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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Das neuste ans der musikalischen Völkerkunde

größten Resultaten, bei der besten Methode wird sie immer auf einen kleinern
und gewähltem Kreis von Vertretern und Gönnern beschränkt bleiben. Denn
die Musik unzivilisicrter oder fremdem Kulturen ungehöriger Völker ist für das
Abendland nur in seltnen Fällen unmittelbar brauchbar, sie wirkt vorwiegend
befremdend und scheint oder ist im ästhetischen Ertrag genug. Trotzdem aber
hat das Wissen von exotischer Tonkunst seinen großen Nutzen und einen ganz
eignen Bildungs- und Bekehrungswerk, der die auf geschichtlichem Wege ge¬
wonnenen Kenntnisse vielfach erläutert und ergänzt. Die musikalische Völker¬
kunde vermittelt in die Urgeschichte der Menschheit, in die Anfänge der Kultur,
in die Zusammengehörigkeit und die Charaktere von Rassen und Völkern Aus¬
blicke, zu denen Sprachenkunde und andre beliebtere Hilfsmittel der Anthro¬
pologie nicht vorzudringen vermögen. Sie Hut aber auch für die Musik selbst
die größte Bedeutung, führt an das Wesen und Werde" dieser Kunst unmittelbar
heran, zwingt zu immer neuer Revision musikalischer Grund- und Elementar-
fragcn, beeinflußt und belebt fortwährend jede Art von Theorie; sie kann
endlich auch den abendländischen Betrieb der Musik durch urwüchsiges Roh¬
material unterstützen, die ältere europäische Kunst in Formen und Ideen er¬
frischen und verjüngen helfen. Ohne es zu wissen ist unsre heutige Knnstmnsik
der musikalischen Völkerkunde für diesen letzter" Dienst schon stark verpflichtet:
die Grieg und Tschailowskh, die für Sinfonie und Lied so wichtigen natio¬
nalen Schulen wären kaum da, wenn nicht vor hundert Jahren Abt Vogler
und andre nachdrücklich auf die damals noch unscheinbaren Skaudiunvier und
Slawen hingewiesen hätten. Non jeher ist abendländische Musik von exotischer
bald tiefer bald äußerlicher berührt worden: die altgriechische von üghptischer,
die mittelalterliche bis zu den Troubadours und Meistersingern von arabischer.
Ja die Spuren des Orients lausen mit bis in die moderne Oper, reichen in
ihr von A. Scarlatti und von Hasse bis auf Mozart und K. M. vou Weber;
Entführung lind Zauberflöte, Oberon und Abu Hassan wurzeln mit einigen
ihrer hübschesten Nummern in den Türkenkriegen des siebzehnten Jahrhunderts.
Das wären einige Proben für die angewandte musikalische Völkerkunde, an¬
gewandt in der praktischen Komposition.

Die Janitscharen, in deren Nähe wir eben geraten sind, scheinen aber auch
auf die Mnsikgelehrten des Abendlands belebend eingewirkt zu haben. Erst
unter ihren Klängen geht die Nenaissaneesaat auf, die bis dahin langweilig
in den Kirchentonarten wühlende Theorie interessiert sich für die Musik der
Alten: eine wirkliche Musikgeschichte setzt ein. Man fragt jetzt nach den
ethischen, physischen, medizinischen Wirkungen der Musik, nach der Musik in
der Tierseele, man beginnt endlich auch Nachrichten über die Musik der Natur¬
völker zu sammeln: die musikalische Völkerkunde entsteht. Franzosen sind die
Gründer der neuen Disziplin, allmählich geht die Führung auf die Engländer
über. Die Deutschen arbeiten hier und da verdienstlich mit, aber ihre Be¬
deutung auf dem Gebiet entspricht ihrer bescheidnen Stellung im Weltverkehr.
Erst neuerdings machen sie Anstalt, entscheidend einzugreifen, und möglicher-


Das neuste ans der musikalischen Völkerkunde

größten Resultaten, bei der besten Methode wird sie immer auf einen kleinern
und gewähltem Kreis von Vertretern und Gönnern beschränkt bleiben. Denn
die Musik unzivilisicrter oder fremdem Kulturen ungehöriger Völker ist für das
Abendland nur in seltnen Fällen unmittelbar brauchbar, sie wirkt vorwiegend
befremdend und scheint oder ist im ästhetischen Ertrag genug. Trotzdem aber
hat das Wissen von exotischer Tonkunst seinen großen Nutzen und einen ganz
eignen Bildungs- und Bekehrungswerk, der die auf geschichtlichem Wege ge¬
wonnenen Kenntnisse vielfach erläutert und ergänzt. Die musikalische Völker¬
kunde vermittelt in die Urgeschichte der Menschheit, in die Anfänge der Kultur,
in die Zusammengehörigkeit und die Charaktere von Rassen und Völkern Aus¬
blicke, zu denen Sprachenkunde und andre beliebtere Hilfsmittel der Anthro¬
pologie nicht vorzudringen vermögen. Sie Hut aber auch für die Musik selbst
die größte Bedeutung, führt an das Wesen und Werde» dieser Kunst unmittelbar
heran, zwingt zu immer neuer Revision musikalischer Grund- und Elementar-
fragcn, beeinflußt und belebt fortwährend jede Art von Theorie; sie kann
endlich auch den abendländischen Betrieb der Musik durch urwüchsiges Roh¬
material unterstützen, die ältere europäische Kunst in Formen und Ideen er¬
frischen und verjüngen helfen. Ohne es zu wissen ist unsre heutige Knnstmnsik
der musikalischen Völkerkunde für diesen letzter» Dienst schon stark verpflichtet:
die Grieg und Tschailowskh, die für Sinfonie und Lied so wichtigen natio¬
nalen Schulen wären kaum da, wenn nicht vor hundert Jahren Abt Vogler
und andre nachdrücklich auf die damals noch unscheinbaren Skaudiunvier und
Slawen hingewiesen hätten. Non jeher ist abendländische Musik von exotischer
bald tiefer bald äußerlicher berührt worden: die altgriechische von üghptischer,
die mittelalterliche bis zu den Troubadours und Meistersingern von arabischer.
Ja die Spuren des Orients lausen mit bis in die moderne Oper, reichen in
ihr von A. Scarlatti und von Hasse bis auf Mozart und K. M. vou Weber;
Entführung lind Zauberflöte, Oberon und Abu Hassan wurzeln mit einigen
ihrer hübschesten Nummern in den Türkenkriegen des siebzehnten Jahrhunderts.
Das wären einige Proben für die angewandte musikalische Völkerkunde, an¬
gewandt in der praktischen Komposition.

Die Janitscharen, in deren Nähe wir eben geraten sind, scheinen aber auch
auf die Mnsikgelehrten des Abendlands belebend eingewirkt zu haben. Erst
unter ihren Klängen geht die Nenaissaneesaat auf, die bis dahin langweilig
in den Kirchentonarten wühlende Theorie interessiert sich für die Musik der
Alten: eine wirkliche Musikgeschichte setzt ein. Man fragt jetzt nach den
ethischen, physischen, medizinischen Wirkungen der Musik, nach der Musik in
der Tierseele, man beginnt endlich auch Nachrichten über die Musik der Natur¬
völker zu sammeln: die musikalische Völkerkunde entsteht. Franzosen sind die
Gründer der neuen Disziplin, allmählich geht die Führung auf die Engländer
über. Die Deutschen arbeiten hier und da verdienstlich mit, aber ihre Be¬
deutung auf dem Gebiet entspricht ihrer bescheidnen Stellung im Weltverkehr.
Erst neuerdings machen sie Anstalt, entscheidend einzugreifen, und möglicher-


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[0254] Das neuste ans der musikalischen Völkerkunde größten Resultaten, bei der besten Methode wird sie immer auf einen kleinern und gewähltem Kreis von Vertretern und Gönnern beschränkt bleiben. Denn die Musik unzivilisicrter oder fremdem Kulturen ungehöriger Völker ist für das Abendland nur in seltnen Fällen unmittelbar brauchbar, sie wirkt vorwiegend befremdend und scheint oder ist im ästhetischen Ertrag genug. Trotzdem aber hat das Wissen von exotischer Tonkunst seinen großen Nutzen und einen ganz eignen Bildungs- und Bekehrungswerk, der die auf geschichtlichem Wege ge¬ wonnenen Kenntnisse vielfach erläutert und ergänzt. Die musikalische Völker¬ kunde vermittelt in die Urgeschichte der Menschheit, in die Anfänge der Kultur, in die Zusammengehörigkeit und die Charaktere von Rassen und Völkern Aus¬ blicke, zu denen Sprachenkunde und andre beliebtere Hilfsmittel der Anthro¬ pologie nicht vorzudringen vermögen. Sie Hut aber auch für die Musik selbst die größte Bedeutung, führt an das Wesen und Werde» dieser Kunst unmittelbar heran, zwingt zu immer neuer Revision musikalischer Grund- und Elementar- fragcn, beeinflußt und belebt fortwährend jede Art von Theorie; sie kann endlich auch den abendländischen Betrieb der Musik durch urwüchsiges Roh¬ material unterstützen, die ältere europäische Kunst in Formen und Ideen er¬ frischen und verjüngen helfen. Ohne es zu wissen ist unsre heutige Knnstmnsik der musikalischen Völkerkunde für diesen letzter» Dienst schon stark verpflichtet: die Grieg und Tschailowskh, die für Sinfonie und Lied so wichtigen natio¬ nalen Schulen wären kaum da, wenn nicht vor hundert Jahren Abt Vogler und andre nachdrücklich auf die damals noch unscheinbaren Skaudiunvier und Slawen hingewiesen hätten. Non jeher ist abendländische Musik von exotischer bald tiefer bald äußerlicher berührt worden: die altgriechische von üghptischer, die mittelalterliche bis zu den Troubadours und Meistersingern von arabischer. Ja die Spuren des Orients lausen mit bis in die moderne Oper, reichen in ihr von A. Scarlatti und von Hasse bis auf Mozart und K. M. vou Weber; Entführung lind Zauberflöte, Oberon und Abu Hassan wurzeln mit einigen ihrer hübschesten Nummern in den Türkenkriegen des siebzehnten Jahrhunderts. Das wären einige Proben für die angewandte musikalische Völkerkunde, an¬ gewandt in der praktischen Komposition. Die Janitscharen, in deren Nähe wir eben geraten sind, scheinen aber auch auf die Mnsikgelehrten des Abendlands belebend eingewirkt zu haben. Erst unter ihren Klängen geht die Nenaissaneesaat auf, die bis dahin langweilig in den Kirchentonarten wühlende Theorie interessiert sich für die Musik der Alten: eine wirkliche Musikgeschichte setzt ein. Man fragt jetzt nach den ethischen, physischen, medizinischen Wirkungen der Musik, nach der Musik in der Tierseele, man beginnt endlich auch Nachrichten über die Musik der Natur¬ völker zu sammeln: die musikalische Völkerkunde entsteht. Franzosen sind die Gründer der neuen Disziplin, allmählich geht die Führung auf die Engländer über. Die Deutschen arbeiten hier und da verdienstlich mit, aber ihre Be¬ deutung auf dem Gebiet entspricht ihrer bescheidnen Stellung im Weltverkehr. Erst neuerdings machen sie Anstalt, entscheidend einzugreifen, und möglicher-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/254>, abgerufen am 01.09.2024.