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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr.

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Scheidung es sich hier handelt. Wir haben seit Jahren die Opposition der mit
dem Agrariertnm alliierten Fronde in ihrer Bedeutung als Vorübung und
Kraftprobe für diese Hauptschlacht gewürdigt. Muß die Regierung die Waffen
/? strecken noch vor der Entscheidung? Nimmermehr!




Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung
der Unmündigen?
Gelo Stock So^ialpädagogische Betrachtungen von
(Schluß)

er Protestantismus richtet ein Ideal auf, das sich nicht restlos
in die Wirklichkeit übertragen läßt. So erscheint er, wo er sich
mit den praktischen Aufgaben der Wirklichkeit berührt, gebrochen,
widerspruchsvoll; er ist auf Kompromisse angewiesen. So un¬
umstößlich fest das Ziel der geistig-sittlichen Mündigkeit steht,
weil alle echte Sittlichkeit diese Mündigkeit und Freiheit zur Voraussetzung
hat, so gewiß ist es doch, daß bei weitem nicht alle Menschen ihren idealen
Beruf erfüllen. Die Überzeugung von der gattungsmäßigen Anlage des Menschen¬
geistes zur Selbstbestimmung darf nicht darüber hinwegtäuschen; sie führt zur
Aufstellung von Normen, nicht zur Erkenntnis der Thatsächlichkeit. Und eine
andre Schwierigkeit ist für die protestantische Pädagogik insofern vorhanden,
als die geistige und sittliche Reife jedenfalls nicht ohne weiteres mit dem Ab¬
schluß der Jugenderziehung eintritt. Welche Gefahren aber drohen der Gesell¬
schaft, wenn der innerlich Unfreie, dem die Leitung noch nicht oder niemals
fehlen dürfte, der Freiheit überlassen wird! Er gleicht dem Sklaven, der die
verhaßten Ketten abgeschüttelt hat. Diese Gefahren kommen uus nur darum
nicht zu noch drückenderm Bewußtsein, als es geschieht, weil die evangelische
Kirche, diese unentbehrliche Inkonsequenz des Protestantismus, unter Würdigung
der psychologischen Thatsächlichkeit die Pädagogik der Erwachsenen, soweit ihr
das möglich ist, weiterführt und die dauernd Unmündigen wie die katholische
Kirche regiert und leitet. Mag sie in der Erfüllung der zweiten, "katholischen"
Aufgabe immerhin der Schwestcrkirche an äußern Erfolgen nachstehn, weil sie
"eben der niedern noch eine höhere Aufgabe kennt, weil sie nicht grundsätzlich
Bevormundungsanstalt ist. Sie muß sich mit dem begnügen, was sie innerhalb
chrer natürlichen Grenzen zu leisten vermag, und darf sich von keinerlei eifer¬
süchtigen Regungen leiten lassen. Die gelegentlich immer wieder ans evangelischer
Seite laut werdenden Rufe nach der Einführung einer straminern Kirchenzucht,
ja sogar der Ohrenbeichte erklären sich ans solcher falschen Rivalität. Der
Protestantismus muß sich vor Augen halten, daß er im Fortschreiten auf dieser


Scheidung es sich hier handelt. Wir haben seit Jahren die Opposition der mit
dem Agrariertnm alliierten Fronde in ihrer Bedeutung als Vorübung und
Kraftprobe für diese Hauptschlacht gewürdigt. Muß die Regierung die Waffen
/? strecken noch vor der Entscheidung? Nimmermehr!




Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung
der Unmündigen?
Gelo Stock So^ialpädagogische Betrachtungen von
(Schluß)

er Protestantismus richtet ein Ideal auf, das sich nicht restlos
in die Wirklichkeit übertragen läßt. So erscheint er, wo er sich
mit den praktischen Aufgaben der Wirklichkeit berührt, gebrochen,
widerspruchsvoll; er ist auf Kompromisse angewiesen. So un¬
umstößlich fest das Ziel der geistig-sittlichen Mündigkeit steht,
weil alle echte Sittlichkeit diese Mündigkeit und Freiheit zur Voraussetzung
hat, so gewiß ist es doch, daß bei weitem nicht alle Menschen ihren idealen
Beruf erfüllen. Die Überzeugung von der gattungsmäßigen Anlage des Menschen¬
geistes zur Selbstbestimmung darf nicht darüber hinwegtäuschen; sie führt zur
Aufstellung von Normen, nicht zur Erkenntnis der Thatsächlichkeit. Und eine
andre Schwierigkeit ist für die protestantische Pädagogik insofern vorhanden,
als die geistige und sittliche Reife jedenfalls nicht ohne weiteres mit dem Ab¬
schluß der Jugenderziehung eintritt. Welche Gefahren aber drohen der Gesell¬
schaft, wenn der innerlich Unfreie, dem die Leitung noch nicht oder niemals
fehlen dürfte, der Freiheit überlassen wird! Er gleicht dem Sklaven, der die
verhaßten Ketten abgeschüttelt hat. Diese Gefahren kommen uus nur darum
nicht zu noch drückenderm Bewußtsein, als es geschieht, weil die evangelische
Kirche, diese unentbehrliche Inkonsequenz des Protestantismus, unter Würdigung
der psychologischen Thatsächlichkeit die Pädagogik der Erwachsenen, soweit ihr
das möglich ist, weiterführt und die dauernd Unmündigen wie die katholische
Kirche regiert und leitet. Mag sie in der Erfüllung der zweiten, „katholischen"
Aufgabe immerhin der Schwestcrkirche an äußern Erfolgen nachstehn, weil sie
»eben der niedern noch eine höhere Aufgabe kennt, weil sie nicht grundsätzlich
Bevormundungsanstalt ist. Sie muß sich mit dem begnügen, was sie innerhalb
chrer natürlichen Grenzen zu leisten vermag, und darf sich von keinerlei eifer¬
süchtigen Regungen leiten lassen. Die gelegentlich immer wieder ans evangelischer
Seite laut werdenden Rufe nach der Einführung einer straminern Kirchenzucht,
ja sogar der Ohrenbeichte erklären sich ans solcher falschen Rivalität. Der
Protestantismus muß sich vor Augen halten, daß er im Fortschreiten auf dieser


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[0235] Scheidung es sich hier handelt. Wir haben seit Jahren die Opposition der mit dem Agrariertnm alliierten Fronde in ihrer Bedeutung als Vorübung und Kraftprobe für diese Hauptschlacht gewürdigt. Muß die Regierung die Waffen /? strecken noch vor der Entscheidung? Nimmermehr! Erziehung zur Mündigkeit oder Leitung der Unmündigen? Gelo Stock So^ialpädagogische Betrachtungen von (Schluß) er Protestantismus richtet ein Ideal auf, das sich nicht restlos in die Wirklichkeit übertragen läßt. So erscheint er, wo er sich mit den praktischen Aufgaben der Wirklichkeit berührt, gebrochen, widerspruchsvoll; er ist auf Kompromisse angewiesen. So un¬ umstößlich fest das Ziel der geistig-sittlichen Mündigkeit steht, weil alle echte Sittlichkeit diese Mündigkeit und Freiheit zur Voraussetzung hat, so gewiß ist es doch, daß bei weitem nicht alle Menschen ihren idealen Beruf erfüllen. Die Überzeugung von der gattungsmäßigen Anlage des Menschen¬ geistes zur Selbstbestimmung darf nicht darüber hinwegtäuschen; sie führt zur Aufstellung von Normen, nicht zur Erkenntnis der Thatsächlichkeit. Und eine andre Schwierigkeit ist für die protestantische Pädagogik insofern vorhanden, als die geistige und sittliche Reife jedenfalls nicht ohne weiteres mit dem Ab¬ schluß der Jugenderziehung eintritt. Welche Gefahren aber drohen der Gesell¬ schaft, wenn der innerlich Unfreie, dem die Leitung noch nicht oder niemals fehlen dürfte, der Freiheit überlassen wird! Er gleicht dem Sklaven, der die verhaßten Ketten abgeschüttelt hat. Diese Gefahren kommen uus nur darum nicht zu noch drückenderm Bewußtsein, als es geschieht, weil die evangelische Kirche, diese unentbehrliche Inkonsequenz des Protestantismus, unter Würdigung der psychologischen Thatsächlichkeit die Pädagogik der Erwachsenen, soweit ihr das möglich ist, weiterführt und die dauernd Unmündigen wie die katholische Kirche regiert und leitet. Mag sie in der Erfüllung der zweiten, „katholischen" Aufgabe immerhin der Schwestcrkirche an äußern Erfolgen nachstehn, weil sie »eben der niedern noch eine höhere Aufgabe kennt, weil sie nicht grundsätzlich Bevormundungsanstalt ist. Sie muß sich mit dem begnügen, was sie innerhalb chrer natürlichen Grenzen zu leisten vermag, und darf sich von keinerlei eifer¬ süchtigen Regungen leiten lassen. Die gelegentlich immer wieder ans evangelischer Seite laut werdenden Rufe nach der Einführung einer straminern Kirchenzucht, ja sogar der Ohrenbeichte erklären sich ans solcher falschen Rivalität. Der Protestantismus muß sich vor Augen halten, daß er im Fortschreiten auf dieser

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_235821/235>, abgerufen am 13.11.2024.