsgenossenschaften und Jnvalidenversicheruugsanstalten sorgen für vollständige Wiederherstellung und geben deshalb auch verhältnismäßig bedeutende Summen für Ärzte und Arzneien ans. Die Krankenkassen, soweit sie von der Sozialdemokratin geleitet werden, Verfahren umgekehrt. Sie suchen möglichst viel bei den Kosten für Ärzte und Arzneien zu sparen und versprechen dafür den Arbeitern möglichst hohes Krankengeld. Sie legen demgemäß auf die baldigste und umfassendste Herstellung der Kranken weniger Wert, was ja auch schon daraus hervorgeht, daß die Berufsgenossenschaften vielfach die Un¬ fallverletzten, die noch in der Behandlung der Kassen sind, in eigne Behand¬ lung nehmen wollen, aber wenigstens vorgeblich die Unterstützungen möglichst hoch beimessen. Es kommen also innerhalb der Arbeiterversicheruug zwei Be¬ strebungen zur Erscheinung, die diametral entgegengesetzt sind. Es ist keine Frage, daß das Prinzip der Berufsgenossenschaften und Versicherungsanstalten den Vorzug sowohl vom. ethischen wie kulturellen Gesichtspunkt aus verdient, und es wird wohl an der Zeit sein, zu erwägen, ob diesem Prinzip nicht auch in der Krankenversicherung, etwa durch eine Änderung des Kraukeuvcrsicheruugs- gesetzes, Geltung zu verschaffen sein würde." Dieser Antrieb von oben her zur Änderung des Gesetzes hat einen kräf¬ tigen Bundesgenossen gefunden in der zunehmenden Mißstimmung der Ärzte gegen das Krankenvcrsichernngsgesetz. Früher war der Arzt wohl der Diener des Publikums, und es gehörte zur Ehre seines Berufs, daß er auch dem kleinsten Mann zu dienen bereit war. Aber dem Einzelnen gegenüber war er doch ein freier Mann. Heute hat ein großer Teil der Ärzte seine Arbeitskraft einer großen Krankenkasse ungeteilt verkauft. Es muß so sein; denn die Kassengesetzgebnng hat ja den größten Teil der städtischen Bevölkerung in die Kasse gezwungen und damit der Mehrzahl der Ärzte das Publikum entzogen, für das sie im freien Wett¬ bewerb arbeiteten. Wühreud nun früher ein Arzt, nachdem er erst einmal sein Publikum glücklich um sich versammelt hatte, nur dann, wenn er schon viel Unzufrieden¬ heit und Feindschaft erregt hatte, sein Brot verlor, so ist er heute mit seiner ganzen wirtschaftliche,! Sicherheit und mit der Zukunft seiner Familie abhängig von dem Worte weniger oder eines Einzelnen, nämlich des Kassenregenten, der Ärzte anstellt, wie man Pferdcbahnkntscher anstellt. Beschwert sich ein Kassenmitglied

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/285>, abgerufen am 27.07.2024.