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Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr.

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Poesie und Politik

schrieb der mir entsetzt zurück, damit hatte ich beinah ein so schlimmes Ver¬
brechen begangen, als wenn ich "Göthe" schriebe, Liebmann, der seinen Leibniz
inwendig kennt, trotzt dem das Auswendige betreffenden Gebot und schreibt
immer "Leibnitz," Und uoch eine andre orthographische Eigenheit hat er: er
L. I. schreibt "da ist" als ein Wort: daist^)


Poesie und Politik

el der großen Fruchtbarkeit unsrer literarhistorischen und ästhe¬
tischen Produktion ist es eine auffällige Erscheinung, daß die
Blütezeit unsrer politischen Poesie, das Jahrzehnt von 1840
bis 1850, litterarisch noch nicht genügend behandelt worden ist.
Auch vom nationalgcschichtlichen Standpunkt ans wäre eine
solche Behandlung angezeigt, um so mehr, als die politische Lhrik der vierziger
Jahre, wie schon Treitschke mehrfach andeutet, zu den geistigen Kräften gehört,
die in unsrer nationalstaatlichen Entwicklung eine wesentliche Rolle spielen, und
die wir gewiß mit Recht als eine der Grundlagen zur Vorbereitung des neuen
Deutschen Reichs bezeichne" dürfen.

Die sensationellsten Vertreter des Zeitgedichts von 1840 bis 1850: Hoff-
mann von Fallersleben, Dingelstedt, Herwegh, Prutz, Freiligrath, Heine, Grün,
Geibel und Moritz Hartmann sind allerdings in größern litterarhistorischen
Werken und Mouogrnphieu berücksichtigt worden, aber das Maß und die Art
dieser Berücksichtigung dürfte in den meisten Fällen einen genauern Kenner
und ernstern Kritiker wenig befriedigen. Außerdem sind neben diesen allen
geläufigen Namen in der politischen Poesie des wichtigen Jahrzehnts so
manche andern hervorragenden Dichter mit einzelnen Beiträgen hervorgetreten,
die von poetischem "ut politischem Interesse sind, und sogar Geistern geringerer
Ordnung sind zuweilen höchst charakteristische Zeitstimmen entklungen, die
zum vollen Verständnis der Zeit wie zur richtigen Erkenntnis ihres geistigen
Lebens beitragen. Daß Richard Wagner und Theodor Mommsen, Gottfried
Keller und Paul Hesse, Grillparzer und Wilhelm Jordan, Theodor Storm
und Friedrich Hebbel, Robert Blum und König Ludwig von Bayern an der



*) Die Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie von Jul. Berg¬
mann (Marburg, N. G. Elwert, 1900), die zu ähnlichen Resultaten gelangen wie die Liebmanns,
sind ebenfalls gründlich, scharfsinnig und frei von Vorurteil, aber in sehr abstrakter Sprache
gehalten und können deshalb nur philosophisch gebildeten Lesern empfohlen werden. Bergmann
weist u. a. nach, daß eine an sich, ohne wahrnehmende Seele, enstierendc Körperwelt gar nicht
gedacht werden könne. (Siehe besonders Seite 865 bis 374.)
Poesie und Politik

schrieb der mir entsetzt zurück, damit hatte ich beinah ein so schlimmes Ver¬
brechen begangen, als wenn ich „Göthe" schriebe, Liebmann, der seinen Leibniz
inwendig kennt, trotzt dem das Auswendige betreffenden Gebot und schreibt
immer „Leibnitz," Und uoch eine andre orthographische Eigenheit hat er: er
L. I. schreibt „da ist" als ein Wort: daist^)


Poesie und Politik

el der großen Fruchtbarkeit unsrer literarhistorischen und ästhe¬
tischen Produktion ist es eine auffällige Erscheinung, daß die
Blütezeit unsrer politischen Poesie, das Jahrzehnt von 1840
bis 1850, litterarisch noch nicht genügend behandelt worden ist.
Auch vom nationalgcschichtlichen Standpunkt ans wäre eine
solche Behandlung angezeigt, um so mehr, als die politische Lhrik der vierziger
Jahre, wie schon Treitschke mehrfach andeutet, zu den geistigen Kräften gehört,
die in unsrer nationalstaatlichen Entwicklung eine wesentliche Rolle spielen, und
die wir gewiß mit Recht als eine der Grundlagen zur Vorbereitung des neuen
Deutschen Reichs bezeichne» dürfen.

Die sensationellsten Vertreter des Zeitgedichts von 1840 bis 1850: Hoff-
mann von Fallersleben, Dingelstedt, Herwegh, Prutz, Freiligrath, Heine, Grün,
Geibel und Moritz Hartmann sind allerdings in größern litterarhistorischen
Werken und Mouogrnphieu berücksichtigt worden, aber das Maß und die Art
dieser Berücksichtigung dürfte in den meisten Fällen einen genauern Kenner
und ernstern Kritiker wenig befriedigen. Außerdem sind neben diesen allen
geläufigen Namen in der politischen Poesie des wichtigen Jahrzehnts so
manche andern hervorragenden Dichter mit einzelnen Beiträgen hervorgetreten,
die von poetischem »ut politischem Interesse sind, und sogar Geistern geringerer
Ordnung sind zuweilen höchst charakteristische Zeitstimmen entklungen, die
zum vollen Verständnis der Zeit wie zur richtigen Erkenntnis ihres geistigen
Lebens beitragen. Daß Richard Wagner und Theodor Mommsen, Gottfried
Keller und Paul Hesse, Grillparzer und Wilhelm Jordan, Theodor Storm
und Friedrich Hebbel, Robert Blum und König Ludwig von Bayern an der



*) Die Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie von Jul. Berg¬
mann (Marburg, N. G. Elwert, 1900), die zu ähnlichen Resultaten gelangen wie die Liebmanns,
sind ebenfalls gründlich, scharfsinnig und frei von Vorurteil, aber in sehr abstrakter Sprache
gehalten und können deshalb nur philosophisch gebildeten Lesern empfohlen werden. Bergmann
weist u. a. nach, daß eine an sich, ohne wahrnehmende Seele, enstierendc Körperwelt gar nicht
gedacht werden könne. (Siehe besonders Seite 865 bis 374.)
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[0077] Poesie und Politik schrieb der mir entsetzt zurück, damit hatte ich beinah ein so schlimmes Ver¬ brechen begangen, als wenn ich „Göthe" schriebe, Liebmann, der seinen Leibniz inwendig kennt, trotzt dem das Auswendige betreffenden Gebot und schreibt immer „Leibnitz," Und uoch eine andre orthographische Eigenheit hat er: er L. I. schreibt „da ist" als ein Wort: daist^) Poesie und Politik el der großen Fruchtbarkeit unsrer literarhistorischen und ästhe¬ tischen Produktion ist es eine auffällige Erscheinung, daß die Blütezeit unsrer politischen Poesie, das Jahrzehnt von 1840 bis 1850, litterarisch noch nicht genügend behandelt worden ist. Auch vom nationalgcschichtlichen Standpunkt ans wäre eine solche Behandlung angezeigt, um so mehr, als die politische Lhrik der vierziger Jahre, wie schon Treitschke mehrfach andeutet, zu den geistigen Kräften gehört, die in unsrer nationalstaatlichen Entwicklung eine wesentliche Rolle spielen, und die wir gewiß mit Recht als eine der Grundlagen zur Vorbereitung des neuen Deutschen Reichs bezeichne» dürfen. Die sensationellsten Vertreter des Zeitgedichts von 1840 bis 1850: Hoff- mann von Fallersleben, Dingelstedt, Herwegh, Prutz, Freiligrath, Heine, Grün, Geibel und Moritz Hartmann sind allerdings in größern litterarhistorischen Werken und Mouogrnphieu berücksichtigt worden, aber das Maß und die Art dieser Berücksichtigung dürfte in den meisten Fällen einen genauern Kenner und ernstern Kritiker wenig befriedigen. Außerdem sind neben diesen allen geläufigen Namen in der politischen Poesie des wichtigen Jahrzehnts so manche andern hervorragenden Dichter mit einzelnen Beiträgen hervorgetreten, die von poetischem »ut politischem Interesse sind, und sogar Geistern geringerer Ordnung sind zuweilen höchst charakteristische Zeitstimmen entklungen, die zum vollen Verständnis der Zeit wie zur richtigen Erkenntnis ihres geistigen Lebens beitragen. Daß Richard Wagner und Theodor Mommsen, Gottfried Keller und Paul Hesse, Grillparzer und Wilhelm Jordan, Theodor Storm und Friedrich Hebbel, Robert Blum und König Ludwig von Bayern an der *) Die Untersuchungen über Hauptpunkte der Philosophie von Jul. Berg¬ mann (Marburg, N. G. Elwert, 1900), die zu ähnlichen Resultaten gelangen wie die Liebmanns, sind ebenfalls gründlich, scharfsinnig und frei von Vorurteil, aber in sehr abstrakter Sprache gehalten und können deshalb nur philosophisch gebildeten Lesern empfohlen werden. Bergmann weist u. a. nach, daß eine an sich, ohne wahrnehmende Seele, enstierendc Körperwelt gar nicht gedacht werden könne. (Siehe besonders Seite 865 bis 374.)

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 60, 1901, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341873_234529/77>, abgerufen am 29.06.2024.