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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde

so augenfällig sind wie das Blau des Gardasees oder die züngelnde Gestalt
des Matterhorns. Wenn wir besonders den roten Büchern, die heute einen
seltnen Feiertag begehn, von Herzen eine glückliche und rühmliche Zukunft
wünschen, so geschieht es in der sichern Hoffnung, daß sie nach ihrer ganzen
V Friedrich Ratzel ergangenheit nur fortschreiten können.




Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde
Hermann Rretzschmar von

ürzlich ist in München die Frage, ob Zither und Mandoline an
die Königliche Musikschule gehören, deshalb amtlich verneint
worden, weil sie keine nennenswerte Komposition aufzuweisen
hätten. Diese Entscheidung, die mit den Mandolinenklubs alle
Freunde bayrischer Gebirgsmusik und Volkskunst bedauern, wäre
in der Zeit Goethes und Schillers unmöglich gewesen. Denn damals gaben
sich auch anspruchsvolle Musiker und Musikfreunde gern mit der Mandoline
ab. Dafür sprechen außer litterarischen Zeugnissen, Schillers Briefe einge¬
schlossen, kleine Kompositionen für das heimlich kecke Instrument, die vornehmste
und bekannteste unter ihnen daS Ständchen im Don Juan. Es giebt aber
aus dem achtzehnten Jahrhundert mich vollständige Mandolinenkonzerte von
Meistern wie Vivaldi, die das ehemalige 5wnstansehen der Mandoline, ihre
natürliche Ebenbürtigkeit mit Fagott, Trompete und andern Günstlingen der
heutigen Mnsilprnxis und damit ihre Ansprüche und Aussichten ans eine glück¬
lichere Zukunft genügend belegen.

Unsre offizielle Musik -- auch dieser Fall beweist das wieder -- hängt
allzu engherzig am Bestehenden und sollte endlich lernen, sich unbefangner und
eifriger in Raum und Zeit umzusehen.

Zik diesem Zweck stellt ihr die neuere Musikwissenschaft eigens zwei be¬
sondre Disziplinen zu Gebote: die Musikgeschichte und die musikalische Völker¬
kunde.

Die geschichtliche" Bestrebungen in der Musik gewinnen allmählich an Boden
und saugen an, sich auch für den Laien erkenntlich zu äußern. Wir haben seit
Jahrzehnten Bachgesellschaften, Händelgesellschaften, Palestrinaansgaben, Schütz-
ausgaben. Alle Länder, die eine musikalische Vergangenheit haben, veröffent¬
lichen Denkmäler ihrer Tonkunst. In Verlngskatalogen, auf Kvnzertzetteln
tauchen täglich Namen alter Musiker ans, von denen unsre Väter und Gro߬
väter keine Ahnung hatten. Die musikalische Völkerkunde dagegen führt immer
noch ein reines Spezialistenleben, manchem in Ehren ergrauten Tonkünstler ist
ihre Existenz gänzlich unbekannt. Das ist sehr begreiflich. Auch bei den


Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde

so augenfällig sind wie das Blau des Gardasees oder die züngelnde Gestalt
des Matterhorns. Wenn wir besonders den roten Büchern, die heute einen
seltnen Feiertag begehn, von Herzen eine glückliche und rühmliche Zukunft
wünschen, so geschieht es in der sichern Hoffnung, daß sie nach ihrer ganzen
V Friedrich Ratzel ergangenheit nur fortschreiten können.




Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde
Hermann Rretzschmar von

ürzlich ist in München die Frage, ob Zither und Mandoline an
die Königliche Musikschule gehören, deshalb amtlich verneint
worden, weil sie keine nennenswerte Komposition aufzuweisen
hätten. Diese Entscheidung, die mit den Mandolinenklubs alle
Freunde bayrischer Gebirgsmusik und Volkskunst bedauern, wäre
in der Zeit Goethes und Schillers unmöglich gewesen. Denn damals gaben
sich auch anspruchsvolle Musiker und Musikfreunde gern mit der Mandoline
ab. Dafür sprechen außer litterarischen Zeugnissen, Schillers Briefe einge¬
schlossen, kleine Kompositionen für das heimlich kecke Instrument, die vornehmste
und bekannteste unter ihnen daS Ständchen im Don Juan. Es giebt aber
aus dem achtzehnten Jahrhundert mich vollständige Mandolinenkonzerte von
Meistern wie Vivaldi, die das ehemalige 5wnstansehen der Mandoline, ihre
natürliche Ebenbürtigkeit mit Fagott, Trompete und andern Günstlingen der
heutigen Mnsilprnxis und damit ihre Ansprüche und Aussichten ans eine glück¬
lichere Zukunft genügend belegen.

Unsre offizielle Musik — auch dieser Fall beweist das wieder — hängt
allzu engherzig am Bestehenden und sollte endlich lernen, sich unbefangner und
eifriger in Raum und Zeit umzusehen.

Zik diesem Zweck stellt ihr die neuere Musikwissenschaft eigens zwei be¬
sondre Disziplinen zu Gebote: die Musikgeschichte und die musikalische Völker¬
kunde.

Die geschichtliche» Bestrebungen in der Musik gewinnen allmählich an Boden
und saugen an, sich auch für den Laien erkenntlich zu äußern. Wir haben seit
Jahrzehnten Bachgesellschaften, Händelgesellschaften, Palestrinaansgaben, Schütz-
ausgaben. Alle Länder, die eine musikalische Vergangenheit haben, veröffent¬
lichen Denkmäler ihrer Tonkunst. In Verlngskatalogen, auf Kvnzertzetteln
tauchen täglich Namen alter Musiker ans, von denen unsre Väter und Gro߬
väter keine Ahnung hatten. Die musikalische Völkerkunde dagegen führt immer
noch ein reines Spezialistenleben, manchem in Ehren ergrauten Tonkünstler ist
ihre Existenz gänzlich unbekannt. Das ist sehr begreiflich. Auch bei den


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[0253] Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde so augenfällig sind wie das Blau des Gardasees oder die züngelnde Gestalt des Matterhorns. Wenn wir besonders den roten Büchern, die heute einen seltnen Feiertag begehn, von Herzen eine glückliche und rühmliche Zukunft wünschen, so geschieht es in der sichern Hoffnung, daß sie nach ihrer ganzen V Friedrich Ratzel ergangenheit nur fortschreiten können. Das neuste aus der musikalischen Völkerkunde Hermann Rretzschmar von ürzlich ist in München die Frage, ob Zither und Mandoline an die Königliche Musikschule gehören, deshalb amtlich verneint worden, weil sie keine nennenswerte Komposition aufzuweisen hätten. Diese Entscheidung, die mit den Mandolinenklubs alle Freunde bayrischer Gebirgsmusik und Volkskunst bedauern, wäre in der Zeit Goethes und Schillers unmöglich gewesen. Denn damals gaben sich auch anspruchsvolle Musiker und Musikfreunde gern mit der Mandoline ab. Dafür sprechen außer litterarischen Zeugnissen, Schillers Briefe einge¬ schlossen, kleine Kompositionen für das heimlich kecke Instrument, die vornehmste und bekannteste unter ihnen daS Ständchen im Don Juan. Es giebt aber aus dem achtzehnten Jahrhundert mich vollständige Mandolinenkonzerte von Meistern wie Vivaldi, die das ehemalige 5wnstansehen der Mandoline, ihre natürliche Ebenbürtigkeit mit Fagott, Trompete und andern Günstlingen der heutigen Mnsilprnxis und damit ihre Ansprüche und Aussichten ans eine glück¬ lichere Zukunft genügend belegen. Unsre offizielle Musik — auch dieser Fall beweist das wieder — hängt allzu engherzig am Bestehenden und sollte endlich lernen, sich unbefangner und eifriger in Raum und Zeit umzusehen. Zik diesem Zweck stellt ihr die neuere Musikwissenschaft eigens zwei be¬ sondre Disziplinen zu Gebote: die Musikgeschichte und die musikalische Völker¬ kunde. Die geschichtliche» Bestrebungen in der Musik gewinnen allmählich an Boden und saugen an, sich auch für den Laien erkenntlich zu äußern. Wir haben seit Jahrzehnten Bachgesellschaften, Händelgesellschaften, Palestrinaansgaben, Schütz- ausgaben. Alle Länder, die eine musikalische Vergangenheit haben, veröffent¬ lichen Denkmäler ihrer Tonkunst. In Verlngskatalogen, auf Kvnzertzetteln tauchen täglich Namen alter Musiker ans, von denen unsre Väter und Gro߬ väter keine Ahnung hatten. Die musikalische Völkerkunde dagegen führt immer noch ein reines Spezialistenleben, manchem in Ehren ergrauten Tonkünstler ist ihre Existenz gänzlich unbekannt. Das ist sehr begreiflich. Auch bei den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/253>, abgerufen am 01.09.2024.